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    Kapitel 28: Donnerstag, 11 Uhr 57, Eingangshalle


    Mamadou und Thomas hatten sehr lange für den beschwerlichen Rückweg zum Schloss gebraucht, obwohl der Afrikaner tapfer mitgehalten hatte. Der Regenfall hatte mit der Zeit ein wenig abgenommen, in der Ferne brachen die eisernen Wolkenvorhänge sogar ein wenig auf. Die beiden Kollegen unterhielten sich nicht, zu niedergeschlagen und nachdenklich waren sie nach den aufregenden Ereignissen der letzten Stunde. Thomas dachte nun erstmals intensiv an Jeanette und wurde sich nun erst bewusst, was wirklich geschehen war. Als er noch weinend neben ihrem Leichnam gekniet hatte, war ihm dies wie ein unwirklicher Alptraum erschienen, doch nun hatte der Regen ihn geweckt, die Realität war hart wie ein Hammer auf ihn niedergefahren und noch jetzt traten bittere Tränen in seine Augen, als er kopfschüttelnd daran dachte, wie die bildhübsche Französin in den Speisesaal gestürzt war und ihn dabei angesehen hatte. Thomas schwor sich nun erneut und voller Entschlossenheit ihren Tod aufzuklären und den Täter erbarmungslos zur Rechenschaft zu ziehen.

    Mit diesem Ansporn kämpfte er sich durch das Dickicht, das manchmal wie ein düsteres Irrlabyrinth wirkte. Die wenigen Sonnenstrahlen wurden zu dieser dunklen Mittagszeit von den verkrüppelten Bäumen und wild wuchernden Sträuchern geschluckt, sodass Mamadou und Thomas sich meist mehr auf ihren Orientierungssinn oder ihr Gehör verlassen mussten. Das Dickicht wirkte fast völlig ausgestorben, es gab keine Vögel die zwitscherten oder Kleintiere, die durch das Laub huschten. Aus weiter Ferne klang lediglich hin und wieder das heisere Geschrei der Möwen. Kalt und trocken knackte das Geäst unter den beiden Polizisten und das heisere Krächzen eines Raben ließ Thomas schaudernd innehalten. Von irgendwoher ertönte ein lautes Flattern und Rauschen und plötzlich huschte ein gigantisches, schwarzer Schatten an Thomas vorbei, der sich im letzten Moment panisch duckte, während sein afrikanische Begleiter verwundert aufstöhnte. Thomas spürte noch den frostigen Windzug auf seinem Gesicht, als das unheimliche Wesen wie ein Phantom an ihnen vorbeigerauscht war. Thomas fröstelte und sah auf dem dreckigen Boden eine überlange schwarze Rabenfeder, die er ehrfürchtig aufhob. Mit einem unguten Gefühl im Magen trieb er sich danach weiter voran und versuchte mit seinem verletzten Kollegen so schnell wie nur möglich den einengenden und bedrohlichen Ort zu verlassen und sehnte sich nach der trügerischen Sicherheit des Schlosses.

    Thomas erklomm mit dem verletzten Afrikaner einige Anhöhen, umging Stolperfallen und sperrige Sträucher und erreichte irgendwann über einen abgelegenen Irrpfad wieder den geräumigen Garten der Schlossanlage, in unmittelbarer Nähe des kleinen Privatfriedhofes. Thomas fragte sich mit einem Schaudern, ob die beiden Opfer wohl auch bald unter dieser Erde liegen würden oder gar noch mehr Menschen. Er war davon überzeugt, dass die junge Französin noch nicht das letzte Opfer gewesen war. Thomas versuchte nachzudenken und sich auf die Ereignisse einen Reim zu machen, ein Motiv zu finden, doch es misslang ihm. Er sah einfach nicht klar.

