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    Kapitel 99: Samstag, 16 Uhr 40 Mamadous Zimmer


    Als die beiden schließlich die Zimmertür erreicht hatten, war ihre Leichtigkeit schon wieder einer drückenden Konzentration gewichen. Dennoch hatte der kurze Moment des Glücks und der Zuversicht beiden sehr wohl getan, auch wenn in Zeiten wie diesen nichts von großer Dauer zu sein schien.

    Wie abgesprochen wartete die Brasilianerin im Gang, während Thomas Glück hatte, denn die Zimmertür war nicht abgeschlossen gewesen und so konnte er problemlos den Raum betreten. Behutsam schloss er die Tür hinter sich und schenkte seiner Partnerin ein zuversichtliches Lächeln, was diese charmant erwiderte.

    Mamadou hatte offenbar recht spartanisch gelebt. Thomas sah kaum persönliche Gegenstände, die Koffer waren noch eingepackt und er hatte sich nicht einmal der Kleiderschränke oder Schubladen des Nachttisches bedient. Selbst im Badezimmer, dessen Tür leicht offen stand, sah Thomas lediglich eine säuberlich eingepackte Kulturtasche und ein Shampoo, das sich auf einer Halterung in der Dusche befand. Die Handtücher und Badelaken waren sorgfältig gefaltet aufgehangen worden, so als ob sie nie benutzt worden wären.

    Umso mehr fiel Thomas natürlich der Laptop auf, der ein wenig versteckt in einer kleinen Tasche im Schatten des Kleiderschranks stand. Thomas runzelte die Stirn und dachte an das Einladungsschreiben des Direktors, der darauf hingewiesen hatte, dass die Gäste auf elektronische Geräte während ihres Treffens verzichten sollten. Offensichtlich hatte sich der Ghanaer nicht daran gehalten.

    Doch gerade in diesem Ungehorsam konnte eine große Chance liegen. Thomas fühlte sich wie elektrisiert, als der daran dachte, dass man über den Laptop möglicherweise einen Internetzugang hatte und somit die örtlichen Polizeibehörden oder die Küstenwache zur Hilfe rufen konnte. Thomas dachte sogar noch einen Schritt weiter, als er mit einigen zitternden Griffen den Laptop hochfahren ließ. Er war davon überzeugt, dass sein Kollege dies bereits getan hatte. Vielleicht würde Thomas nun sogar erfahren können, warum sich sein Kollege gegen Ende so seltsam und besorgt benommen hatte. Thomas dachte an die letzten Worte seines Kollegen, der ihm irgendetwas von einem Schlüssel erzählen wollte. Der schottische Polizist zermarterte sich das Gehirn, doch er kam einfach nicht auf die Lösung seines Problems. Er konnte sich auf den mysteriösen und bruchstückhaften Hinweis keinen Reim machen.

    Fast unerträglich langsam wurde der Laptop hochgefahren, schließlich erschien der Bildschirm mit einigen wenigen Programmen darauf. Die Ladezeit zog sich allerdings noch hin und Thomas trommelte ungeduldig auf das Gehäuse des Laptops. Zu seinem Glück hatte Mamadou seinen Laptop wenigstens nicht mit einem zusätzlichen Passwort sichern lassen. Mit wachen Augen überflog er die Programme und bemerkte sofort den Outlook Express, der dazu diente E-Mails zu schicken und zu empfangen. Thomas hatte selbst ein solches Programm und öffnete dieses nun rasch mit einigen Doppelklicks. Der Laptop schien zunächst überfordert und öffnete das Fenster nicht sofort. Wütend hämmerte Thomas mit seiner Faust auf den Tisch und biss die Zähne zusammen. Nervös wandte er sich zur Zimmertür um, in der Erwartung, dass jeden Moment dort jemand auftauchen könnte.

    Mit rasendem Herzschlag und drosselndem Atem fixierte Thomas die kleine Mattscheibe und ballte die Hand erleichtert zur Faust, als das Programm endlich fertig geladen hatte. Thomas war erstaunt, als der Laptop ihm ankündigte, dass zwei neue Nachrichten eingetroffen waren. Die erste stammte offensichtlich von einer Thomas unbekannten Frau, die zweite jedoch von einem gewissen Chief inspector Taylor Relliews.

    Rasch öffnete Thomas letztere Nachricht und fand in ihrem Anhang sogar die Nachricht, die der Ghanaer scheinbar am frühen Morgen eilig abgeschickt hatte, denn sie wimmelte vor Rechtschreibfehlern. Murmelnd las sich Thomas die Nachricht durch und spürte eine hektische Erregung dabei in sich aufsteigen, die mehr und mehr einem hitzigen Gefühl der Freude wich.

    „An die zuständigen polizeilichen Behörden der Küstendörfer Bridetown, Chairwell und Cothingstone, sowie die schottische Küstenwache Nord-Nord-Ost: Mein Name ist Mamadou Kharissimi, ich bin stellvertretender Polizeipräsident im dritten Bezirk von Edinburgh. Ich befinde mich derzeit auf Osario Island, etwa sieben Kilometer nördlich von Bridetown gelegen. Die Insel befindet sich in privatem Besitz und ich befinde mich hier mit insgesamt zehn weiteren Gästen, mit denen ich vor einigen Jahren auf derselben Privatschule meinen Schulabschluss erworben habe. Des Weiteren befinden sich noch der Gastgeber mit seiner Gattin im Schloss, sowie ein Butler und ein Koch, wenn ich mich nicht verzählt habe. Seit unserer Ankunft gegen Mittwochmittag dieser Woche ist es jedoch zu mehreren gewaltsamen Todesfällen gekommen. Sieben Menschen sind bereits gewaltsam gestorben, darunter auch die beiden Gastgeber, eine weitere Person hat sich unter enormen psychischen Druck das Leben genommen. Durch Zufall habe ich in dieser Nacht einen entscheidenden Hinweis auf den Täter zu Gesicht bekommen und diesen zur Rede gestellt. Die Person hat mir jedoch gedroht, dass sie bereits diverse weitere Fallen präpariert habe, um weitere Anwesende umzubringen. Über die Motive der Person bin ich mir nicht im Klaren, doch ich vermute, dass es sich um einen persönlichen Rachefeldzug handelt, da die Person in ihrer Jugendzeit viele Demütigungen und sogar Misshandlungen hinnehmen musste, wie ich annehme. Die Person drohte mir, dass sich eine Bombe in einer Kuckucksuhr befinden würde, die per Zeitzünder in die Luft gehen würde. Sie sagte, dass, wenn ich sie umbringen, einsperren oder verraten würde, das gesamte Schloss durch die Wucht der Detonation zerstört werden würde und nur sie selbst den Code kennt, um diese Bombe zu entschärfen. Ich kann also praktisch nicht gegen sie vorgehen, da ich sonst das Leben aller anderen Menschen auch akut gefährden würde. Leider kenne ich mich mit Sprengstoff auch nicht sonderlich gut aus, doch die Person hat mir in Abwesenheit der anderen Gäste die Uhr gezeigt und bewiesen, dass es sich um keinen Bluff zu handeln scheint. Ich werde versuchen den Täter so lange hinzuhalten, bis sie Verstärkung schicken und das Schloss und die Insel stürmen. Es handelt sich um eine extrem gefährliche Situation, daher bitte ich sie umgehenden einzugreifen. Jede Minute unnötiger Zeitverschwendung könnte hier ein Leben kosten. Reagieren Sie sofort! Da ich unter ständiger Überwachung stehe bin ich mir nicht sicher, ob ich auf mögliche Anfragen von ihrer Seite antworten kann, zumal ich meinen Laptop gut versteckt halte. Mit freundlichen Grüße, Ihr Mamadou Kharissimi.“, las sich Thomas vor und so langsam leuchte ihm ein, warum sein verstorbener Kollege so schweigsam, übervorsichtig und bedrückt gewirkt hatte.

    Thomas ärgerte es jedoch ungemein, dass der Ghanaer der Polizeibehörde nicht einmal den Namen des Killers verraten hatte. Thomas konnte sich kaum vorstellen, dass Mamadou diesen Aspekt vergessen hatte, aber warum hätte er den Namen absichtlich außen vor lassen sollen? Vielleicht aus Angst? Oder hatte er ihn tatsächlich in der Hektik vergessen?

    Thomas versuchte selbst darauf zu kommen, wen der Ghanaer als Täter entlarvt haben könnte. Wann war es bloß zu dem Zusammentreffen zwischen ihm und dem Täter gekommen? Wann waren sie gemeinsam in der Bibliothek gewesen, um diese Kuckucksuhr zu untersuchen? Welche der noch lebenden Personen hätte ein Rachemotiv gehabt? Wer unter ihnen war in seiner Schulzeit gedemütigt worden? Waren sie nicht alle auf ihre Art und Weise gedemütigt worden?

    Thomas dachte angestrengt nach, doch er wirkte wie paralysiert, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sein Kopf schmerzte, er fühlte sich müde und ausgelaugt und sein Blick wurde immer verschwommener, je länger er auf den flirrenden Plasmabildschirm starrte. Er schloss für einen Augenblick die Augen, atmete tief durch und bediente dann wieder den Cursor, um im Outlook Express die Antwort der Polizeibehörde durchzulesen.

    „Sehr geehrter Herr Kharissimi, auf Grund eines Serverproblems hat uns ihrer Nachricht erst vor wenigen Augenblicken erreicht. Auf Grund der heiklen Wetterlage und der für die heutige Nacht angekündigten Stürme werden wir die von ihnen genannte Insel am heutigen Tag leider nicht mehr erreichen können, da wir es nicht verantworten können, das Leben unserer Piloten oder Bootsmänner aufs Spiel zu setzen. In den Morgenstunden soll sich die Lage jedoch verbessern und die Sturmfront entgültig vorbeiziehen. Wir werden zu diesem Zeitpunkt auf dem schnellsten Weg unser Sonderkommando zu ihnen schicken und vermutlich am späten Vormittag bei ihnen eintreffen. Versuchen Sie den Täter so lange wie möglich hinzuhalten. Grenzen Sie seinen Handlungsspielraum ein, warnen Sie, soweit es Ihnen irgendwie möglich ist, die anderen Anwesenden vor ihm. Wir bräuchten am besten noch genauere Angaben des Täters und die Namen der anwesenden Personen. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Mit freundlichen Grüßen, Ihr Chief inspector Taylor Relliews, stellvertretender Polizeipräsident und Leiter aller Sonderkommandos im Bezirk Nord Nord Ost.“, las Thomas die Antwort laut vor und hielt seinen schweren Kopf dabei mit beiden Händen gestützt, wobei er sich mit den Ellbogen gegen die Tischkante stemmte.

    So sehr er sich auch eben noch über die Nachricht gefreut hatte, so schnell trat bei ihm jetzt die Ernüchterung ein. Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch und sprang grimmig von seinem Stuhl auf. Kopfschüttelnd lief er in dem Zimmer hin und her und wusste nicht, wie er seinem Ärger Luft verschaffen sollte.

    Er empfand es als eine Dreistigkeit, dass die örtlichen Behörden erst am nächsten Morgen eingreifen wollten. Sie wollten einen eventuellen Anflug auf die Insel gar nicht erst probieren wegen des Sturms. Stattdessen nahm man fast billigend in Kauf, dass die überlebenden Gäste in der Zwischenzeit weiterhin in akuter Lebensgefahr schwebten und sich einzeln nacheinander abschlachten ließen. Was dachte dieser stellvertretende Polizeipräsident denn von ihnen? Meinte er etwa, dass sie alle aus Dummheit in die tödlichen Fallen getappt waren und dem Killer dabei tatenlos zugesehen hatten? Konnte er sich nicht vorstellen, dass man alles daran gesetzt hatte, ein System hinter den Morden zu erkennen, um den Täter in irgendeiner Weise zu stoppen? Wie ignorant musste man sein, um solch eine verzweifelten Schrei nach Hilfe einfach auf die leichte Schulter zu nehmen?

    Thomas trat wütend gegen einen der Holzstühle, der krachend gegen die Wand flog und ballte seine Hände zu Fäusten. Er war sich darüber bewusst, dass ihm erneut die Hände gebunden waren, dass er wieder nicht entscheidend eingreifen konnte. Er war auf fremde Hilfe angewiesen und diese ließ sie nun im Stich. Der Schotte spielte kurz mit dem Gedanken, ob er der Behörde ebenfalls eine Nachricht schicken sollte, doch er bezweifelte, dass er mehr Erfolg haben würde, als sein Kollege, dessen engagierten Rettungsversuch Thomas im Nachhinein enorm wertschätzte. 

    In diesem Moment wurde plötzlich grob die Zimmertür aufgerissen und Thomas zuckte zurück und ging in die Knie, in Erwartung eines schnellen Angriffs. Geduckt nahm er eine Abwehrstellung ein und atmete erleichtert auf, als er Elaine Maria da Silva erblickte, die ihm einen erstaunten Blick zuwarf, die Tür hinter sich schloss und Thomas eindringlich anblickte.

    „Gwang-jo kommt gerade die Treppe hoch. Ich wollte unsere Position nicht verraten und habe es vorgezogen mich hier bei dir kurzzeitig zu verstecken. Allerdings solltest du dann auch nicht so einen Lärm machen!“, flüsterte die Brasilianerin eindringlich und bemerkte kurz darauf erstaunt den halb zertrümmerten Stuhl, den Thomas eben erst demoliert hatte. Fragend blickte sie ihren Partner an.

    „Ich habe gerade Mamadous Laptop gefunden. Er hat eine Nachricht an die nächsten Polizeistationen geschickt. Die Sondereinheiten werden frühestens morgen Vormittag eintreffen, wegen des Sturms.“, erklärte Thomas, der sich inzwischen wieder an den Laptop gesetzt hatte und auch noch die zweite Nachricht anschauen wollte. Diese war an eine Frau adressiert worden.

    Thomas öffnete die Nachricht und merkte sogleich, dass sie an die Freundin oder Frau des Ghanaers gerichtet war. Sie war in einer Thomas fremden Sprache verfasst worden, vermutlich Akan, der neben der Amtssprache Englisch meistbenutztesten Sprache Ghanas. Thomas fühlte sich unwohl, als er daran dachte, dass dies die letzte Nachricht gewesen war, die Mamadou in seinem Leben verschickt hatte. Er wollte seinem toten Kollegen diese Privatsphäre nicht nehmen, da der Brief vielleicht eine Art persönlichen Abschied von einer nahestehenden Person darstellte. Mit einem unguten Gefühl schloss Thomas die Datei und blickte sich noch anderweitig auf dem Rechner um und kam dabei zufällig auf den Internet Explorer. Langsam summend baute der Laptop eine Verbindung auf.

    „Verdammt, das könnte vielleicht schon zu spät sein“, brach es inzwischen laut aus Elaine Maria da Silva hervor und sie biss sich danach plötzlich auf die Lippen.

    Besorgt blickte sie zur Tür und hielt den Atem an. Tatsächlich vernahm eilige und tappende Schritte aus dem Flur, die sich jedoch nicht dem Zimmer des Ghanaers näherten. Erleichtert atmete die Brasilianerin auf und ließ sich erschöpft auf das sauber gemachte Bett des Toten fallen.

