• Aljenikow 1: Der Hafen des namenlosen Grauens (Roman aus den Jahren 2008/2009) (Teil 2/7)

    Freudig rannten die Zuschauermassen aus dem Petrowski-Stadion. Der leichte Nieselregen schien ihnen nicht viel auszumachen, als sie jubelnd über die verkehrsreiche Straße eilten und das ärgerliche Hupen der Autofahrer vernahmen. Mit lauten Schlachtgesängen zogen sie durch die Umgebung.

    Auch Vitali Sergejewitsch Aljenikow verließ das Stadion mit einem zufriedenen Gefühl. Der junge Journalist war erst seit zwei Wochen in der Stadt und war in der Zeit bei einem seiner Kollegen untergekommen, der begeisterter Fan des Vereines Zenit Sankt Petersburg war. Er hatte Vitali mit seiner Euphorie anstecken können und ihm gleich einen Schal geschenkt, während sich Vitali dazu überreden gelassen hatte auf einem der zahlreichen Schwarzmärkte ein Trikot des umjubelten Pawel Progrebnjak zu erwerben. Bei der angestrengten Feilscherei hatte er den Preis von ursprünglich utopisch geforderten fünfhundert Rubeln, auf einhundertfünfzig heruntergehandelt. Auch er verdiente als Journalist nicht gerade ein Spitzengehalt und hatte zudem bisher auch noch keine preiswerte Wohnung in der überteuerten Innenstadt gefunden.

    Das Spiel hatte viele Nerven gekostet, denn der russische Topverein, der zuletzt auch internationale Erfolge gefeiert hatte, hatte den Siegtreffer erst in der Nachspielzeit nach einem Freistoß erzielen können, nachdem der Gegner, der FK Tom Tomsk aus Westsibirien, sogar in der ersten Halbzeit überraschend in Führung gegangen war.

    Jetzt zogen Vitali und sein Kollege Sergej Wiktorowitsch Stepanow gemeinsam mit einigen weiteren Fußballfans an der langsam auftauenden Newa vorbei in Richtung des nahe gelegenen Stadtbezirks, in dem sich viele Kasernen und Militäreinrichtungen befanden. Die Gegend wirkte hier ein wenig trostlos, die Gebäude kahl und grau und die Fußballfans streiften ein Mal eine Gruppe von etwa fünfzig Soldaten, die mitten auf der Straße einen Marsch vollzogen und sich im Gleichschritt bewegen mussten. Sie trugen dabei allesamt noch die altmodischen, graublauen Militärmützen, auf denen das Emblem der russischen Armee als Pin befestigt worden war.

    Bald erreichten Vitali, Sergej und einige weitere Begleiter ihr Ziel, nämlich ein von außen kahl wirkendes Gebäude, das im Innern aber eine durchaus behagliche Atmosphäre barg. Es handelte sich um ein Restaurant, welches ein größeres Esszimmer besaß, dessen Wände aus roten Backsteinen bestanden und auch einen kleinen Kamin aufwies. An den Wänden hingen zum Teil alte sowjetische Propagandaposter und eine Gruppe Soldaten hatte es sich an einem Tisch bequem gemacht. Sie hatten das Fußballspiel neugierig auf einem kleinen, leicht bildgestörten Fernseher verfolgt und tranken kollektiv einen Wodka.

    Vitali und Sergej wurden von der robusten Wirtin mit einer herzlichen Umarmung begrüßt und einem großen Redeschwall. Die eifrige, höfliche und schon etwas ältere Dame, die ein traditionelles Kleid trug und ihre Haare aufgesteckt hatte, bot der Gruppe einen Holztisch mit mehreren Stühlen an und kam nach einigen Minuten bereits mit einigen Gläsern Wodka wieder. Danach gab es eine herzhafte Mahlzeit, die mit einer Borschtsch, der urtypischen russischen Kohlsuppe begann, mit einem russischen Bauernsalat fortgesetzt wurde und mit einer überaus köstlichen Hauptgericht, bestehend aus karelischen Piroggen mit diversen Soßen, seinen Höhepunkt fand.

    Die Soldaten, die alles andere als förmlich oder streng wirkten, setzten sich bald zu Vitali und seinen Bekannten und gaben die ein oder andere Runde Wodka aus und diskutierten angeregt über das Fußballspiel, die Hoffnungen auf den Gewinn der Meisterschaft oder den Bau des neuen Stadions auf dem Gelände des ehemaligen Kirow-Stadions auf der bekannten Krestowski-Insel, der vom Hauptsponsor finanziert wurde und ab der nächsten Saison die neue Spielstätte darstellen sollte.