    Thomas schwor sich, dass er schlimmstenfalls auf eigene Faust das Dickicht durchforsten würde, obwohl er sich davor fürchtete. Das war er seinem ermordeten Schwarm einfach schuldig.  Er ging davon aus, dass der ominöse Wolf irgendwo einen Unterschlupf gefunden hatte und von der mysteriösen Gestalt auch irgendwie ernährt oder sogar beobachtet wurde. Thomas vermutete allerdings, dass die phantomähnliche Gestalt bis dahin viele Spuren verwischt haben würde, da sie sich der von Mamadou und ihm drohenden Gefahr wohl spätestens jetzt bewusst geworden war, aber der Fund des Schlüsselanhängers hatte Thomas trotz allem neuen Mut gemacht.

    Mit letzter Mühe erreichten beide nun das große und düstere Portal der Eingangshalle, stießen es auf und sahen, wie der Schlossherr schneidig auf sie zuschritt und in einer Mischung aus Verachtung und Verwunderung betrachtete. Neben ihm standen noch die Brasilianerin Elaine, sowie auch Fatmir und Björn Ansgar Lykström, sie alle waren bis auf die Knochen durchnässt und hatten sich angeregt unterhalten. Magdalena Osario saß ein wenig abseits auf der Treppe und blickte den Ankömmlingen beinahe emotionslos zu, ihr Blick war ins Leere geglitten und sie wirkte bleich und erschöpft. Aus den hinteren Sälen erschienen in diesem Moment Abdullah Gadua, sowie seine Ehepartnerin Marilou Gauthier, beide waren in graue Wolldecken gehüllt und ebenfalls ein wenig durchnässt. Sie beachteten den Rest der Gruppe nicht und eilten rasch die Treppe hinauf, auf denen ihnen Gwang-jo entgegen kam, der einen Koffer nach unten schleppte und eine griesgrämige Miene zog.

    „Endlich sind Sie da. Wir hatten bereits einige Leute losgeschickt, die nach Ihnen suchen sollten. Auch einige andere Gäste waren trotz des Verbotes draußen und haben am Ende versucht eine Spur von Ihnen zu finden.“, berichtete der Direktor ein wenig vorwurfsvoll.

    „Eine andere Gestalt lief dort draußen herum, die gewiss keine guten Absichten hatte.“, entgegnete Thomas ihm trocken und sah dem Direktor trotzig in die Augen.

    „Was meinen Sie damit nun schon wieder?“, fragte der Schlossherr pikiert.

    „Man hat uns eine Falle gestellt. Wir waren zunächst tatsächlich fündig geworden und haben ein wichtiges Indiz gefunden.“, begann Mamadou unter Schmerzen zu erzählen und alle wandten sich schlagartig zu dem Afrikaner um, der immer noch von seinem schottischen Kollegen gestützt wurde. Betroffene Gesichter musterten den Ghanaer, während der Schlossherr beim Anblick der klaffenden Wunde nervös hüstelte und deutlich angewidert einen Schritt von den beiden Gesuchten zurückwich.

    „Sehr richtig. Just in dem erfolgreichen Moment hat man einen Wolf auf uns gehetzt!“, warf Thomas bissig ein und sah die Überraschung in den Gesichtern der Anwesenden.

    Thomas versuchte auszumachen, wer von ihnen seine Verblüffung nur spielte, doch er konnte keine verdächtige Regung erkennen, zudem wurde er durch das schallende Gelächter des österreichischen Direktors entscheidend abgelenkt.

    „Ich bitte Sie. Schlagen Sie sich die Geschichte mit dem Wolf aus dem Kopf. Auf dieser Insel haben nie Wölfe gelebt, allein aus biologischen Gründen ist ihre Existenz hier unmöglich.“, warf der Schlossherr energisch ein.

    „Es handelt sich um kein gewöhnliches Tier, man hat es auf uns gehetzt und es kann sich nur um ein dressiertes Wesen handeln, wie jedes Kleinkind es aus Zirkussen kennt“, warf Mamadou ein und der Schlossherr blickte ihn ruhiger an, denn er schien ihm mehr zu vertrauen und zu glauben als dem schottischen Polizisten, den er selbst noch unter Verdacht hatte.