    Thomas war inzwischen ein anderer Gedanke gekommen. Er überprüfte im Verlaufsmodus die Seiten, die Mamadou zuletzt aufgerufen hatte und stieß dabei auf zwei verschiedene Seiten. Die erste behandelte mehrere Provinzialflaggen verschiedener Länder. Thomas warf flüchtig einen Blick darüber, konnte jedoch auf Anhieb keinerlei interessante Dinge finden. Daher nahm er sich direkt den zweiten Link vor, der ihn zu einer Seite führte, die eine Biographie über einen Politiker namens René Lévesque enthielt. Thomas musste sich eingestehen diesen französischen Namen niemals zuvor gehört zu haben. Wo lagen hier die Zusammenhänge?

    In diesem Moment trat Elaine Maria da Silva zu ihm, die sich stöhnend auf seiner Schulter abstützte und ihren Kopf sanft gegen den seinigen legte. Dabei blickte sie zunächst relativ müde und desinteressiert auf den Bildschirm, bis sie plötzlich erstarrte und die Seite näher betrachtete. Auch Thomas war dieser Wandel nicht entgangen und er wandte sich fragend an seine Begleiterin.

    „Den Kerl auf der Seite kenne ich. Er war einer der bekanntesten Premierminister der kanadischen Provinz Québec. Er hatte die Parti Québécois gegründet und sich für die Abspaltung der Provinz vom restlichen Land und deren Autonomie eingesetzt. Er hat versucht diese Unabhängigkeit durch ein Referendum zu erreichen und ist nur sehr knapp gescheitert. Er war eine sehr kontroverse Persönlichkeit, immer provokant und stoisch, sein Markenzeichen war, dass er ständig Zigaretten geraucht hat.“, berichtete Elaine Maria da Silva atemlos und sah Thomas erwatungsvoll an, doch dieser verstand die Geste nicht und blinzelte seine Partnerin verwirrt an.

    „Woher weißt du das alles?“, wollte er wissen.

    „Ich interessiere mich für Politik, zumal meine beste Freundin Politikwissenschaften studiert hat. Das ist aber zweitrangig, fällt dir denn nichts auf?“, forderte Elaine Maria da Silva ihren Geliebten zu einem kurzen Ratespiel auf, obwohl diesem überhaupt nicht danach war. Er wollte sich gerade ungeduldig beklagen, als er mit leuchtenden Augen einen Einfall hatte.

    „Doch, klar! Gwang-jo hat Politikwissenschaften studiert! Er wird diesen Menschen auch kennen. Aber ich verstehe nicht, warum Mamadou sich über diesen Premierminister schlau gemacht hat, das passt doch gar nicht zum Fall?“, erwiderte Thomas nachdenklich und wirkte seltsam leer und ratlos.

    „Von der Seite aus habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet. Ich dachte eigentlich eher an Marilou Gauthier. Immerhin kommt sie auch aus Québec. Das könnte genau passen!“, bemerkte Elaine Maria da Silva und Thomas sah sie erstaunt und mit fiebrigen Augen an.

    Er war gerade aufgestanden und dreht unruhig eine Runde in dem Zimmer seines toten Kollegen. Sein Gedankenapparat arbeitete wie auf Hochtouren. Er wollte gerade etwas erwidern, als er beiläufig aus dem Fenster sah. Das Zimmer befand sich an der Seitenfassade des Schlosses und bot einen guten Blick auf die Steilküste und die ersten Ausläufer des Dickichts. Thomas musste schon zweimal hinsehen und verwirrt blinzeln, um zu erkennen, dass eine dunkel gekleidete Person in aller Eile um das Schloss herumrannte. Noch erstaunlicher war aber der Gegenstand, den die Person in der Hand hielt. Es handelte sich um ein japanisches Katana, dessen scharfes Ende in Blut getränkt war.

    Erregt presste Thomas sein Gesicht förmlich gegen die Scheibe und seine Partnerin trat erstaunt an ihn heran. Thomas kam ihrer Frage zuvor, indem er stumm auf die Person wies, die jetzt geduckt auf die hintere Seite des Schlosses rannte und aus ihrem Blickfeld verschwand, doch als die Brasilianerin endlich nah genug an der Scheibe stand, war die Person auch schon wieder untergetaucht. Thomas dachte kurz nach, fuhr dann herum und rannte eilig auf die Zimmertür zu, die er dann aber bedachtsam öffnete und vorsichtig auf den Gang blickte, da niemand etwas von ihrem Besuch in dem Zimmer erfahren sollte.

    Als Thomas merkte, dass der düstere Gang in völliger Stille vor ihm lag, drückte er sich behutsam durch den Türspalt und nahm seine Partnerin an die Hand. Die Brasilianerin blickte ihn nachdenklich an, während der schottische Polizist sie bis in Richtung der Eingangshalle schleifte. Sie konnte sich noch keinen Reim darauf machen, was ihr Partner überhaupt vor hatte und sein grimmiger und stoischer Gesichtsausdruck wies darauf hin, dass er dies derzeit auch nicht mitteilen wollte, sondern versessen einer spontanen Eingabe zu folgen schien.  Am oberen Ende der Treppe war es die Brasilianerin leid und sie drückte Thomas zu sich herum.

    „Thomas, was hast du überhaupt vor? Würdest du mich vielleicht irgendwie mal aufklären, anstatt mich so brutal mitzuschleifen?“, wollte die Brasilianerin wissen.

    „Wer immer diese Person im Garten war, ich schätze, dass sie durch das zerstörte Fenster des Speisesaals nach draußen gelangt ist. Das Schwert stammt vermutlich aus der Sammlung des Direktors, ich glaube so ein Exemplar in seinem Arbeitszimmer gesehen zu haben. Wir müssen dieser Person folgen und ich wollte dich nicht oben allein lassen.“, erklärte Thomas hektisch und mürrisch und ging dabei schon rasch die Treppenstufen herunter, wobei er manchmal direkt mehrere auf einmal nahm, sodass seine Partnerin Mühe hatte, ihm überhaupt zu folgen.

    „Na schön. Wir sollten aber auch herausfinden, wo die Anderen sind. Du hast doch das Blut gesehen, irgendwer muss mit diesem verdammten Schwert auch verletzt worden sein. Ich hätte nicht gedacht, dass der Killer so schnell wieder zuschlagen würde.“, kommentierte die schöne Brasilianerin ächzend die Situation und wäre mit ihrem pompösen Kleid und ihren edlen Schuhen mit Absätzen fast das ein oder andere Mal böse gestolpert. Zum Glück hatte sie gute Reflexe und schien es gewohnt zu sein, sich mit solcher Kleidung regelmäßig und schnell voran zu bewegen.

    „Ich denke nicht, dass es derselbe Killer war. Er hätte sich nicht so hektisch verhalten und so von uns überraschen lassen, außerdem stimmt die Uhrzeit einfach nicht mit dem Hinweis auf dem Taschentuch des Kochs überein.“, antwortete Thomas und eilte bereits weiter an dem Springbrunnen vorbei in die Bibliothek.

    Der schottische Polizist wollte gerade um die nächste Ecke gehen, als plötzlich ein Schatten um selbige herumeilte und brutal mit Thomas zusammenstieß. Mit einem Schrei der Überraschung verlor Thomas in seinem schnellen Lauf das Gleichgewicht und landete rücklings auf dem Boden. Abwehrend hob er instinktiv die Arme schützend vor sein Gesicht, als die für ihn noch unerkenntliche Person ebenfalls mit erhobenen Armen und verzerrten Gesichtszügen auf seinen Körper stürzte, während Elaine Maria da Silva wie erstarrt stehen geblieben war und mit schreckgeweiteten Augen und offenem Mund die bedrohliche Kollision mitverfolgte.

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    Kapitel 98: Samstag, 16 Uhr 08 Zimmer des Kochs


    Fast fünf Minuten lang hatten alle Anwesenden stumm und in grimmigem Nachdenken dem Toten seine letzte Ehre erwiesen. Die Totenstille, die sie mit dem Opfer teilten, war kalt und bedrückend und es war schließlich Gwang-jo Park, der anfing mit sich selbst zu kommunizieren, um das Gefühl der hilflosen Einsamkeit irgendwie zu ersticken. Er wirkte dabei, als ob er in einer anderen Welt wäre und seine Mitmenschen und unmittelbare Umgebung nicht mehr wahrnehmen könnte.

    „Was ist nur mit mir los? Kaltblütig erstickt, eiskalt präpariert. Wer sagt mir, dass ich nicht der Nächste sein werde? Kann ich mich schützen? Ist mein Wille stärker als das Schicksal? Wo geht meine Reise hin? Ich kann es nicht verantworten. Es geht nicht länger! Ich muss mich befreien. Irgendwie, irgendwann. Es ist Zeit.“, murmelte der Koreaner vor sich hin, wandte sich dann mit bleichem Gesicht und glasigen Augen von dem Toten ab und drängte sich plötzlich gewaltsam an Thomas vorbei, der gerade noch überlegt hatte, ob er auf den seltsamen Monolog eingehen sollte oder nicht.

    Stattdessen stieß der Koreaner ihn grob zur Seite, drückte sich auch an Abdullah vorbei, dem er seinen Arm energisch in die Seite rammte, dann stieß er die mit einem kleinen Spalt offen stehende Tür wuchtig auf und taumelte gehetzt in den Flur, wo er sich fast panisch umdrehte und mit eiligen Schritten aus dem Blick der verduzten Anwesenden entschwand.

    Thomas wandte sich ebenfalls um und ging langsam in Richtung des Flures, als sich eine Hand wie eine eisige Totenklaue auf seine Schulter legte und ihn sanft, aber bestimmt zur Seite drückte. Mit einem Frösteln und aufgerichteten Nackenhaaren wandte sich Thomas um und blickte in die Augen von Marilou, welche wie düstere Eisseen wirkten, wie unheimliche Gletscher mit einer unergründlichen Tiefe. Thomas wusste nicht wieso, aber er hatte plötzlich einen abartigen Vergleich im Kopf und stellte sich die Augen der Kanadierin als Loch Ness vor und ihre unergründliche Seele als Nessie.

    „Es macht keinen Sinn, er braucht jetzt seine Ruhe. Er ist gerade in einer Phase, wo er sich sehr zu verändern scheint, emotionaler und sozialer wird. Allerdings wirkt er sehr verwirrt und gehetzt. Wenn ihn jetzt jemand stört, dann könnte er wieder völlig durchdrehen. Ich würde mich vor diesem seltsamen Kauz in Acht nehmen und ihm auch im Moment keinen Glauben schenken.“, bemerkte Marilou eindringlich und Thomas nickte fast wie paralysiert, als ob er gerade all seine Energie und seinen Willen verloren hätte.

    „Wir sollten uns vor jedem hier in Acht nehmen.“, bemerkte lediglich Elaine Maria da Silva schnippisch und tauschte dabei einen bedeutungsschwangeren und frostigen Blick mit der Kanadierin aus, obwohl sich die beiden Frauen eben seltsamerweise noch getröstet hatten.

    Diesen leisen Konflikt hatte auch Abdullah bemerkt, der sich symbolisch vor seine Frau stellte und den Blick der Brasilianerin auf diese somit einschränkte. Grimmig verschränkte Abdullah seine Arme.

    „Hört bloß auf meine Frau zu beschuldigen! Der Konflikt von eben sollte jedem Warnung genug sein.“, drohte Abdullah nun seinerseits und wirket dabei grimmig, wenngleich er dabei nicht so furchteinflößend aussah wie seine Gattin.

    Für eine kurze Zeitspanne lang herrschte eine unbehagliche Stille im Raum, bevor sich Thomas vernehmlich räusperte und zum Tatort zurückbewegte, wobei er seiner brasilianischen Geliebten im Vorbeigehen an die Taille griff und sie langsam von dem verärgerten Pärchen wegzog. Thomas kannte das hitzige Temperament seiner Partnerin inzwischen zu Genüge und wollte eine weitere Eskalation unbedingt vermeiden. Bei seiner Aktion blickte Elaine Maria da Silva ihn jedoch zunächst verwundert, dann grimmig an und löste sich mit wehender Mähne aus seinem Griff. Demonstrativ trat sie nun zu Björn Ansgar Lykström, der stumm und nachdenklich auf den Toten starrte und an der hitzigen Diskussion gar nicht teilgenommen hatte. Der Schwede wirkte seltsam in sich gekehrt.

    „Ein Opfer wird es heute noch geben. Am Tag unserer Ankunft gab es den ersten Toten, am zweiten Tag gleich zwei Opfer, am dritten Tag wurde die Anzahl auf drei Personen gesteigert und heute sind es vier. Wenn wir diese Rechnung weiter kalkulieren, dann wären wir morgen um diese Uhrzeit vermutlich alle tot.“, bemerkte der Schwede kalt und wandte sich mit leerem Blick der Brasilianerin zu, die ihn an den Schultern packte und heftig durchschüttelte.

    „Ich will aber noch nicht sterben! Hast du gehört, du Schwarzseher? Ich will überleben!“, schrie sie außer sich vor Wut und hämmerte wuchtig auf den Brustkorb des durchtrainierten Lehrers ein, der sich gar nicht an dieser Verzweiflungstat störte.

    „Wir sollten unseren letzten Abend genießen.“, murmelte er in einer Mischung aus Sarkasmus und Resignation, während sich die Brasilianerin schluchzend gegen ihn presste, dann erschöpft auf die Bettkante sank, wo neben ihr der Tote lag.

    Thomas hatte dem Opfer inzwischen die Augen geschlossen und den offenen Mund behutsam zugedrückt, sodass der Anblick nicht mehr ganz so mulmig war. Wie lange mochte der Tote gelitten haben, bevor ihn das Kissen, das neben ihm lag und an der Unterseite völlig zerkratzt und zerbissen worden war, entgültig erstickt hatte? Thomas wollte der Sache unbedingt auf den Grund gehen.

    „Alle werden sterben. Alle werden wir sterben. Gemeinsam untergehen.“, murmelte Björn Ansgar Lykström inzwischen heiser vor sich her und lachte unecht dabei.

    Gebetsmühlenartig wiederholte er seine Phrasen und Thomas blickte ihn ein wenig besorgt dabei an. Dennoch versuchte er seine Gedanken auf einen erneuten Versuch der Ermittlung eines Täters zu fokussieren. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er sich noch nicht aufgegeben hatte. Trotz aller Angst und Bedrohung hatte er noch einen letzten Funken Hoffnung in sich gewahrt, den er jetzt praktisch als Initialzündung benötigte. Es klang in seinen Ohren makaber, aber je mehr Menschen unter den Anwesenden tot waren, desto näher kam er auch dem wahren Täter.

    „Was genau ist passiert, nachdem ich eingesperrt worden bin? Wart ihr als Gruppe zusammen, wer hat sich von ihr entfernt?“, wollte Thomas schließlich wissen.

    Elaine Maria da Silva blickte nachdenklich zu Boden und fuhr sich gedankenverloren durch ihr Haar, während der Schwede weiterhin regungslos auf den Toten starrte. Ein leises, kaltes Lächeln umspielte seine Lippen und er kicherte kopfschüttelnd. Die Augen des Schweden funkelten, als er sich zu Thomas umwandte. Der schottische Polizist bekam eine Gänsehaut und spürte wieder eine seltsam Veränderung, die nun diesen Anwesenden getroffen zu haben schien. Die Atmosphäre in dieser abgedunkelten Kammer wirkte plötzlich noch unheilvoller als bereits zuvor.