    Nach einigen Stunden des gemeinsamen Feierns verließen Vitali und Sergej das Restaurant unter lautem Protest der herzlichen Wirtin. Beim Herausgehen warf Vitali einen Blick auf die junge Bedienung und Tochter der Wirtin, die ihm kokett zulächelte. Sie trug eine enganliegende Schürze, die ihre Figur betonte und hatte ihr langes blondes Haar zu zwei edlen Zöpfen geflochten. Grinsend nahm sich Vitali vor bald wieder zurückzukehren.

    Sergej hatte sich entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten beim Feiern sehr beherrscht. Vitali kannte dieses Verhalten bereits aus ihrer gemeinsamen Zeit in Moskau, wo sie eine Journalistenschule besucht hatten und damals in einer Kommune zusammengelebt hatten. Sergej hatte es damals schnell nach Sankt Petersburg verschlagen, wo er ein junges Model kennen gelernt hatte, in der er seine große Liebe gefunden zu haben schien. In Wirklichkeit hatte sie ihn nur ausgenutzt, um selbst Werbung für sich zu machen, denn Sergej hatte selbstverständlich den ein oder anderen Artikel über sie und ihre Arbeit geschrieben. Irgendwann war die junge Russin mit einem reichen Geschäftsmann nach Jekaterinburg durchgebrannt. Sergej war sehr froh gewesen, als er Vitali aufgenommen hatte und sich selbst somit ein wenig von seinem persönlichen Unglück ablenken konnte. Er lebte in einem zentral gelegenem Apartment nahe des Witebsker Bahnhofs und des Obvodnyi-Kanals.

    An diesem Abend aber hatte er geplant sich mit Vitali, der darauf bestand sich eine eigene Behausung zu suchen, um seinen Kollegen nicht weiter zu belasten, eine Wohnung in der Hafengegend anzusehen. Vitali hatte die Annonce zufällig in der Staatlichen Universität Sankt Petersburg, der ersten russischen Universität überhaupt, an der auch Menschen wie Leonhard Euler oder Nikolai Gogol ihr Studium absolviert hatten, gelesen, als er dort ein Interview mit einem Juniorenschachweltmeister geführt hatte.

    Sergej hatte seinen klapprigen Lada nicht unweit des Restaurants geparkt. Der Wagen war nicht verschlossen, denn das gute Stück war so rostig und zerfallen, dass niemand auf die Idee gekommen wäre es zu klauen. Derzeit fehlte Sergej das Geld für einen neuen Wagen, doch er war gewissermaßen auch stolz aufs ein Auto, für das seine Freund meist nur ein müdes Lächeln übrig hatten. Vitali hatte meist ein mulmiges Gefühl, wenn er in diese Klappkiste einstieg und zudem hatte Sergej trotz allem einige Wodka intus.

    Beschwingt stieg sein Kollege ein und ließ den altersschwachen Motor aufheulen. Gut gelaunt schob er eine Kassette der russischen Heavy Metal Legende Aria ein und sang vom ersten Ton an lautstark mit. Bald schlängelte sich Sergej mit einigen waghalsigen Manövern durch den dichten russischen Verkehr, sodass Vitali Angst und Bange wurde. Nach einer fast dreiviertelstündigen Fahrt waren sie nicht nur beim letzten Stück des Albums, sondern auch in der Hafengegend angekommen, die kein Vergleich zur prunkvollen Innenstadt war. Aus den touristischen Regionen waren die Straßenkinder, Bettler und Prostituierten größtenteils vertrieben worden, doch in diesem Außenbezirk zeigte sich das andere Gesicht der russischen Metropole. Während im Zentrum die Straßen sauber und die Menschen gesittet waren, so war hier genau das Gegenteil der Fall. Vitali war insgeheim froh, dass das Apartment noch in einer etwas weniger schmutzigen Region der Hafengegend lag. Aber in seiner Lage und der allgemein misslichen Lage der russischen Wirtschaft gab er sich mittlerweile mit fast allem zufrieden. Seine einst so großen Ambitionen hatte er vorerst auf Eis gelegt. 

    Die beiden erreichten bald den Nowij Nowgorodskij Prospekt, wo die Gebäude noch etwas kleiner, schmuckvoller und stabiler aussahen als in der unmittelbaren Hafenregion. Sergej stellte seinen Lada neben einem Stand mit frischen Blinies, einer eierkuchenähnlichen und sehr vielfältigen Teigspeise mit verschiedensten Füllungen, ab und die beiden Russen gingen auf das dreistöckige Gebäude zu, das sogar kleinere Balkone besaß.