    „Zum Glück hat die ominöse Gestalt diese Bestie zurückgepfiffen und die beiden sind im Dickicht verschwunden. Bei der Verfolgung ist Mamadou in eine hinterlistig aufgestellte Bärenfalle getappt und wir mussten die Suche abbrechen und mühsamen Weges hierher zurückkehren.“, schloss Thomas ihren gemeinsamen Bericht und bemerkte mit Genugtuung, dass für wenige Momente ein fast andächtiges Schweigen herrschte, in dem jeder seinen Gedanken nachging und niemand ihm mehr wiedersprach.

    „Wo sollte jemand diese Bärenfalle herbekommen? Ich besitze solch einen Apparat nicht, auch wenn ich leidenschaftlicher Jäger bin.“, gab der Schlossherr zu verstehen und versuchte vergeblich bei der Bemerkung spöttisch zu klingen.

    „Es war auch keine wirklich professionnelle Bärenfalle, sonst wäre mein Bein nun möglicherweise schon durchtrennt.“, bemerkte Mamadou vor Schmerzen stöhnend. Er brauchte trotz allem dringend medizinische Versorgung.

    „Jemand hat die Insel perfekt ausgekundschaftet und scheint alle Schleichwege zu kennen. Ich schätze, dass dieses vermummte Gestalt und der Mörder von Malcolm und Jeanette ein und dieselbe Person sind.“, stellte Thomas fest und wartete auf Reaktionen.

    Elaine Maria da Silva trat forsch vor und bewegte sich langsam auf Thomas zu. Ihre Schminke war durch den draußen peitschenden Regen völlig verlaufen, ihre schwarze Haarmähne war sehr zerzaust und doch besaß sie in ihrer Wildheit noch eine gewisse Attraktivität. Sie blickte Thomas tief in die Augen und dieser musste unwillkürlich schaudern. Er fühlte sich unerklärlicherweise nackt und hilflos in der Gegenwart dieser geheimnisvollen Frau und bewegte sich unruhig hin und her.

    „Ist das nicht alles ein bisschen weit weg geholt?“, fragte die Brasilianerin und kaute nachdenklich an der Spitze ihres Zeigefingers herum.

    „Es spricht aber auch nichts dagegen.“, antwortete Mamadou an Stelle seines Kollegen, dem in diesen Momenten die Worte fehlten.

    Die fesche Brasilianerin ließ sich von diesem Einwand nicht überzeugen und musterte Thomas weiterhin kritisch, möglicherweise hielt auch sie ihn für den Täter oder glaubte, dass er nicht die ganze Wahrheit genannt hatte. Thomas zwang sich ihren forschenden Blick hart und entschlossen zu erwidern und seine Nervosität wich allmählich. Einige Sekunden später lächelte die Brasilianerin sanft und blickte fast betreten zu Boden.

    Mit einem Mal trat der Englischlehrer Björn Ansgar Lykström energisch vor und näherte sich Mamadou. Besorgt beäugte er die Wunde des Ghanaers, um die sich bisher noch niemand gekümmert hatte.

    „Wir sollten ihn zuerst verarzten. Wir müssen die Wunde desinfizieren und abbinden. Danach wollen wir weitersehen.“, tat er kund und stützte den Afrikaner, mit dem er sich den hinteren Sälen näherte, wo er den steifen Butler zu sich winkte, der wie eine Statue im Schatten eines älteren Marmorbildnisses stand und erst zögerlich in Bewegung kam.

    „Du hast von einem Indiz gesprochen, den ihr gefunden habt.“, warf Fatmir nach einigen Momenten mit leiser und stockender Stimme ein. Er schien als eine der wenigen Personen den beiden Ankömmlingen sehr genau zugehört zu haben, während die restliche Gruppe immer noch ein wenig verwirrt und untätig wirkte.

    „Da hast du gut hingehört. Wir werden es aber anders machen. Mir ist da gerade eine Idee gekommen. Mamadou und ich werden jeden von euch einzeln befragen. Wann ihr wo wart, ob es dafür Zeugen gibt, wann ihr bereits angereist seid und solche Dinge. Einigen werden wir dann vielleicht auch das neue Fundstück zeigen.“, schlug Thomas vor, doch die meisten Anwesenden schüttelten empört die Köpfe und verschränkten demonstrativ die Arme vor der Brust.