    Auch Elaine Maria da Silva warf dem Schweden einen ängstlichen Blick zu und trat wieder näher zu Thomas heran. Langsam und mit brüchiger Stimme versuchte sie sich abzulenken, in dem sie zu der Frage ihres Partners Stellung bezog. Dabei griff sie fast instinktiv an dessen Unteram.

    „Nun, ich versuche die Situation noch einmal zu rekonstruieren. Wir sind alle gemeinsam in die Bibliothek gegangen. Herr Lykström hatte sich gerade wieder ein wenig erholt und war zu Beginn gar nicht anwesend, was uns etwas überrascht hatte. Wir haben ihn dann aber in der Küche gefunden, wo er sich etwas zu trinken geholt hatte. Bei der Gelegenheit haben wir uns auch nach den verbliebenen Essensgegenständen umgesehen, aber hauptsächlich nur Konservendosen mit Hühnerbrühe gefunden. Das ist für mich aber kein Problem, es gibt eigentlich kaum etwas, was ich lieber esse als Hühnchen, egal in welcher Form.“, begann die Brasilianerin mit ihrer Reflektion und ließ ihre grazilen Hände dabei über den Unterarm des Schotten gleiten, der schließlich sanft ihre Hand ergriff und sie schützend umschloss.

    „In Ordnung. Was genau habt ihr danach gemacht?“, wollte Thomas dann wissen und war inzwischen nur noch auf das Gesicht der Brasilianerin konzentriert, wenngleich sie ihm mehr ihr Profil zuwandte und in eine unsehbare Ferne zu blicken schien. Björn Ansgar Lykström setzte sich plötzlich wie paralysiert auf das Bett des Toten und versteifte in dieser Position, bis er anfing wie ein Seekranker von einer Seite zur anderen zu schwanken.

    „Danach sind wir zurück in die Bibliothek gegangen, Gwang-jo ist aber noch kurz im Speisesaal geblieben und hat dort am zerstörten Fenster eine Zigarette geraucht. Der Sturm und Regen war draußen abgeflaut, daher bestand keinerlei Gefahr.“, fuhr die attraktive Brasilianerin nach einigen Sekunden der Verwirrung fort.

    „Habt ihr ihn dabei denn auch die ganze Zeit im Auge gehabt?“, wollte Thomas genau wissen und bemerkte das leichte Kopfschütteln seiner Partnerin, die ihn jedoch noch immer nicht anblickte und ein wenig verloren wirkte. Auch sie hatten die letzten Ereignisse offensichtlich zermürbt, zumal ja auch noch der Konflikt mit Thomas selbst noch hinzu gekommen war.

    „Wir haben ihn vielleicht für fünf Minuten aus den Augen gelassen, aber er kam dann zurück in die Bibliothek und wirkte seitdem sehr nachdenklich und besorgt. Man konnte seinen Sinneswandel förmlich spüren. Wir wollten uns aber vermehrt um Lykström kümmern, er war nach dem Mord an Mamadou und der Explosion dieser präparierten Kuckucksuhr völlig fertig. Marilou bot an, dem fiebrig und zittrig wirkenden Lehrer einige Wadenwickel zu machen und ein paar Handtücher zu holen. Sie muss auf ihrem Weg zu ihrem Zimmer dann irgendwie auf dich aufmerksam geworden sein. Nach einer Zeit rief sie uns und sagte Bescheid, dass sie dich wohl gefunden hatte. Wir waren ohnehin alle kurz davor gewesen nach dir zu suchen, wollten aber nicht getrennte Wege gehen.“, erklärte Elaine Maria da Silva fast entschuldigend und wandte Thomas zu ersten Mal seit langer Zeit wieder ihr Gesicht zu.

    Elaine Maria da Silva wirkte müde und ausgelaugt und doch lag in diesen Momenten eine fast friedliche Glückseligkeit in ihren Zügen. Sie lächelte Thomas an und ergriff nun ihrerseits seine Hand. Ihre wilde Liebeslust war einer sanften Zuneigung gewichen und sie drückte ihren Kopf an die Brust des Schotten, der ihr gedankenverloren durch das Haar strich. Er hörte ein leises Schluchzen der Brasilianerin und spürte selbst in sich eine resignierende Traurigkeit in sich aufsteigen.

    „Wir sollten zusammen bleiben, sonst ist niemand sicher.“, flüsterte Thomas ihr ins Ohr und sie löste sich sanft von ihm und blickte dem Schotten tief in die Augen. Sie sah ihn fast flehend und verzweifelt an.

    „Verzeihst du mir?“, fragte sie ihn unvermittelt mit dünner Stimme und hatte Schwierigkeiten ihm weiter gerade in die Augen zu gucken, weil ihr ganzes Gesicht wie unter Krämpfen zu beben schien.

    Thomas griff mit seiner rechten Hand zart nach dem Kinn der Brasilianerin und drückte es leicht in de Höhe, um in ihren Augen zu versinken und ihr seine Offenheit darzulegen. Mit einem traurigen Lächeln streichelte er mit seiner anderen Hand ihre linke Wange.

    „Wofür soll ich dir verzeihen?“, fragte er ebenso ruhig und sanft.

    „Das weißt du doch genau! Ich habe mich kindisch verhalten, als wir eben noch in der Eingangshalle gewesen waren. Ich habe dich vor allen anderen Anwesenden angeklagt und ein schlechtes Bild auf dich geworfen.“, bemerkte die südamerikanische Schönheit und atmete dabei tief und seufzend durch.

    Missmutig blickte sie zu Boden, doch Thomas ergriff erneut ihr Kinn, drückte es sanft in die Höhe, sodass seine Augen wieder in ihren versinken konnten.

    „Es war mein Fehler. Fast alle Anwesenden wussten über die Funde Bescheid, weil sie zufällig dabei waren. Ich hätte dich auch einweihen sollen, gerade dich. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber trotz aller Gefahren und Täuschungen vertraue ich dir irgendwie und ich hätte es dir dadurch beweisen können. Wie kann ich jemanden wie Gwang-jo es wissen lassen und eine so herzensgute und aufrichtige Dame wie dich nicht?“, fragte sich Thomas selbst mit einigem Spott und einem schelmischen Lächeln.

    „Lass es uns einfach vergessen. Auch ich vertraue dir, daran sollst du niemals zweifeln. Lass uns das, was vorgefallen ist, einfach vergessen.“, bat die Brasilianerin ihren Partner, der daraufhin langsam nickte.

    Dennoch wirkte der Schotte nicht sonderlich überzeugt. Die letzten Ereignisse waren völlig unvermittelt über ihn hereingebrochen. Gerade beziehungstechnisch hatte Thomas in seinem Leben immer ausreichend Probleme gehabt. Er war lange Zeit verwirrt gewesen, doch seit der letzten Nacht hatte er geglaubt klar zu sehen, war mit Elaine Maria da Silva wie auf Wolke sieben gewesen, doch durch ihre verbale Attacke am Nachmittag war sie ihm plötzlich viel menschlicher erschienen, ihre Liebe hatte etwas von ihrer magischen Unschuld verloren. Ihre erst langsam aufkeimende Beziehung stand jetzt unter keinem guten Vorzeichen, doch Thomas redete sich ein, dass er nun etwas hatte, für das es sich plötzlich zu kämpfen lohnte. Der engagierte Schotte schwor sich, dass er das Leben seiner Geliebten bis auf den letzten Tropfen Blut verteidigen würde. Wenn der Täter ihn zermürben sollte, dann musste er erst die Brasilianerin zermürben. Trotz oder gerade wegen all den Zweifeln und der Angst waren die beiden wie zusammengeschweißt und diese Gewissheit erfüllte das Herz des Schotten mit Leidenschaft und Stolz. Er war überzeugt, dass er an den Problemen wachsen würde und jeder Stich in sein Herz und jeder Schlag ins Gesicht ihn noch stärker machen würde. Je mehr Thomas über die ganze verfahrenen Situation nachdachte, desto mehr spürte er wieder ein gewisses Maß an Entschlossenheit in sich aufkeimen.

    Sein Blick fiel während seiner Gedankengänge wieder auf den schwedischen Lehrer, der sich immer seltsamer benahm und Thomas fast schon Angst machte. Björn Ansgar Lykström hatte es sich inzwischen im Schneidersitz auf dem Bett bequem gemacht und streichelte mit einem irrsinnigen Lächeln über die wenigen grauen Haare des Toten. Dabei summte er eine Art Kinderlied vor sich hin und wog sch leicht von vorne nach hinten. Thomas wurde immer besorgter um den schwedischen Lehrer, der allmählich dem Wahnsinn zu verfallen sein schien.

    „Björn Ansgar Lykström, hören Sie mich?“, fragte er laut und deutlich, doch sein Gegenüber reagierte gar nicht mehr auf seinen Ruf und schaukelte weiter ziellos neben dem Leichnam hin und her.

    In diesen Augenblicken fiel Thomas mit Schrecken auf, dass auch Marilou und Abdullah aus dem Zimmer des Toten verschwunden waren. Thomas war so sehr auf seinen wichtigen und erlösenden Dialog mit der Brasilianerin konzentriert gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sich das andere Pärchen heimlich aus dem Zimmer geschlichen hatte.

    Erschrocken löste er sich aus der Umarmung seiner brasilianischen Geliebten und trat verwirrt nach draußen auf den Flur. Eilig sah er sich um, doch die nähere Umgebung lag völlig verlassen vor ihm. Thomas hatte sofort das ungute Gefühl, dass sich das Pärchen nicht nur entfernt hatte, weil es den Anblick des Toten nicht mehr verkraften konnte. Thomas fühlte seinen rasenden Puls und tausend wirre Gedanken schwirrten durch seinen Kopf.

    Der schottische Polizist schloss die Augen, atmete regelmäßiger durch und schaffte es seinen Kreislauf zu beruhigen. Automatisch wurden auch seine Gedanken geordneter und eine fast meditative Ruhe schien ihn zu empfangen. Solche Methoden hatte er in seiner Zeit im Kloster erlernt und sie spendeten ihm jetzt viel Kraft und Besonnenheit.

    Er wurde erst durch die grazile Hand seiner Begleiterin aus dieser Ruhe gerissen, die inzwischen ebenfalls wieder ruhig und ernst wirkte.

    „Es bringt uns nichts, wenn wir jetzt in aller Hektik das Schloss durchsuchen und uns möglicherweise auch noch trennen. Wir müssen die Ruhe bewahren. Ich habe allerdings gerade noch eine andere Idee.“, deutete die Brasilianerin leise und überlegt an.

    „An was dachtest du?“, wollte Thomas wissen, der ihre Vorschläge sehr vernünftig fand.

    „Dein Kollege Mamadou hatte sich sehr seltsam benommen, weil er das Geheimnis des Mörders zu kennen schien. Ich bin davon überzeugt, dass er irgendwo ein paar Notizen gemacht oder so etwas Ähnliches unternommen hat.“, begann Elaine Maria da Silva.

    „Da magst du recht haben. Es ist die Marotte eines Polizisten ständig irgendwelche Notizen zu machen.“, stimmte Thomas ihr anerkennend zu.

    „Ein Punkt, den ihr mit uns Schriftstellern gemeinsam habt. Ich würde logischerweise vorschlagen, dass wir dem Zimmer deines toten Freundes einen Besuch abstatten, bevor der Mörder auf dieselbe Idee kommen könnte.“, mahnte die Brasilianerin Thomas, dem dieser Gedanke ebenfalls zeitgleich gekommen war. Er schalt sich einen Narren, dass er nicht bereits vorher an diese Möglichkeit gedacht hatte.

    War das Zimmer des Ghanaers das Ziel von Abdullah und Marilou gewesen? Steckten die beiden sogar zusammen hinter all den Morden? Was für eine Rolle spielte dann aber der seltsame Gwang-jo?

    In diesem Moment erklang ein düsteres, kratziges Lachen, das kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Mit einem lauten Klirren fiel irgendwo etwas zu Boden und kurz danach ertönte ein seltsam dumpfes Geräusch. Thomas blickte besorgt in das Zimmer des Toten und sah dabei durch die offene Tür, wie eine beschädigte Nachtischlampe behäbig über den Boden rollte und erst von einer Fußleiste gestoppt wurde. Sie warf ein bizarres Licht in den Raum, das die Konturen einer langsam kriechenden Person flackernd vergrößerte. Langsam schlich die Person auf allen Vieren auf die Lampe zu und Thomas erkannte sofort das verschwitzte Gesicht des schwedischen Lehrers, in dessen Augen ein seltsames Funkeln stand. Kichernd kroch der Schwede vorwärts auf die Lampe zu, stieß dabei gegen einen kleineren Tisch, auf dem lediglich eine verzierte, aber leere Blumenvase auf einer Decke stand. Instinktiv griff der verwirrte Mann nach der Decke und riss sie seitwärts fallend vom Tisch. Die Blumenvase fiel ein Stück nach hinten, rollte über die Kante und ging mit einem lauten Klirren am Boden zu Bruch. Verschreckt blickte sich der Lehrer um und blickte in einer Mischung aus Unglauben und Wissbegier auf Elaine du Thomas, als ob er von ihnen eine Antwort erwarten würde oder sogar Angst vor den beiden zu bekommen schien. Ängstlich kroch er auf allen Vieren zurück, warf sich schreiend herum und stürzte in den hinteren Bereich des Zimmers, wo er versehentlich eine Stehlampe umstieß, die polternd umkippte. Verwirrt klammerte sich der Schwede an den Jalousien fest, die das Zimmer abgedunkelt hatten und riss diese im Fallen zum Großteil mit herunter. Ein Geräusch reißenden Materials und ein metallisches Hallen begleiteten die versehentliche Zerstörungsorgie des Schweden, der sich in den Jalousien verstrickte und ächzend zu Boden fiel.

    Schummriges Licht erhellte nun das Totenzimmer durch das Fenster. Der Himmel war grau und düster, die Umgebung war als neblig zu bezeichnen, doch der Sturm schien mehr und mehr abgeflaut zu sein. Vielleicht würde er am nächsten Abend schon wieder ganz abgeklungen zu sein.

    Doch was nützte dies Thomas schon? Die Entscheidung um Leben oder Tod würde früher getroffen werden und ob die Verbesserung der Wetterlage auch bedeutete, dass man von dieser Insel entkommen konnte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Es gab kein Boot, zum Anfertigen eines Floßes fehlte es an nötigen und robusten Materialien und ein ordinäres Fischerboot würde bestimmt niemals auf die Idee kommen auf dieser Insel an Bord zu gehen. Die Leute würden sich erst dann Sorgen um den einsiedlerischen Direktor machen, wenn er zu Beginn des nächsten Schuljahres nicht in seiner Privatschule erscheinen würde. Bis zu Wiederbeginn der Schulzeit waren es aber noch gute zwei Wochen hin und die wollte Thomas nicht zwischen all den Toten auf der Insel verbringen.

    Der Polizist schüttelte diese Gedanken von sich ab und ging endlich auf Elaine Maria da Silva ein, die ihn bereits fragend, auffordernd und auch ungeduldig anschaute, da sie bemerkt hatte, dass er mit den Gedanken noch ganz woanders gewesen war.

    „Ich stimme dir zu. Die Frage ist nur, was wir mit Lykström in der Zwischenzeit machen werden.“, bemerkte Thomas nachdenklich.

    „Er wird wohl nicht viel mehr anrichten, als das, was er ohnehin schon getan hat. Er stellt derzeit keine Gefahr dar und nach seinem Verhalten zu urteilen, ist auch er nicht der Mörder.“, beruhigte Elaine Maria da Silva den pflichtbewussten Schotten.

    „Das ist mir auch klar. Wir können ihn aber doch nicht bei dem Toten lassen, wer weiß, was er noch alles mit ihm anstellen wird! Zudem habe ich arge Bedenken ihn hier zurückzulassen, da er für den Täter praktisch auf dem Präsentierteller sitzt.“, hielt Thomas entschlossen dagegen und spürte gleichzeitig die liebkosende und weiche Hand der Brasilianerin an seinen Lippen.

    Die südamerikanische Schönheit wollte ihn damit beruhigen, gleichzeitig aber auch zum Schweigen drängen. Sie hatte sich etwas in den Kopf gesetzt und wollte dies nun mit Anwendung dieser etwas unfairen Mittel auch knallhart durchsetzen. Thomas spürte wieder eine kure Welle der Erregung in sich und knabberte leicht an den Fingerkuppen der Brasilianerin, die glockenhell dabei lachte.

    „Wir werden nur kurz ein paar Räume weiter ein Zimmer untersuchen, das ist nichts Gefährliches, mein Süßer. Wenn es dich beruhigt, dann kannst du auch die Untersuchung allein vornehmen und ich stehe auf dem Gang Schmiere und halte die Augen offen.“, hauchte die Brasilianerin dem Schotten ins Ohr und dieser nickte fast instinktiv, als die Brasilianerin ihm einen weichen und feuchten Kuss auf die Wange hauchte und mit ihrer Hand in seinen Schritt griff.

    „Vielleicht hast du recht.“, murmelte Thomas mit hochrotem Kopf und erneut schien seine Partnerin leicht spöttisch über ihn zu lachen.

    „Mit gewissen Tricks sind Männer manchmal sehr leicht zu überzeugen.“, deutete die Brasilianerin mit einem raueren Lachen an und funkelte ihren Partner dabei verschwörerisch an.

    Dieser konnte sich nun doch ein Lächeln nicht ganz verkneifen und blickte in die überrascht aufstehenden Augen der Brasilianerin, die mit diesem plötzlichen Wandel ihres Partners nicht gerechnet hätte.

    Dieser zunächst unscheinbare und doch plumpe Spruch der Brasilainerin hatte die unheilvolle Atmosphäre endlich durchbrochen und Thomas von seinen dunklen Gedanken abgelenkt, wofür er ihr unsagbar dankbar war, obwohl immer noch ein letztes Gefühl des Zweifels in seinem Hinterkopf verweilte.

    Fast im selben Moment brachen beide in schallendes Gelächter aus. Die Brasilianerin hauchte ihrem Partner einen Kuss auf die Stirn und Thomas fühlte sich wieder wie neugeboren. Mit frischer Motivation hakte er bei seiner neuen Partnerin unter und sie marschierten beide mit einem Lächeln auf dem Gesicht und endlich auch ohne große Bedenken in Richtung des Zimmers des toten Ghanaers, ohne dabei einem anderen Gast über den Weg zu laufen.

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    Kapitel 97: Samstag, 15 Uhr 37 Eingangshalle


    „Werft mal einen Blick auf eure Armbanduhren! Wenn wir uns bei unseren letzten Vermutungen nicht vertan haben, müsste in diesen Momenten die nächste Falle zuschnappen.“, meldete sich mit Gwang-jo Park auch einer der anderen Anwesenden wieder zu Wort und Thomas, der als Einziger immer noch alles Andere als majestätisch oder selbstbewusst auf dem erhöhten Springbrunnen stand, war ihm für diesen Themenwechsel fast schon dankbar.

    „Wer weiß, vielleicht war die Sache mit der verschlossene Luke für Thomas schon eine Art Falle.“, wandte Elaine Maria da Silva ein und blickte dem Schotten besorgt zu, der immer noch regungslos abseits der Gruppe verharrte.

    Er glich dabei fast einer antiken und erhabenen dargestellten Statue alter Götter, die in früheren Zeiten in den Philosophieräumen und Bibliotheken der alten Privatschule gestanden hatten und auch oft an kunstvollen Brunnen zu finden waren. Gleichzeitig wirkte er mit dem roten Lack auf seiner Haut und seiner Kleidung aber auch wieder völlig lächerlich.

    „Ich denke nicht, denn es gab dort keine direkte und tödliche Falle. Ich hätte bestimmt noch einen guten Tag lang überleben können bevor ich elendig erstickt wäre, falls dieser Moment überhaupt gekommen wäre. Ich denke nicht, dass unsere Zielperson ein solches Risiko eingegangen wäre.“, widersprach der Polizist seiner Geliebten.

    „Wenn es das nicht ist, was soll uns dann jetzt passieren? Die vermeintliche Tatzeit ist bereits seit einigen Minuten verstrichen und wir sind alle offenkundig noch mehr oder weniger am Leben.“, bemerkte Gwang-jo Park in einem Anflug von Besserwisserei und seinem typischen sarkastischen Spott. Thomas sinnierte über die Behauptung. Hatte er sich möglicherweise verkalkuliert mit der neuen Todeszeit?

    Thomas blickte in die stark dezimierte Runde und stellte fest, dass zwei Schlossbewohner sich derzeit nicht in der Eingangshalle befanden. Sofort war Thomas alarmiert und aus seiner Lethargie gerissen. Energisch sprang er von der Anhöhe herunter, kam dabei direkt neben dem hinkenden Abdullah auf, der von seiner Gattin gestützt und in Richtung der Treppe begleitet wurde. Sein Gegenspieler warf ihm einen bitterbösen Blick zu, doch dieser machte dem Polizisten nicht annähernd so viel Angst wie die leise Drohung seiner Gattin, die sehr aufgewühlt geklangen hatte.

    „Ich bemerke, dass zwei Leute nicht anwesend sind.“, teilte Thomas kritisch mit.

    „Wieso zwei? Nur Björn Ansgar Lykström liegt auf einer Couch in der Bibliothek, er ist völlig fertig mit den Nerven und braucht seine Ruhe. Wir waren eben wieder bei ihm, während du deine Untersuchungen gemacht hast.“, bemerkte Elaine Maria da Silva und Thomas sah in ihren Augen wieder ein wildes und provokantes Funkeln, als sie den letzten Nebensatz entsprechend giftig betonte und auf das Fehlverhalten ihres Geliebten anspielte.

    Thomas traf dieser Seitenhieb wie ein Stich ins Herz, doch er war inzwischen wieder so voller Tatendrang, dass ihn dieser kurze Einwand nicht mehr einschüchtern konnte. Er war gedanklich bereits wieder einen Schritt weiter gegangen. Eifrig gestikulierte er mit seinen Armen und sah die restlichen Anwesenden triumphierend an.

    „Falsch gedacht. Eine Person fehlt noch. Sie hält um diese Uhrzeit immer einen Mittagsschlaf und auch der Täter wird gewusst haben, um wen es sich dabei handelt.“, begann Thomas und sah wie es im Gesicht seiner Geliebten zuckte, als ihr ebenfalls die aufklärende Eingebung kam. Überrascht schlug sie die Hände vor ihrem hübschen Gesicht zusammen und riss ihre Augen auf. Thomas bewunderte dabei erneut ihre grazilen und langen Finger, die ihn vor nicht allzu langer Zeit noch so zärtlich berührt hatten. Plötzlich hatte der Schotte wieder eine quälende Sehnsucht nach ihrer Nähe, die für ihn wohl im Moment das allerbeste Heilmittel wäre.

    „Mein Gott, du hast ja völlig recht. Wie konnte ich ihn vergessen?“, fragte die kecke Brasilianerin sich selbst, doch bei Gwang-jo, der direkt daneben stand, war der Groschen noch nicht gefallen.

    „Zur Hölle, von wem redet ihr?“, fragte er ungeduldig und jähzornig und die Brasilianerin nahm ihre Hände vom Gesicht, um sich langsam zu dem Koreaner zu wenden, der sie eindringlich ansah. Seine Stirnfalten waren vor Ärger und Erregung verzogen, seine buschigen Augenbrauen zusammengekniffen.

    „Er meint den Koch!“, brachte Elaine Maria da Silva endlich hervor und überraschte mit dieser simplen Feststellung ihr Gegenüber ungemein.

    Es schien, als sei mit dieser Antwort ein Schalter in dem Koreaner umgelegt worden, denn plötzlich wandte er sich blitzschnell um und hechtete die Treppen hinauf in Richtung der Balustrade. Thomas blickte ihm verwundert hinterher und tauschte einen Seitenblick mit der Brasilianerin, die ihm aufmunternd zunickte. Erst danach gab auch er sich einen Ruck und sprintete dem übermütigen Koreaner hinterher. Beim Treppenaufgang kam er dicht an Abdullah und Marilou vorbei, die weniger aufgeregt wirkten und ihm frostige Blicke zuwarfen. Die Kanadierin massierte den lädierten Ellenbogen ihres Gatten, der sich inzwischen von seinem vornehmen Anzug und sogar von seinem blütenweißen Hemd befreit hatte und nun ohne Scham seinen durchtrainierten Oberkörper präsentierte.

    Thomas achtete nicht weiter darauf und sah zu, dass er den Anschluss an Gwang-jo nicht verlor. Er nahm mehrere Stufen auf einmal und hatte die Balustrade schnell erreicht, obwohl er noch nach dem Sturz in den Brunnen immer noch ein Stechen in der Schulter verspürte. Jetzt war auch der Koreaner wieder in seinem Blickfeld, der weiter hinten im Gang bereits rutschend vor der Tür des Zimmers stehen blieb, in dem der verschrobene Butler immer seinen Mittagsschlaf hielt.

    Energisch klopfte Gwang-jo gegen die nicht allzu robuste Holztür, die unter der Wucht seiner Schläge bedrohlich wackelte. Mit der geballten Faust hämmerte er unbeherrscht dagegen und erinnerte Thomas unwillkürlich wieder an den Moment, als der Koreaner auf den toten Fatmir gestoßen und unberechenbar geworden war. Der Koreaner stand wieder kurz vor einem erneuten Ausraster.

    Jeder normale Mensch wäre von solch einem Lärm eigentlich aus dem Schlaf gerissen worden, nicht so der Koch.

    Der Koreaner verharrte, hielt dann schwer atmend seinen Kopf schräg gegen die Tür, in der Hoffnung irgendein Geräusch jenseits der Porte zu hören. In diesem Moment stieß Thomas zu ihm.

    Der Schotte war von der ungewöhnlichen Besorgnis des Koreaners um seine Mitmenschen sehr erstaunt. Gwang-jo wirkte grimmig und trotz seiner Hektik entschlossen irgendwie in den offensichtlich versperrten Raum zu gelangen. Thomas schloss aus diesem Verhalten erfahrungsgemäß, dass es dem Koreaner weniger darum ging das Leben der anderen Anwesenden zu retten oder ihnen entscheidend zu helfen, sondern wohl eher primär darum den Mörder selbst auszuschalten, um sich zu schützen. Vielleicht war er nach seinen vielen ungerechtfertigten Anschuldigungen und dem letzten Eklat auch aufgewacht und hatte erkannt, dass er sich nun kooperationsbereiter zeigen musste und neue Wege einschlagen sollte, um die wahre Identität des Mörders aufzudecken. Trotz dieser plausiblen Erklärung glaubte Thomas, dass es an der Sache irgendeinen Haken geben musste. Gwang-jo war einfach kein Typ, der eigene Fehler einsah oder seine Verhaltensweisen in irgendeiner Form ändern würde. Die Motivation des Koreaners schien vielleicht doch irgendwo anders begründet zu liegen. Er wirkte nervös, überaus hektisch und steigerte sich in eine Rage der Verzweiflung hinein, als er nun schreiend gegen die Holztür klopfte und gleichzeitig wuchtig in den unteren Bereich der Tür trat. Der Koreaner wirkte wie von Sinnen und Thomas sah voller Überraschung außer unbändiger Wut noch etwas Anderes in den Augen des Koreaners glitzern. Täuschte er sich oder vergoss der sonst so harte Mann in diesen Momenten die eine oder andere Träne? Woher rührte seine Trauer oder Verzweiflung? Sie hatte sicherlich nichts mit dem möglichen Tod eines alten Kochs zu tun, den sie alle kaum kannten.

    In diesem Moment wandte sich Gwang-jo zu Thomas um, blickte den Schotten mit geröteten Augen an und senkte dann den Kopf. Seine Aggressivität war der Resignation gewichen und der ungewöhnliche Mann zitterte am ganzen Leib. Schwer atmend beugte er sich nach vorne, warf Thomas aus den Augenwinkeln jedoch einen furchtsamen Blick zu. Es hatte fast den Anschein, als ob der Koreaner kurz davor stünde, seinem schottischen Erzrivalen etwas mitteilen zu wollen. Thomas bemerkte mit Unbehagen, dass diese Situation schon fast an das Verhalten seines verstorbenen Kollegen erinnerte. Scheinbar schienen viele Gäste über Dinge Bescheid zu wissen, die der Schotte nicht einmal erahnte. Eine düstere Stimme redete ihm keifend ein, dass er der einzige Unwissende war und man sich ein teuflisches Komplott gegen ihn erarbeitet hatte. Mühsam verdrängte Thomas diese Eingebung. Vielleicht war der Koreaner auch mittlerweile fertig mit den Nerven und konnte all die Frustrationen nun nicht mehr in seinen Agressionen und Anschuldigungen ausdrücken, sondern nur noch in einer erschöpften Resignation. Die Fassade des brutalen Asiaten schien mehr und mehr zu bröckeln. Oder spielte er dem Schotten nur etwas vor? Welches war das wahre Gesicht des seltsamen Koreaners?

    In diesem Moment traten auch die restlichen Gäste in den Gang. Abdullah humpelte grimmig voran, wurde dabei von Marilou gestützt, die eine noch bösere Miene aufgesetzt hatte und die beiden Männer vor sich durchdringend fixierte. Hinter ihnen gingen dann noch Elaine Maria da Silva und sogar Björn Ansgar Lykström, der ziemlich bleich wirkte und von der Brasilianerin sogar gestützt werden musste. Sie redete ihm leise, aber beschwichtigend zu und führte ihn wie ein kleines Kind Schritt um Schritt vorwärts. Der Schwede wirkte völlig willenlos und geistesabwesend. Thomas empfand jedoch so etwas Ähnliches wie Stolz für seine brasilianische Geliebte, die an den Schweden gedacht hatte und ihn nicht ungeschützt und unbeaufsichtigt in der Bibliothek gelassen hatte. Dieses kleine Zeichen gab Thomas die Hoffnung, dass die Solidarität unter den wenigen Überlebenden zumindest noch in Ansätzen vorhanden war. Zumindest dann, wenn es unmittelbar um Leben und Tod ging.