    „Wir sind hier nicht bei der Polizei.“, warf Elaine Maria da Silva ein.

    Thomas überwand sich, trat energisch und drohend auf sie zu, wies mit dem Zeigefinger auf sie und die Brasilianerin wich verblüfft zurück, da sie mit einem solchen Gefühlsausbruch nicht gerechnet hatte.

    „Es sind zwei Leute umgebracht worden und mehrere Anwesende von einer grausamen Bestie attackiert worden. Jeder hier sollte den Ernst der Lage begreifen. Wir müssen etwas unternehmen, bevor es weitere Tote gibt.“, gab Thomas unmissverständlich zu verstehen.

    „Warum machen Sie das? Wer sagt uns, dass nicht Sie selbst der Mörder sind?“, fragte der Schlossherr gehässig und rümpfte die Nase.

    „Wer sagt uns denn wiederum, dass nicht Sie der Mörder sind, sehr verehrter Herr Direktor?“, entgegnete Thomas ihm auf provokante Art und Weise und sah, wie sich das Gesicht des Schlossherrn langsam puterrot färbte.

    „Ich halte seine Idee für gut. Mamadou und er haben schließlich diese Gestalt gesehen und besitzen auch dieses neue Indiz. Außerdem sind die beiden gute Polizisten, sie sind dafür wohl von uns allen in solch einer Situation noch am besten geeignet.“, ergriff Björn Ansgar Lykström Partei für den jungen Schotten, der ihm dankbar zunickte.

    „So gesehen stimme ich der Sache zu. Lieber ein paar ungemütliche Einzelgespräche und kritische Konfrontationen, als ein Toter mehr.“, pflichtete Fatmir dem Schweden bei.

    „Ich bestehe darauf, dass ich bei allen Gesprächen anwesend bin!“, ereiferte sich der österreichische Schlossherr und ging gar nicht auf die vorhergegangenen Bemerkungen ein.

    „Du warst schon immer ein Kontrollfreak. Jetzt musst selbst du einmal zurückstecken. Du warst immer sturköpfig und dominant. Was fürchtest du dich so vor dem Vorschlag, hast du uns allen etwa irgendetwas zu verbergen?“, fragte Magdalena Osario mit süffisanter Stimme, nachdem sie sich zuvor provokativ langsam erhoben hatte und jetzt elegant die Treppe hinunterschritt und die ihr gewidmete Aufmerksamkeit genoss.

    Der Schlossherr blickte sie feindselig an und ballte seine Faust. Schweiß rann vor seiner Stirn, seine Arme zitterten vor Wut. Er warf einen düsteren Blick in die Runde der Anwesenden, sah jedoch, dass er allein dastand, schüttelte ungehalten den Kopf und versuchte seine Betroffenheit unter einem übertriebenen Stolz zu verstecken.

    „Nun, wie ihr wollt. Ich habe nichts zu verbergen, ich bin kein skrupelloser Mörder. Macht doch was ihr wollt!“, rief er und rauschte energisch an seiner herantretenden Frau vorbei und in die hinteren Säle, nachdem er Fatmir kurz angerempelt hatte.

    Thomas nickte grimmig.

    „Ich werde Mamadou Bescheid geben. Wir werden noch warten, bis auch die Letzten hier ihre Koffer gepackt haben. Wir werden einfach das Arbeitszimmer des Direktors belegen und jeder von euch wird einzeln hereinkommen und ein paar simple Fragen beantworten. Wir fangen am besten in einer halben Stunde an. Vielleicht kommen wir so weiter.“, fasste Thomas seinen Entschluss zusammen und durchquerte die Eingangshalle, während Gwang-jo Park bitter lachte und den Kopf schüttelte, bevor er seinen Koffer schwungvoll und aggressiv zu Boden beförderte.

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