    „Was ist los? Wo ist jetzt dieser Koch?“, fragte Abdullah Gadua ungehalten und wirkte grimmiger als jemals zuvor.

    Thomas erkannte den sonst so humorvollen und streng gläubigen Mann kaum mehr wieder. Es war offensichtlich, dass die Konfrontation mit den schrecklichen Taten und die Situation seiner Frau ihn völlig verändert hatten. Er klammerte sich in diesen Zeiten verzweifelt an seiner Frau fest, versuchte sie um jeden Preis zu schützen und zu verteidigen, wie er zuvor erst gezeigt hatte. Thomas konnte den Mann verstehen, auch er selbst hatte sich an seine frisch entfachte Liebe zu Elaine Maria da Silva klammern wollen, doch wer von ihnen beiden konnte dies wirklich mit Überzeugung tun, solange sie nicht wussten, wer unter ihnen hinter all diesen Taten steckte? War es noch zu verantworten sich an den Strohhalm der Emotionen zu klammern oder sollten sie besser allesamt allein kämpfen und alle anderen Dinge ausblenden? War dies denn überhaupt möglich oder war Thomas das Opfer einer generellen menschlichen Verhaltensweise, an der er ohnehin wenig ändern konnte?

    Thomas fühle sich zermürbt, denn er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. In diesem kurzen Moment der Nachdenklichkeit ergriff sein koreanischer Begleiter das Wort.

    „Wir wissen es nicht. Er wird in seinem Zimmer stecken, wir haben nichts getan, wir haben nichts gesehen, wirklich nicht.“, stammelte er und wurde von allen Seiten nur stirnrunzelnd mit fragenden Blicken bedacht. Man konnte die Nervosität des Koreaners förmlich fühlen.

    „Dann brecht diese Tür auf. Vielleicht ist es noch nicht zu spät! Wer weiß, vielleicht ist er noch am Leben. Los, wir haben keine Zeit zu verlieren!“, herrschte Abdullah den Koreaner an, der dieses Mal auf eine hämische Entgegnung verzichtete und stattdessen zustimmend nickte und einige Schritte von der Zimmertür zurücktrat, sich dann rasch umwandte und sie eingehend fixierte.

    Die hektische Bewegung riss Thomas aus seinen Gedanken. Er ahnte bereits, was der Koreaner vorhatte und dieser setzte seine Idee auch sofort in die Tat um. Gwang-jo Park nahm kurz  Anlauf, beschleunigte seine Schritte und sprang seitlich vom Boden ab, um sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Holztür zu werfen. Krachend fiel er dagegen und die Tür erzitterte, bog sich leicht nach innen durch, doch sie gab nicht nach.

    Ächzend sank Gwang-jo am Rahmen in die Tiefe und rieb sich eifrig und mit verzerrtem Gesicht seinen schmerzenden Arm, bevor er sich stöhnend aufrichtete und grimmig Platz verschuf, um einen erneuten Versuch zu starten. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann wollte er es auch bedingungslos umsetzen. Thomas sandte ein Stoßgebet gen Himmel und hoffte, dass die stoische Ignoranz des unsympathischen Zeitgenossen ihnen wenigstens dieses eine Mal zu Gute kommen könnte. Der Koreaner schien inzwischen zwischen Resignation und brutaler Verzweiflung zu pendeln.

    Gwang-jo atmete tief durch, ballte die Hände zu Fäusten, nahm zwei weite Schritte Anlauf und setzte dann zu einem hohen Sprung an, in dessen Verlauf er seine Vorderbeine hochriss und seinen Oberkörper nach vorne beugte, um eine bessere Aerodynamik zu bekommen. Die Kampfsportarten, mit denen er sich auch aufgrund seiner eigenen Herkunft während seiner Jugend beschäftigt hatte, wenngleich er alles Andere als ein Meister dieser Arten geworden war, kamen ihm nun zu Gute. Mit beiden Beinen zuerst traf er die Holztür in Höhe des Schlosses und hörte ein saftiges Knacken.

    Noch während Gwang-jo nach dem Tritt das Gleichgewicht verlor und sich instinktiv zusammenkauerte und auf dem Teppichboden abrollte, war die Tür wuchtig aufgesprungen und gegen die Innenwand des Zimmers geprallt, von dort aus wieder zurück, sodass die Tür wieder fast zugeschlagen war und einen eingehenderen Blick auf die Räumlichkeiten des Kochs den neugierigen Anwesenden zunächst nicht gewährte.

    Gwang-jo Park ignorierte den Schmerz des Aufpralls und war die erste Person, die sofort wieder aufgesprungen war und eilig die Tür aufgestoßen hatte. Der Koreaner wirkte sehr entschlossen und auch schweigsam, was man von ihm gar nicht gewohnt war. Stattdessen schien nun Abdullah die Rolle des Koreaners eingenommen zu haben und kommentierte mit bitterem Unterton die Geschehnisse.

    „Sehr gut, Gwang-jo, das wurde aber auch Zeit. Schön zu sehen, dass du nicht nur dumme Reden schwingen kannst, sondern von Zeit zu Zeit sogar deinen Arsch hochkriegst und dich nützlich machst.“, meckerte Abdullah, was Thomas mit einem grimmigen Seitenblick quittierte.

    Dabei begegnete er fast automatisch wieder dem stechenden und kalten Blick von Marilou Gauthier, die den Arm ihres Mannes hielt und den Katarer nun auf eine fast überhebliche Weise in Richtung der offenen Tür drückte, als ob er in ihren Händen nur eine hilflose Puppe wäre.

    „Gwang-jo, du solltest aufpassen. Wer weiß schon, was der Mörder sich alles ausgedacht haben könnte. Das Zimmer könnte mit weiteren Fallen präpariert sein, du kannst nicht so sorgenfrei hineinspazieren.“, forderte Thomas den Koreaner mahnend auf, doch dieser war bereits aus seinem Blickfeld entschwunden. 

    In dem diffusen Licht, das von irgendwo durch die Fenster in den Raum des Butlers gelangte, sah er jedoch noch schemenhaft die Schatten des Koreaners, die völlig erstarrt und reglos wirkte. Zudem zeigte Gwang-jo keinerlei sichtliche Reaktionen auf die Kommentare, was Thomas  wieder stutzig machte.

    Entschlossen drückte er Abdullah zur Seite, was dieser mit offenem Mund und bitterböser Miene quittierte, drückte die Tür auf und fand Gwang-jo wie erstarrt vor dem Bett in dem spartanisch eingerichteten, altmodischen Raum. Der Koreaner schüttelte atemlos den Kopf und nahm das Eintreten des Schotten gar nicht bewusst wahr.

    Erst als Thomas noch ein paar Schritte herankommen konnte, erkannte er, was Gwang-jo so erschreckt zu haben schien.

    Auf dem kleinen Bett aus Holzgestell lag tatsächlich der alte Koch, der seinen Mittagsschlaf hatte halten wollen. Doch dieser hatte für ihn ein Ende in einem ewigen Schlaf gefunden.

    Der Mund des alten Mannes stand vor Überraschung weit offen, die Augen waren ebenfalls weit aufgerissen und spiegelten noch das Erstaunen und die Angst kurz vor seinem Tod wieder. Er schien seinen Mörder also durchaus erkannt zu haben.

    Zwei weitere Dinge fielen Thomas sofort an dem Toten auf. Zum Einen lag eines seiner Taschentücher ausgebreitet auf seinem Bauch. Es war ein älteres, besticktes Stofftuch, auf welches jemand zwei Namen, zwei verschlungene Eheringe und ein Datum gestickt hatte. Der vermeintliche Täter hatte die erste Zahl des Datums mit einem schwarzen Filzstift überdeutlich eingekreist.

    Irgendwie wirkte diese Methode zur offensichtlichen Andeutung auf die nächste Todesuhrzeit für den Mörder auf Thomas eigentlich viel zu simpel. Die aufgerissenen Augen und Ohren, das hektisch markierte Stofftaschentuch, all diese Dinge wirkten irgendwie viel zu unprofessionell und hektisch für einen Mörder, der bislang immer detailliert vorgegangen war. Daher konnte Thomas nur zwei mögliche Schlussfolgerungen ziehen. Entweder hatte der Täter, nachdem er Thomas in dem Schacht zu den Generatoren und Pumpanlagen des Brunnens eingesperrt hatte, unter Zeitdruck die Tat vollbracht, um sich vor den anderen Anwesenden durch seine längere Abwesenheit nicht verdächtig zu machen oder aber der Mörder war von irgendetwas oder irgendjemandem überrascht worden.

    Konnte es sich dabei um Gwang-jo handeln und reagierte er deshalb so seltsam zittrig? Thomas konnte mal wieder nur spekulieren. Trotz seines Fehlers hatte der Täter hier am Tatort scheinbar keine offensichtlichen Hinweise zurückgelassen.

    Dafür bemerkte der schottische Polizist allerdings, dass das Opfer ihnen im Moment seines Todes noch etwas mit auf dem Weg geben wollte. Thomas hatte eher zufällig die leicht verknoteten Hände des Toten bemerkt. Dieser hatte seine rechte Hand kreisrund geballt und den Zeigefinger der anderen Hand tief in diese stilisierte Öffnung hineingesteckt, sodass dieser Hinweis eher an eine obszöne Geste für den Geschlechtsverkehr erinnerte. Eine andere Bedeutung konnte Thomas hieraus auch nicht ermessen.

    Es wunderte ihn jedoch ungemein, dass ein so alter und konservativer Mann mit seinem letzten Atemzug so ein tabubehaftetes Zeichen gemacht hatte. Was wollte er damit wohl sagen? War seine Geste, die vom Täter selbst wohl nicht bemerkt worden war, vielleicht der Schlüssel zur Lösung?

    Thomas schreckte hoch, als er neben sich plötzlich die leise und kratzige Stimme des schwedischen Englischlehrers hörte, der sich kraftlos an eine Zimmerwand gelegt hatte und eingehend das Taschentuch fixierte.

    „Der Mann hätte am achtzehnten November vor über vierzig Jahren geheiratet.“, bemerkte Gwang-jo mit tonloser Stimme.

    „Die erste Zahl ist eingekreist. Der Nächste von uns wird also um 18 Uhr draufgehen. Noch nie war das Rätsel mit den Uhrzeiten so einfach und doch so niederschmetternd.“, kommentierte Thomas in einer Mischung aus Wut und Sarkasmus und hatte damit allerdings den Nagel auf den Kopf getroffen.

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    Kapitel 96: Samstag, 15 Uhr 01 Springbrunnen

     

    Fluchend nahm der schottische Polizist mehrere Sprossen auf der Leiter und hatte bald schon die Klappe erreicht. Energisch drückte er mit seinem rechten Arm gegen die Luke, doch diese gab keinen Zentimeter weit nach. Wütend nahm er nun auch seine zweite Hand zur Hilfe und drückte sich mit verzerrtem Gesicht und zusammengepressten Lippen gegen das Hindernis. Dabei geriet er fast noch aus dem Gleichgewicht und wäre um ein Haar von der Leiter abgerutscht und musste plötzlich nachgreifen. Mit beiden Beinen baumelte er über dem Abgrund und zog sich ächzend wieder an die Leiter heran.

    Mit pochendem Herzen schlug er gegen die Klappe, in der Hoffnung, dass ihn irgendwer hören würde. Die Luke wirkte jedoch recht solide und Thomas hatte de Befürchtung, dass auch die Geräusche fast perfekt isoliert waren. Sein Hämmern und Schreien war vermutlich nur dumpf auf der anderen Seite zu hören und die wenigen Geräusche, die bis auf die andere Seite dringen würden, wären dann in der Regel noch von dem plätschernden Brunnen verschluckt worden. Thomas hoffte, dass er durch das Ausschalten des Brunnens jetzt vielleicht doch eine größere Chance hätte gehört zu werden.

    Wann würden die restlichen Gäste nach ihm suchen? In fünf Minuten? In einer halben Stunde? Oder war ihnen möglicherweise auch etwas zugestoßen? Hatte der Mörder vielleicht in einer Art Kurzschlussreaktion die restlichen Anwesenden in seine Gewalt gebracht und hielt diese nun in Schach, um Thomas elendig in diesem Schacht verdursten oder verhungern zu lassen? Hatte der Mörder nun eine blutrünstige Initiative ergreifen müssen, seitdem er wusste, dass sein Kutter entdeckt worden war.

    Ernüchtert hämmerte Thomas gegen die Luke, gab jedoch nach ein paar Minuten auf, kletterte wieder in die Tiefe und setzte sich in eine dunkle und feuchte Ecke des kurzen Ganges. Das elektrische Licht flackerte düster und verbreitete eine unruhige und künstliche Atmosphäre. Thomas machte es sich in einem Schneidersitz bequem, atmete tief durch und versuchte eine gewisse innere Ruhe zu finden, wie er es beim Meditieren im Kloster gelernt hatte. Er versuchte seine düstere Außenwelt komplett auszuschalten und sich zu isolieren. Obwohl dieser konzentrierte Akt viel Kraft kostete, schöpfte Thomas aus diesem Prozess neue Kräfte. Seine hektischen Gedanken wurden geordneter, sein Puls beruhigte sich ebenfalls und er schloss die Augen. Er schaffte es die höhnischen und besserwisserischen Stimmen komplett zu verdrängen und befand sich ganz in seiner Mitte.

    Nach einiger Zeit kam ihm wieder der Aufkleber des Kanisters in den Sinn. Er sah den Namen des Herkunftsortes noch klar vor sich. Wie in einem schnellen Film durchstreifte er sein Gedächtnis nach Erinnerungen an schottische Städte und ließ danach die letzten Tage auf diesem Schloss einschließlich seiner Ankunft noch einmal Revue passieren. Die Erleuchtung kam so unvermittelt und klar, dass Thomas aus seiner meditativen Ruhe gerissen wurde und die Augen weit aufriss.

    Bridetown war der Name des Küstendorfes gewesen, wo sie mit der Yacht auf die Insel übergesetzt waren. Das konnte nur bedeuten, dass der Täter bereits im Voraus die Gegend erkundet und alle Maßnahmen vor Ort getroffen hatte, wie es Thomas auch insgeheim nach dem Fund des Kutters vermutet hatte. Vielleicht war die Person aber auch mit dem Fischkutter nachts heimlich zur Küste gefahren, um sich ständig Nachschub zu holen, ohne dass die anwesenden Gäste dies bemerkt hätten. Jedenfalls war der Fund des Kanisters auch eine Erleichterung für Thomas, dem langsam klar wurde, dass er kein übermächtiges Wesen zum Gegner hatte, das kurzfristig perfekte Mordszenarien inszenierte, sondern einen Menschen aus Fleisch und Blut, der alle Taten weit im Voraus geplant und festgelegt hatte. Thomas hoffte inständig, dass man den Täter bald mit einem Ereignis überraschen könnte, was dieser überhaupt nicht vorgesehen hatte, um ihn zu Fehlern zu zwingen und mit einer ihm völlig neuen Situation zu konfrontieren.

    Wenn einer von ihnen jemals von dieser Insel entkommen könnte, dann war sich Thomas sicher, dass man den Täter im Dorf zweifellos identifizieren würde. Auch dieser Gedanke gab ihm neuen Mut und animierte seinen Überlebenswillen.

    Er startete einen erneuten Versuch, kletterte die Leiter hinauf und schlug mit allen Kräften gegen die verriegelte Klappe. Außer dem Resultat, dass seine Hände nach einer Zeit rau wurden und anfingen zu schmerzen, konnte er jedoch kein Ergebnis erzielen. Resigniert blieb er auf der Leiter stehen und dachte nun auch wieder intensiver über die Baskenmütze nach, die er inzwischen aus seiner Hemdtasche gekramt hatte. Thomas vermochte nicht einmal zu sagen, ob diese Mütze in diesem Fall eher für einen Mann oder für eine Frau bestimmt war. Thomas klammerte sich aber verbissen an den Gedanken, dass irgendeine andere Person unter den Gästen die Mütze klar identifizieren könnte. Er spürte voller Erregung, dass er des Rätsels Lösung etappenweise näher kam. Vielleicht würde es endlich zum großen Finale kommen, wenn man ihn denn aus seinem stickigen Gefängnis befreien würde.

    Wieder schlug der schottische Polizist intervallweise gegen die Luke. Er hatte zwar keine wirkliche Klaustrophobie, dennoch fühlte er sich immer bedrückter und hatte den Eindruck, dass die Wände immer näher kamen und ihm immer mehr Raum und Luft stehlen würden. Das monotone Wummern des Stromaggregators aus der Tiefe trug den Rest zu der unangenehmen Atmosphäre bei.

    Unruhig warf Thomas einen Blick auf seine Armbanduhr, deren Ziffernblätter auch im Dunkeln leuchteten. Seine Uhr verfügte sogar über einen kleinen Kompass, eine integrierte Stoppuhr und einen Herzfrequenzmesser und war eine teure Spezialanfertigung gewesen. Die Ziffernblätter bewegten sich nur schleppend langsam, Sekunden kamen Thomas wie Minuten und Minuten mitunter wie Stunden vor. Die Zeit schien sich gegen ihn verschworen zu haben. In jedem Moment, den er jetzt verpasste, könnte wieder etwas Schreckliches geschehen sein. Die Situation könnte wieder eskaliert sein, es hätte schon den nächsten Toten geben können. Es war vor allem die Unwissenheit, die an dem jungen Schotten nagte und die Tatsache, dass er völlig hilflos war und nicht eingreifen konnte.

    Ein erneuter Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass seit der zugeschnappten Falle bereits eine gute halbe Stunde vergangen war. Voller Verzweiflung hämmerte der junge Schotte wieder gegen die Luke, schrie so laut, dass es in seinen eigenen Ohren fast schon wehtat. Die Haut an seinen Händen riss leicht auf, ein träger Blutstropfen quoll über sein Handgelenk und wurde erst vom Ärmel seines Hemdes aufgesogen. All dies bemerkte der Schotte gar nicht mehr, wie ein Besessener schlug er gegen die Luke und stumpfte dabei immer mehr ab. Seine Stimme wurde heiser, seine Hände, seine Schultern, seine Muskeln fingen an zu schmerzen, doch er schlug mechanisch weiter. Wüste Stimmen ertönten wieder um ihn herum, animierten ihn zu frustrierter und bedingungsloser Gewalt, spornten ihn an und führten ihn doch in die Irre. Thomas war in einer abstrakten Monotonie gefangen. Thomas fühlte sich eingeengt und hatte mehr und mehr Schwierigkeiten zu atmen. Die stickige Luft, seine unkontrollierten Gedankengänge und die Isolation nagten an seiner Geduld. Fühlte sich so eine beginnende Klaustrophobie an?

    Thomas schloss die Augen und der Angstschweiß lief in strömen über sein Gesicht. Ihm wurde leicht schwindlig, doch wollte er auf keinen Fall die Leiter wieder hinuntersteigen und in der dunklen Tiefe gefangen sein. Wie ein schwarzer Schlund ins Verderben lag der Schacht unter ihm. Der lärmende Mechanismus des Brunnens war auch abgeschaltet worden, sodass unter ihm nur eine eisige Stille war. Thomas dachte bei sich, dass der Weg nach oben der Weg zurück ins Leben war, während der Weg nach unten das Tor zum Jenseits oder gar in die Hölle war. Irgendjemand musste die Luke für ihn öffnen, ihn befreien, denn aus eigener Kraft konnte er nichts mehr ausrichten. Angespannt und schwer atmend verharrte er steif an die Leiter geklammert direkt unter der Luke und betete, dass irgendjemand sich ihm erbarmte und an ihn dachte, der so sehr and die Anderen gedacht hatte.

    Irgendwann, als er selbst nicht mehr daran glaubte, dass ihn irgendjemand hören würde, vernahm er plötzlich ein leises Klicken und die Luke schwang völlig unvermittelt vor seinen Augen auf.

    Thomas schlug plötzlich ins Leere und hielt völlig verdutzt in seiner Bewegung inne. Das diffuse Licht der Eingangshalle blendete ihn nach der Dunkelheit unter dem Springbrunnen geradezu. Er musste einige Mal blinzeln, wurde dann an den Armen gepackt und aus dem Schacht gezogen. Erschöpft sank er in sich zusammen, bereitete seine Arme weit aus und blickte auf Marilou Gauthier, die ihn besorgt ansah und sich dann nach der Luke bückte, um diese kräftig zuzuschlagen. Erst mit diesem Geräusch war der Alptraum für den Schotten beendet, der zitternd und schweißgebadet auf dem Boden lag. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er noch Abdullah Gadua, der über den konvulsivisch zuckenden Körper des Schotten hinwegstieg und einige flüsternde Worte mit seiner Gattin wechselte. Diese trat dann behutsam auf Thomas zu, der Mühe hatte seine Blicke auf die Kanadierin zu fixieren. Er beruhigte sich nur allmählich, denn das kalte und harte Gesicht von Marilou riss ihn wieder zurück in die Wirklichkeit. Ächzend schloss der ehemalige Mönch die Augen und hörte die Frage der Kanadierin wie durch dichte Watte.

    „Bist du in Ordnung? Hörst du mich oder kannst du mich sehen?“, fragte die Kanadierin hart und Thomas hob bestätigend seinen schlaffen linken Arm.

    „Du kannst von Glück reden, dass ich zufällig hier vorbeigekommen bin und das Schlagen gehört habe. Ich habe sofort die anderen Gäste verständigt. Ich nehme an, dass die Luke zufällig hinter dir zugefallen ist und du dich versehentlich selbst eingeschlossen hast, nicht wahr?“, wollte Marilou wissen.

    Thomas schüttelte ächzend seinen Kopf und fühlte sich wie ein durchnässter Pudel, als sein Schweiß aus Strömen von seinen Haaren in seine Gesicht tropfte und die Spitzen seiner Strähnen ihn hart wie leichte Peitschenhiebe streiften. Er brauchte einige Augenblicke, bevor er mit geschlossenen Augen eine klare, aber leise gesprochene Antwort gab.

    „Nein, so war es nicht. Ich habe jemanden gesehen, der die Luke bewusst geschlossen hat.“, erläuterte Thomas ächzend.

    Für einige Sekunden herrschte ein ehrfurchtsvolles Schweigen und Thomas öffnete zögerlich die Augen und blickte in die düsteren Augen einer hart und misstrauisch blickenden Marilou. Thomas bekam ein unangenehmes Schaudern, als er ihren analytischen Blick auf sich spürte. Er fühlte sich, als ob er nackt und ungeschützt wäre. Die Kanadierin hatte auf ihn eine unglaublich negative Ausstrahlung.

    „Tatschlich? Wen hast du denn gesehen? Wer sollte so etwas überhaupt tun?“, wollte Marilou schließlich wissen und Thomas merkte, dass sie dabei sehr angespannt wirkte.

    Hatte die mysteriöse Frau etwas zu verbergen? Er wollte jetzt aufs Ganze gehen und eine Provokation mit Hilfe einer kleinen Lüge wagen. Mit einem Mal war seine Unsicherheit und Benommenheit wie durch einen Zauber wieder verschwunden.

    „Du weißt doch genau, wen ich gesehen haben muss, schöne Marilou. Du selbst hast das getan.“, sagte Thomas klar und deutlich, sodass auch der völlig überraschte Abdullah seine Worte hörte, der sich aufbrausend zu ihm wandte und seine Frau grob beiseite drängte.

    „Wie kannst du so etwas nur behaupten? Ständig werden haltlose Anschuldigungen geäußert, die sich durch nichts beweisen lassen.“, regte sich der Mann mit dem Turban auf und verzerrte sein Gesicht zu einer entrüsteten Grimasse, während er wild mit dem mahnenden Zeigefinger vor dem Gesicht des schottischen Polizisten herumfuchtelte, der sich langsam aufrichtete und auf wacklige Beine stellte.

    Dabei warf er auch einen Blick auf die Kanadierin, die plötzlich wieder sehr lauernd und defensiv wirkte. Dieses ausweichende Verhalten wollte Thomas nicht durchgehen lassen und setzte sofort nach, ohne sich von Abdullah irgendwie einschüchtern zu lassen. Er ignorierte ihn einfach, was diesen natürlich auf die Palme brachte.

    „Marilou, du kannst es nicht leugnen. Nimm endlich Stellung. Du kannst sicher auch Klartext reden, ohne dass dein Mann sich in den Vordergrund drängt. Sprich endlich die Wahrheit und lass deine Maske fallen!“, forderte der Schotte sie auf und sah ein bedrohliches Blitzen in den Augen der Kanadierin, die ihren Kopf leicht schräg legte und ihre Augenbrauen zusammenkniff.

    „Du lügst, du selbst solltest deine Maske fallen lassen und aufhören den großspurigen Helden und Boss zu markieren. Ich habe dich eben gerettet und du wirfst mir nun solch eine unerhörte Behauptung an den Kopf. Ich habe diese Klappe definitiv nicht zugeschlagen! Vermutlich steckst du selbst dahinter. Es ist schon seltsam: Kaum bist du für einige Minuten aus dem Spiel, da geschiehen plötzlich keine Morde mehr und es gab in der Zwischenzeit auch keinerlei Konflikte. Manchmal habe ich das Gefühl, dass du dich ganz bewusst in den Vordergrund drängst, um uns nach Belieben zu manipulieren. Vielleicht hast du dich einfach selbst eingeschlossen, um den Verdacht auf andere Leute zu lenken und das Unschuldslamm zu spielen. Darauf fallen wir aber nicht herein, Thomas, das ist vorbei!“, erwiderte die Kanadierin bestimmt und bewegte dabei wild gestikulierend, aber wohl unterbewusst, ihren linken Arm.

    Thomas bemerkte, dass die ganze Körperhaltung der Kanadierin gegen ihre eigenen Worte zu sprechen schien. Der Schotte hatte mal eine wissenschaftliche Sendung gesehen, in der es darum ging, aufzuklären, wie man erkennt, ob ein Mensch lügt oder nicht. Unterbewusste, heftige Gesten waren eines der Kriterien gewesen, ein leicht schräg gehaltener Kopf ein weiterer Aspekt. Aber waren diese Zeichen allein ein Beweis dafür, dass Thomas mit seiner eher zufällig gewagten These richtig lag? Im Fernsehen wurden solche Situationen immer leicht aufgeschlüsselt und plausibel erklärt, aber die Wirklichkeit sah vielleicht ganz anders aus. Thomas wollte eine klare Gewissheit haben und spürte, dass er auf einer heißen Fährte war. Er ließ sich auch von den laut gesprochenen und diffamierenden Worten der Kanadierin nicht beeindrucken, denn er war inzwischen schon viel zu sturköpfig in seine eigene Theorie vernarrt.

    „Ich bin mir absolut sicher. Du kannst mir nichts einreden. Ich merke an deiner ganzen Körpersprache, wie nervös du bist und dass du lügen musst. Glaube mir, ich habe lange genug als Polizist gearbeitet, um Falschaussagen von wahren Sachverhalten unterscheiden zu können.“, setzte der Schotte nach.

    Plötzlich griff Abdullah wieder ein, packte den Hemdkragen des Schotten und stieß sein Gegenüber grob ein Stück nach hinten, sodass Thomas fast kopfüber in den Brunnen gefallen wäre. Abdullah setzte nach und ergriff die Schultern des Polizisten und schüttelte diesen kräftig durch. Eine glühende Zornesröte war in sein Gesicht gestiegen, Speichel sprühte von seinen Lippen, als er seine Worte an den Schotten richtete.

    „Hör sofort auf meine Frau so fertig zu machen! Sie ist ohnehin schon völlig fertig mit den Nerven. Sie hat in ihrem Leben schon so viel hinnehmen müssen.“, argumentierte der Gatte der Beschuldigten irgendwo zwischen Engagement und Jähzorn.

    „Auch ich musste in meinem Leben viel durchmachen und das stellt mich auch nicht frei von jeglichen Zweifeln. Vielleicht hat sie so viel erleben müssen, dass sie sich nun rächen will, dass sie nun all diejenigen umbringen will, die ihr schreckliches Leid angetan haben. Sie hat die Schule damals gehasst!“, erwiderte Thomas zornig und schubste sein Gegenüber mit beiden Händen energisch von sich weg, sodass Abdullah nun seinerseits hilflos zurücktaumelte und gegen die Wand unterhalb der Balustrade prallte, wo auch seine Gattin stand.

    „Das ist doch kein Argument! Wir alle haben die Schule gehasst!“, schrie Abdullah ihm entgegen und ballte seine Hände zu Fäusten.

    „Sie musste doch besonders leiden. Sie hatte keine Freunde, wurde verlacht. Von ihrem Direktor wurde sie zu abartigen Sexspielen gezwungen, du selbst hast sie sogar betrogen und ihr Vertrauen missbraucht.“, begann Thomas und zerrte die Tatsachen ans Tageslicht, die zuvor öffentlich verschwiegen worden waren.

    Bevor der Schotte sich dessen bewusst wurde und ein schlechtes Gewissen haben konnte, sah er plötzlich Abdullah blind vor Wut auf sich zu rasen.

    Mit einem Schrei höchster Wut stürmte der Katarer mit hochgerissenen Armen auf den schottischen Ermittler zu, der nicht lange zögerte und die Gefahr nicht unterschätzen wollte. Er wich zwei Schritte zurück und beförderte sich mit einem Hechtsprung zur Seite in den blutroten Brunnen. Hart schlug er auf den harten Grund und prallte mit seiner linken Schulter gegen irgendeine Kante. Prustend biss er die Zähne zusammen, der stinkende Lack lief in mehreren Bahnen über sein Gesicht.

    Abdullah hatte es jedoch noch unangenehmer erwischt. Er hatte sich mit solch verbitterter Entschlossenheit auf den schottischen Ermittler gestürzt, dass er sich der möglichen Folgen eines Ausweichens oder einer Gegenattacke nicht wirklich mehr bewusst gewesen war. Mit voller Wucht hatte er sich auf Thomas gestürzt und war dabei taumelnd ins Leere gesprungen. Verblüfft wedelte er mit den Armen in der Luft und versuchte seine Bewegung noch abzubremsen, doch er war bereits viel zu schnell unterwegs.

    Abdullah Gadua kam auf dem nassen Untergrund auf, rutschte über die Kante und fiel mit einem überraschten Schrei seitwärts von der Erhöhung des Brunnens in die Tiefe. Er fiel dabei leicht schräg, sodass sein verzweifeltes Nachfassen ineffektiv war und er sich nirgendwo mehr festhalten konnte. Der Springbrunnen lag in einer Höhe von nicht einmal drei Metern, doch der Sturz auf den kalten und rauen Boden der Eingangshalle war dennoch sehr schmerzhaft.

    In der Luft hatte sich der wütende Angreifer noch zusammengerollt und somit die Wucht des Aufpralls vermindert, doch er fiel dennoch hart auf seinen linken Ellenbogen. Die restlichen Anwesenden, die den kurzen Kampf verwirrt verfolgt hatten, waren respektvoll von dem Brunnen zurückgetreten und machten auch keinerlei Anstalten Abdullah aufzuhelfen oder sich der Gefahrenzone zu nähern.

    Thomas rappelte sich vorsichtig auf und stieg stöhnend aus dem Brunnen. Der klebrige Lack hatte seine gesamte Kleidung durchweicht und er fühlte sich schlechter als je zuvor in seiner Haut. Er war nun persönlich angegriffen worden und hatte mehrere der Anwesenden gegen sich aufgebracht, obwohl er sooft an das Gemeinschaftsgefühl appelliert hatte. Er musste auch noch an die betroffene Reaktion seiner brasilianischen Geliebten denken. War er in den letzten Minuten vielleicht wirklich zu weit gegangen? Wie sollte er mit dieser Situation umgehen, in der sich plötzlich jeder gegen ihn zu wenden schien? Hatte er überhaupt noch die Kraft weiterhin Ermittlungen durchzuführen und sich als eine Art Sprecher und Anführer der Gruppe zu präsentieren? Sollte er nicht vielleicht etwas ganz Anderes wagen?

    Thomas warf einen Blick auf das Eingangsportal, unter dem pfeifend der Wind hindurchjagte. Mit einem Mal kam dem Schotten die Idee, dass der Sturm langsam abzuflauen schien und dass die schottische Küste zwar weit weg war, aber nicht unerreichbar fern schien. In seiner Schulzeit war Thomas ein motivierter Sportler gewesen und hatte auch über Jahre hinweg regelmäßigen privaten Schwimmunterricht genossen.

    Bevor er diesen Gedanken zu Ende bringen konnte, trat Marilou Gauthier still an ihn heran. Er spürte ihren heißen, flachen Atem in seinem Rücken und seine Nackenhaare richteten sich alarmierend auf. Dann spürte er für einen Moment die Lippen der Kanadierin ganz dicht an seinem Ohr. Ihre Worte waren leise, aber dafür umso bedrohlicher.

    „Du kennst mein Geheimnis. Du weißt über die Sache mit dem Direktor Bescheid. Ich wollte hierhin kommen, um die Sache zu vergessen, um die ehemaligen Schüler und Lehrer aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, um mir zu sagen, dass Leute sich verändern können und eine zweite Chance verdient haben. Aber ihr seid alle gleich geblieben und ihr seid sogar noch schlimmer als früher. Glaube mir, du wirst dafür bezahlen, dass du all diese negativen Erinnerungen mit deinen unerträglichen Äußerungen wieder in mir geweckt hast. Es ist so, als würde ich ein zweites Mal von dem widerlichen Direktor an ein Bett gefesselt und missbraucht werden. Mit dem einzigen Unterschied, dass du es bist, der mich jetzt missbraucht.“, flüsterte sie zischend und schritt dann eifrig auf den vorderen Vorsprung des Springbrunnens zu, wo sie in die Knie ging, um vorsichtig in die Tiefe zu springen.

    Der Blick des paralysierten Schotten fiel dabei auf die wilde Haarmähne der empörten Frau und auf ihren runden und perfekt geformten Hintern. Thomas stellte erstaunt fest, dass er in all den Jahren erst jetzt die schönen Züge der mysteriösen Dame wahrgenommen hatte. Unwillkürlich dachte er an Elaine Maria da Silva, die in der Eingangshalle stand und ihn mittlerweile eher besorgt als wütend ansah. Scheinbar hatte der schottische Polizist ein Faible für gefährliche Frauen. Thomas konnte sich trotz der bedrohlichen Situation ein Lächeln nicht verkneifen und die Brasilianerin erwiderte es nach einigem Zögern, da sie es fälschlicherweise direkt auf sich bezog.

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    Kapitel 95: Samstag, 14 Uhr 22 Eingangshalle

     

    Fast wie gebannt starrte Thomas auf den kunstvollen Springbrunnen aus hellem Marmor, der sich auf einem halbrunden Vorsprung zwischen den Treppenaufgängen zu beiden Seiten befand. Das Hauptaugenmerk des Beobachters war auf eine riesige Schlange gerichtet, die in der Mitte des Brunnens stand und die aus einem grauen Gestein gemeißelt worden war. Ihr monströses Maul war weit aufgerissen und in der Regel drang dann ein heller Wasserstrahl fontänenartig daraus hervor, um sich in dem umgebenden Becken zu verteilen und erneut innerhalb der Statue gepumpt zu werden.

    Dies war bis auf eine Kleinigkeit auch jetzt der Fall, aber dieses Detail war es, was allen Anwesenden den Atem hatte stocken lassen. Es herrschte eine gespenstische und gedrückte Stimmung in der frostigen Eingangshalle. Lediglich der Wind des langsam abflauenden Sturmes pfiff noch geräuschvoll unter den Spalten des Eingangstores in das majestätische Schloss. Thomas erinnerte das pfeifende und nervende Geräusch an das leidvolle Kreischen toter Seelen aus dem Jenseits. Er dachte an die kürzlich verstorbenen Menschen in diesem Schloss, die seine Jugend und seine Entwicklung allesamt indirekt mitgeprägt hatten. Waren sie zurückgekommen, um den restlichen Lebenden Warnungen zuzuflüstern oder waren es viel mehr Lockrufe, die auch die restliche Gruppe in das Reich des Todes bitten wollten? Thomas erschauderte bei dem Gedanken daran, dass die Seelen seiner ehemaligen Kameraden unbemerkt um ihn herumschwirrten. Mit einem Mal schien er ihre bohrenden Blicke zu spüren und bekam unvermittelt eine eisige Gänsehaut. Thomas sah plötzlich ungewollt grauenhafte Schemen vor senen inneren Augen, die ihn umgaben, umspielten und bedrohten und die Anwesenden hämisch auslachten. Krampfhaft schloss er die Augen. Solche Wahnvorstellungen hatte er noch nie zuvor erlebt und bekam plötzlich Angst vor sich selbst.

    Thomas versuchte seine abwegigen Gedankengänge loszuwerden, doch sofort setzte ein leicht dumpfes Gefühl des Kopfschmerzes in seinem Kopf ein. Seine Augen wollten trotz der ungeheuren Entdeckung zufallen und sein Körper schien langsam den ungeheuren psychischen und physischen Qualen und Entbehrungen der letzten Wochen Tribut zu zollen. Der junge Schotte wollte sich zusammenreißen und gab sich schaudernd einen Ruck, gähnte verhalten und war wie vor den Kopf geschlagen, als er erneut in aller Deutlichkeit die letzte Entdeckung vor sich sah. Immerhin lenkte ihn das aktuelle Geschehen, so makaber und geschmacklos es auch war, von den Stimmen und Geistern ab, die ihn eben noch umschwirrt hatten.

    Es herrschte immer noch eine drückende Grabesstille in der Eingangshalle, die eine gewisse Betroffenheit widerspiegelte.

    Thomas betrachtete wieder die dunkelrote, leicht zähe Flüssigkeit, die lasch aus dem Maul der Schlange troff und dieses auch dementsprechend mit der Farbe verschmierte. Thomas fragte sich mit einem Frösteln, ob es sich hier um echtes Blut handeln könnte und wo der potenzielle Serienkiller dieses gefunden haben könnte. Wie hatte dieser Psychopath es geschafft, die Flüssigkeiten unbemerkt zu ersetzen? 

    Verzweifelt zermarterte sich Thomas den Kopf, wann er den Brunnen zuletzt näher in Augenschein genommen hatte. Er war ihm eigentlich nur bei seiner Ankunft aufgefallen und er hatte sich das kleine Kunstwerk danach nie wieder eingehend angeschaut. Allerdings hätte er auch bemerken müssen, wenn sich die Farbe und Konsistenz der Flüssigkeit plötzlich verändert hätten. Thomas war sich fast sicher, dass er vor seinem letzten Betreten der Bibliothek noch keine solche Verunstaltung hatte beobachten können. Wann aber sollte der Mörder dann die Kraft und Zeit gehabt haben, diesen Springbrunnen unbemerkt zu präparieren?

    Thomas konnte sich auf die ganze Geschichte keinen Reim machen. Doch er wollte zumindest neue Gewissheiten haben und war die erste Person, die nun losschritt, behände den ersten halbkreisförmigen Vorsprung erklomm und sich dann am kräftigen Hals der Schlange, den er zufällig zu packen bekam, direkt neben den Springbrunnen hochzog und schnaufend dort verharrte.

    Mit einem missmutigen Gefühl blickte Thomas auf die zähflüssige rote Soße, mit welcher der Brunnen auch nur unzureichend gefüllt war, was auch ein weiterer Grund dafür war, dass die Fontäne weniger kräftig sprudelte, als noch in den letzten Tagen. Thomas schloss die Augen, sandte ein rasches Stoßgebet gen Himmel und tunkte dann seinen linken Zeigerfinger in die ominöse Flüssigkeit, die sich seltsam kühl und wie normales Wasser anfühlte und den jungen Polizisten arg stutzen ließ. Er hatte mit einer weitaus wärmeren Flüssigkeit gerechnet und ging nun davon aus, dass man hier nur Kunstblut oder einen roten Farbstoff verwendet hatte, um den restlichen Anwesenden einen weiteren Schrecken einzujagen und sie langsam in den Wahnsinn zu treiben. Der Killer wirkte völlig überlegen und sorgte provokativ für immer mehr Verwirrungen.

    Thomas wollte auf dieses abgekartete Spiel nicht eingehen und roch mit geschlossenen Augen an seiner Hand, die mit dem angeblichen Blut übergossen war. Er hatte in seiner Karriere als Polizist schon oft den süßlichen, unangenehmen Geruch von Blut wahrnehmen müssen, doch diesen bemerkte er jetzt nicht. Stattdessen drang ein anderer stechender Geruch in seine Nase, den er ebenfalls schnell zuordnen konnte. Es handelte sich hier eindeutig um Lack!

    Thomas nickte nachdenklich und wischte sich seine Hand gedankenverloren an seiner Hose ab, als sein Blick auf etwas Anderes fiel. An der hinteren linken Seite des Brunnens befand sich eine unscheinbare Klappe, die leicht offen stand und in die Tiefe zu führen schien. Normalerweise wäre sie Thomas gar nicht ins Auge gefallen, da sie genau dieselbe Farbe hatte, wie der restliche Boden aus Marmor, doch er hatte zufällig den schmalen Spalt entdeckt, da jemand den geheimen Weg nicht richtig verschlossen zu haben schien.

    Mit einem Mal fühlte sich Thomas wieder wie elektrisiert, die Müdigkeit schien wieder rasant aus seinem Körper zu weichen und er war wieder völlig auf der Höhe der Zeit. Erregt wandte er sich zum Rest der Gruppe, die abwartend und düster wirkend in einem Halbkreis versammelt um den Springbrunnen stand und zu Thomas hinaufblickte. Der emotionale Schotte erschauderte, als er aus der Gruppe fast nur feindliche und missmutig gesonnene Blicke entgegengebracht bekam. Er schluckte und atmete tief durch. Er fürchtete auf einmal, dass er durch seinen Entdeckungsdrang immer gefährlicher für den Täter werden könnte und somit möglicherweise die höchste Priorität unter den verbliebenen Personen darstellte und sich in akuter Lebensgefahr befand. Hatte der gerissene Täter vielleicht sogar damit gerechnet, dass er derjenige sein würde, der den Springbrunnen genauer unter die Lupe nehmen würde und in dem ominösen Geheimgang eine tödliche Falle präpariert? Die Knie des Schotten fingen plötzlich an zu schlottern und er blickte wie hypnotisiert auf die so harmlos wirkende Klappe. In seinen Gedanken malte er sich wieder ein schreckliches Szenario aus und hörte das lautlose und hämische Lachen der Phantome um ihn herum, das ihn frösteln ließ. Zwei innere Stimmen sprachen zu ihm. Die erste flößte ihm Mut und Vertrauen ein, die zweite höhnte gehässig und schockte den Schotten mit der Vorstellung, in eine tödliche Falle zu tappen.

    Es war wieder einmal die aggressive Stimme des Koreaners, die Thomas aus seinen Gedanken riss. Dieses Mal war er dem unsympathischen Flegel für die Ablenkung sogar fast dankbar. Er war allerdings so in sich versunken gewesen, dass Gwang-jo seine ungeduldige Frage noch ein zweites Mal recht ungehalten wiederholen musste. Die restlichen Gäste blickten Thomas nun eher nachdenklich und gespannt an, denn auch sie hatten die Veränderung in der Körpersprache des Schotten bemerkt.

    „Könntest du uns jetzt vielleicht mitteilen, was du dort oben entdeckt hast, Sherlock Holmes?“, fragte Gwang-jo abfällig.

    „Es handelt sich nicht um Blut. Es handelt sich um eine Art roten Lack. Jemand muss das Wasser in diesem Brunnen abgedreht haben und hat es durch diesen Lack ersetzt.“, bemerkte Thomas, obwohl er immer noch ein wenig geistesabwesend wirkte und ihm tausend verwirrende Gedanken durch den Kopf schwirrten, die er nicht wirklich einordnen konnte.

    „Ich bin mir sicher, dass der Killer dahinter steckt. Er will uns einschüchtern, uns alle systematisch in den Wahnsinn führen.“, bemerkte Abdullah Gadua.

    „Wie kann es aber sein, dass er uns so überlegen ist? Wir hätten es doch bemerken müssen, wenn einer von uns an diesem Brunnen herumgespielt hätte.“, meinte Marilou zu ihrem Gatten und blickte sich fragend um.

    „Ich schätze, dass das Ganze recht schnell ging. Der Killer hatte einen Behälter mit rotem Lack dabei, hat den Inhalt oben von der Balustrade aus in den Brunnen geschüttet und den Behälter dann schnell irgendwo versteckt. Die ganze Aktion wird ihn höchstens zwei Minuten gekostet haben.“, erwiderte Abdullah, doch Thomas wollte ihn nicht im Unklaren lassen und widersprach ihm deshalb direkt, bevor seine Frau hätte antworten können.

    „So war es vermutlich nicht. Ich habe hier oben eine Art Klappe entdeckt, die wohl in einen gang oder Raum unterhalb des Brunnens führt. Von dort aus wird der Täter das Wasser systematisch abgepumpt haben, um es durch die neue Flüssigkeit zu ersetzen.“, warf Thomas ein und wurde von allen Anwesenden erstaunt angesehen. 

    Der erste Anwesende, der sich von der überraschenden Feststellung wieder erholte, war Gwang-jo Park, der selbstverständlich wieder nach einem potenziellen Schuldigen suchte und auch rasch fündig wurde. Erstaunlicherweise hielt er sich bei seiner Ausdrucksweise aber dieses Mal zurück und schwächte seine Beschuldigungen somit ab, was Thomas mit großem Erstaunen registrierte. Vielleicht hatte der dickköpfige Koreaner ja doch aus seinen Fehlern ein wenig gelernt und hatte mittlerweile sogar so etwas wie Respekt oder gar Angst vor den anderen Gästen, die sich ja kürzlich erst eindeutig gegen ihn gestellt hatten. Allerdings wusste Thomas insgeheim, dass diese Hoffnung eher Wunschdenken war.

    „Ich könnte mir vorstellen, dass der Täter sich in diesem Haus erstaunlich gut auskennen muss, sonst hätte er diesen Gang gar nicht gekannt. Da wir als Gruppe die gesamte Zeit zusammenwaren, gibt es eigentlich nur eine einzige Person, die nicht immer unter unserer Kontrolle stand und dieses Schloss mittlerweile auch wie ihre Westentasche kennen müsste.“, begann der Koreaner vorsichtig, doch seine Idee wurde sofort begierig aufgegriffen.

    „Du meinst ganz offensichtlich den Koch!“, schaltete Abdullah schnell und nickte dabei nachdenklich.

    „Das ist das erste Mal, dass ich eine deiner Theorien einigermaßen einleuchtend finde. Wir kennen ihn viel zu wenig, um ihn wirklich einschätzen zu können. Er wirkt schüchtern, schwach und still, aber das könnte auch nur eine Art Fassade sein.“, bemerkte Elaine Maria da Silva.

    „Wir sollten es uns nicht zu einfach machen, Leute. Wir haben ja auch schon ausführliche Karten von dem Schloss gefunden, auf denen jede Menge Gänge eingezeichnet worden waren. Fast jeder von uns hätte einen Blick darauf werfen können und sich die Karte quasi  fotografisch einprägen können.“, warf Thomas mit Vorsicht ein, da er spürte, dass sich die Gruppe wieder zu sehr auf einen einzigen Aspekt zu konzentrieren drohte.

    „Wo du gerade davon sprichst. Haben wir nicht einige dieser Karten mitgenommen? Es wäre wohl am besten, wenn wir danach alle Geheimgänge des Schlosses systematisch durchsuchen würden. Vermutlich lagert der Mörder hier irgendwo noch weitere Waffen oder hat irgendwelche Fallen präpariert. Je besser wir dieses Schloss kennen würden, desto mehr wären wir vor solch unangenehmen Überraschungen wie dieser gewappnet.“, argumentierte Abdullah Gadua und blickte den schottischen Polizisten dabei erwartungsvoll an. Diesem wurde dabei plötzlich siedend heiß.

    „Von welchen Karten sprecht ihr überhaupt?“, fragte Marilou in diesem Moment lauernd, denn die Männer, die den Fischkutter entdeckt hatten, hatten sich versprochen unter keinen Umständen über ihre Funde zu sprechen.

    Jetzt aber hatte sich Thomas, wie er selbst mit zusammengepressten Lippen zugeben musste, arg verplappert. Die Entdeckungen drohten aufzufliegen und er konnte die Geheimniskrämerei nicht mehr länger verantworten. So sehr er sich auch aufregte, er musste jetzt mit allen Anwesenden Klartext reden.

    Dennoch tauschte der Polizist einige Blicke mit den anderen Anwesenden aus. Abdullah hatte seine Geste genau verstanden und nickte ihm aufmunternd zu. Thomas atmete tief durch und entschloss sich zu einer aufklärenden Erläuterung.

    „Als wir in den letzten Tagen losgezogen waren, um die Wälder zu durchforsten und den Butler zu finden, sind wir noch auf eine andere Sache gestoßen. Wir haben auf der anderen Seite der Insel, in einer Art natürlichem Hafen, einen Fischkutter gefunden. Dieser gehörte offensichtlich dem Täter, denn wir fanden dort verschiedene Informationen, unter Anderem eben auch einige Pläne über dieses Schloss. Darauf sind alle Gänge eingezeichnet. Wir haben den Kutter mit seinen Waffen niedergebrannt, um dem Täter diesen Rückweg zu versperren und das Beweismaterial an uns genommen. Im Verlauf der letzten Ereignisse hatte ich das völlig vergessen. Mit Hilfe dieser Mappen könnten wir endlich den Rest des Schlosses erkunden und eventuell sogar den Täter unter uns finden. Zudem haben wir ein sehr interessantes Buch gefunden, in dem Bilder von jedem von uns zu finden sind, während wir dabei sind, irgendeine Sünde zu begehen. Vermutlich sind diese Missetaten ein essentieller Grund für die Arbeit des Mörders. Er sieht sich vielleicht als Rächer und möchte eine radikale Selbstjustiz ausüben.“, berichtete Thomas in Kurzform über die Dinge, die sie damals entdeckt hatten.

    „Das hast du uns die ganze Zeit vorenthalten? Du hast einfach zugelassen, dass wir unwissend sind und völlig ahnungslos in irgendwelche Fallen hätten tappen können, ohne etwas über die Beweggründe des Mörders zu wissen? Du sprichst die ganze Zeit davon, dass wir alle zusammenhalten müssen, dass wir gemeinschaftlich agieren sollen und nun bildest du willkürlich eine Zwei-Klassen-Gemeinschaft in diesem Schloss? Ich kann es nicht fassen. Ich bin enttäuscht von dir!“, warf Elaine Maria da Silva ihm nach einigen Momenten des Nachdenkens laut und heftig vor.

    Doch ihre Härte konnte dennoch nicht verhindern, dass Tränen in ihren Augen glitzerten und sie sich mit einem unterdrückten Schluchzen abwenden musste.

    Marilou Gauthier trat sofort zu der verzweifelten Frau und legte ihr den Arm um die Schulter, sprach ihr ruhig zu und warf Thomas einen ebenso grimmigen Blick zu wie die Brasilianerin. Die anderen Anwesenden starrten betreten zu Boden und Thomas fühlte sich plötzlich unendlich allein. Er war derjenige, der sich immer für alle anderen Anwesenden einzusetzen versuchte und nun hatte er selbst keinerlei Unterstützung, keinen Rückhalt und kein aufmunterndes Wort. Verbittert blickte er auf seine Fußspitzen und fragte sich, ob er sich selbst zum Narren schelten sollte oder ob seine Wut auf die restliche Gemeinschaft gerechtfertigt war. Es schockte ihn, dass Elaine gerade mit Marilou jetzt so eng zusammen stand und sich symbolisch gegen ihn wandte. Die Kanadierin und die Brasilianerin konnten sich eigentlich auf den Tod nicht ausstehen und hatten sich mehrmals angefeindet, sodass Thomas oder eine andere Person eingreifen musste. Marilou schien nun von dem Zwiespalt profitieren zu wollen, denn Thomas schätzte die merkwürdige Frau einfach nur als hinterhältig und gefährlich ein. Durch ihr undurchsichtiges Verhalten war sie aus der Sicht des jungen Polizisten sogar ein noch größerer Gefahrenherd als der offensive Gwang-jo. Lag es einfach in ihrer Natur oder wollte die Kanadierin bewusst für Unfrieden sorgen?

    Thomas fühlte sich unwohl in seiner Haut und wusste nicht, was er jetzt überhaupt machen sollte. Er hatte keine Kraft mehr dieses Problem zu konfrontieren, schämte sich dafür der Brasilianerin nun hinterher rennen zu müssen, um sie zu beschwichtigen und sich vor dem Rest der Gruppe zu blamieren.

    Nachdenklich beobachtete er, wie die beiden Frauen empört und gebückt die Eingangshalle verließen und zurück in die Bibliothek kehrten. Auch die anderen Anwesenden starrten den beiden Damen hilflos hinterher, nur Gwang-jo konnte sich ein heimliches und schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen.

    „Und nun, Herr Kommissar?“, fragte der Koreaner, doch Thomas ging auf diese versuchte Provokation schon gar nicht mehr ein.

    Er wirkte wie betäubt und nahm sich vor sich möglichst schnell abzulenken. Sein Blick fiel dabei wieder auf die Klappe, die unterhalb des Springbrunnens zu führen schien. Die Stimmen in seinem Kopf waren inzwischen abrupt verstummt und hatten einer wattigen Leere Platz gemacht.

    Wie eine Statue stand Thomas neben dem düsteren Brunnen, aus dem monoton und träge die rote Flüssigkeit quoll. Er gab sich schließlich einen Ruck, blickte aber noch kurz in die Gruppe und wandte sich emotionslos an den Koreaner.

    „Ich werde mir diese Klappe mit dem Versteck vornehmen. Vielleicht entdecke ich dort unten irgendeinen nützlichen Hinweis. Vielleicht kann ich diesen gottverdammten Brunnen auch endlich ausstellen, dieses monotone Plätschern jagt mich noch in den Wahnsinn.“, murmelte Thomas grimmig und demonstrierte eine Entschlossenheit, von der er selbst nicht überzeugt war, als er sich geräuschvoll abwartete und quer über den Brunnen auf die Klappe zusprang, nur um aus dem bedrückenden Blickfeld der Gruppe zu gelangen. Er brauchte jetzt einfach eine gewisse intime Ruhe und die Untersuchung des Schachtes kam ihm da als Ausrede geradezu gelegen.

    Ohne Probleme öffnete er die Luke und blickte auf eine relativ moderne und intakte Leiter, die einige Meter in die Tiefe führte und auf einen kalten und grauen Betonboden führte, der von einem schummrigen elektrischen Licht, vermutlich über einen Notstromaggregator, erleuchtet war. Auf dem Boden entdeckte Thomas bereits einige rote Flecken, die ein weiterer Beweis dafür zu sein schienen, dass vor nicht allzu langer Zeit irgendwer dort den roten Lack verschüttet hatte. Anzeichen für eine konkrete Gefahr konnte Thomas beim besten Willen nicht ausmachen, doch ein unangenehmes Drücken im magen blieb bei ihm latent vorhanden.

    Mit dieser neuen Entdeckung im Rücken machte sich Thomas dennoch schnaufend an den Abstieg und warf noch einen letzten Blick auf die fahlen Farben der Decke der Eingangshalle, die in dunkles Licht getaucht zu sein schien. Irgendwie wurde der schottische Polizist das Gefühl nicht los, dass er hier gerade dabei war, in sein eigenes Grab zu steigen und spürte mit jeder Sprosse, die er hinabstieg, dass er ein bedrückenderes Gefühl bekam und gieriger nach Luft schnappte. Thomas brach in Schweiß auf und bekam eine erregte Gänsehaut, als er endlich unten ankam und auf ein riesiges Pumpsystem blickte, das an einen Behälter angeschlossen war, dessen Glasverschluss noch offen stand. Viel interessanter war jedoch der umgestoßene Kanister, der neben einer elektronischen Vorrichtung stand und aus dem noch wie in Zeitlupe einige rote Tropfen liefen.

    Thomas kratzte sich nachdenklich am Kinn. Hatte der Täter wirklich keine tiefergreifende Absicht mit dieser Aktion bezweckt, als ein paar erwachsenen Menschen mit rot gefärbtem Wasser einen Schrecken einzujagen? Ein kurzer Blick in die Runde bewies Thomas bereits, dass er hier auf keine weiteren Hinweise stoßen würde.

    Dennoch näherte er sich dem Kanister und hob diesen zögernd auf. Dabei fiel sein Blick auf einen kleinen Aufkleber auf der Unterseite, der ihn stutzen ließ. Darauf stand die Herkunft des Kanisters und der dort benannte Ort war Thomas von irgendwoher bekannt.

    „John McReffrey’s sailor shop, 404 Oceanside Avenue, Bridetown.“, murmelte der Schotte leise und wiederholte diesen Satz immer wieder.

    Er zermarterte sich den Kopf, doch er kam einfach nicht auf die Lösung des Rätsels. Enttäuscht und verärgert warf er den leeren Kanister gegen das Gestänge der Pumpvorrichtung, von der monoton rote Tropfen zu Boden plätschern, da die Verdichtung nicht einhundertprozentig intakt zu sein schien. Thomas griff nun nach dem ebenfalls offenstehenden Schaltkasten und erblickte unweit daneben einen Bottich, in dem sich teilweise das abgepumpte normale Wasser befand, das der Täter ausgetauscht hatte. Der schottische Polizist beachtete dies nicht näher und hatte stattdessen eine Hebel gefunden, den er mit beiden Händen umlegte, woraufhin ein kurzes Knistern und dumpfes Blubbern ertönte, bevor einige grüne Lämpchen in dem Kasten erloschen. Er hatte soeben den Pumpmechanismus des Springbrunnens ausgestellt.

    Grimmig nickend wandte sich Thomas von der Vorrichtung ab und stolperte plötzlich über einen Gegenstand, der bisher unbemerkt von ihm auf dem Boden gelegen hatte. Erstaunt hielt der Schotte inne und bückte sich nach dem seltsamen und unförmigen Teil.

    Erst als er es in seinen Händen hielt, erkannte er worum es sich hier handelte. Thomas hatte soeben eine braune Kappe aufgehoben, die ein wenig unförmig wirkte und am ehesten noch an die klassischen Baskenmützen erinnerte. Nachdenklich drehte Thomas die Kappe um, fand der Innenseite jedoch nur ein Schildchen mit dem Hinweis, dass der Gegenstand in Mexiko produziert worden war. Dennoch kam der Gegenstand Thomas seltsam bekannt vor, doch erneut war in seinen Erinnerungen nur ein großes Fragezeichen oder ein enormes schwarzes Loch. Auch diesen Hinweis konnte der Schotte nicht zuordnen und rieb sich frustriert fluchend seine Schläfen. Vielleicht lag der Grund seiner Konzentrationsschwäche einfach nur an dem stinkigen und stickigen Raum, in dem er sich gerade befand oder an seinem eklatanten Schlafmangel.

    Daher steckte Thomas die Mütze und ebenfalls den Aufkleber des Kanisters in die Innentasche seines Hemdes und wandte sich nun wieder in Richtung des Aufstieges um. Er wollte gerade die ersten Sprossen auf der Leiter nehmen, als sich ein hektischer Schatten über sein Gesicht legte. Verschreckt blickte Thomas in de Höhe und sah nur noch die verwaschenen Konturen einer Person, die plötzlich die offenstehende Klappe energisch zuwarf. Thomas hörte nur noch das dumpfe Nachhallen des Geräusches und ein metallisches Klicken, das ihm bewies, dass die Luke nun von außen eingerastet worden war.

    Die ungute Vorahnung des Schotten hatte sich schlagartig bestätigt. Seine Sorge, seine zweifelnden inneren Stimmen waren berechtigt gewesen. Thomas wurde mit einem Mal übel und schwindlig und er schnappte hastig nach Atem. Er konnte sich nur mit Mühe und Not einigermaßen beruhigen. Doch er musste der Tatsache nüchtern ins Auge sehen.

    Thomas war in diesem unterirdischen Raum gefangen!

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