    Nach einem kurzen Klingeln öffnete ihnen eine ältere und etwas kräftigere Dame misstrauisch die Tür. Vitali fiel mit einem Schmunzeln eine gewisse Ähnlichkeit zu der Wirtin auf. Als Vitali sein Anliegen nannte, strahlte die zuvor noch verkniffen wirkende Russin und entfernte freudig die Sicherungskette der Tür und bat die beiden Russen um Einlass.

    Vitali und Sergej wurden von ihr durch eine schmale Tür in das Wohnzimmer der Dame geführt, welches im Erdgeschoss lag, während in den anderen beiden Etagen jeweils zwei Wohnungen lagen. Das Zimmer war voller Kitsch. An einigen Ecken standen Matrjoschkas, die unter Anderem bekannte Politiker, Dichter und Volkshelden darstellten. An fast jeder kleinen Kommode stand ein Behälter mit russischen Süßigkeiten. Bedeckte Tischdecken zierten alle kleinen Tischchen und an den Wänden hingen diverse Bilder der Stadt Sankt Petersburg aus den verschiedensten Epochen.

    Die eifrige Dame, die sich als Ekaterina Alexandrowna Kolodina vorstellte, bat ihren Besuchern sogleich ein Glas Kwas, ein russisches Brotgetränk aus Wasser, Roggen und Malz an, welches eklig süß schmeckte. Ekaterina plauderte unentwegt und es dauerte eine ganze Weile, bis Vitali sein Anliegen präsentieren konnte. Seine neue Gastgeberin war sehr großzügig und ging mit ihrem Preis für die Wohnung noch einmal herunter, weil sie Vitali als sehr herzensgut und nett empfand. Zudem gab sie ihm überraschend bekannt, dass er sogar über ein eignes Telefon und einen kleinen Fernseher verfügen konnte.

    Vitali unterschrieb sofort den Kaufvertrag, was Sergej mit ein wenig Wehmut registrierte, da er sich gefreut hätte, wenn sein Kollege noch ein wenig länger seine Gastfreundschaft genossen hätte. Kurz darauf inspizierte Vitali in Begleitung von Sergej und Ekaterina die neue Wohnung, die links im obersten Stockwerk lag. Es gab dort ein großes Schlaf- und Wohnzimmer mit einem Fernseher, einem großen Himmelbett und einer Couch, sowie ein kleines Badezimmer samt Dusche und Toilette, sowie auch eine kleine Küche mit einem edlen Holztisch und einem kleinen Balkon, von dem aus Vitali einen prächtigen Blick auf die Hafenlandschaft genießen konnte. Lediglich die Farbe an den Wänden war ein wenig abgeblättert und die Decke wies einige gelbe Wasserflecken auf, doch für die gegebenen Umstände hatte Vitali durchaus eine sehr gute Wahl getroffen. Die Zimmer waren sauber, die Preise sehr entgegenkommend und auch die nächsten Metrostationen lagen nicht allzu weit weg.

    Vitali versprach sogleich am nächsten Morgen einzuziehen, da er vorher noch seine wenigen Habseligkeiten aus der Wohnung seines Kollegen verpacken musste. Ekaterina freute sich sehr herzlich und versprach ihm ein ausgezeichnetes Frühstück, wenn er morgen früh kommen sollte.

    Als Vitali das Zimmer als Erster wieder verließ, wäre er beinahe mit einer jungen Dame zusammengestoßen, die mit einigen Büchern bepackt war und offensichtlich die Wohnung neben Vitali bewohnte.

    Vitali warf ihr einen bewundernden Blick zu. Die Frau war ein wenig jünger als er und war vermutlich noch eine Studentin. Sie war einen ganzen Kopf kleiner als der blondhaarige und schlaksige Vitali, und hatte eine herausragende Figur, die durch ihren Jeansrock und ihr Top noch betont wurde. Ihre graugrünen Augen blitzten verführerisch auf und sie warf dem Russen ein bezauberndes Lächeln zu. Vitali hatte den Eindruck, dass die unbekannte Schöne keine Russin war.

    Er trat auf die Dame zu, was sein Freund Sergej mit einem wissenden Lächeln quittierte. Auch Ekaterina war freudig erregt.

    „Herr Aljenkow, das ist Madame Lavoie, eine junge Französin aus Lille, de hier auf die Schauspielschule im Stadtzentrum geht.“, erläuterte Ekaterina mitteilsam.

    „Sehr erfreut, Madame Lavoie. Darf ich Ihnen vielleicht helfen?“, bot sich Vitali charmant an und wurde belohnt, da die Französin ihm ihren Schlüsselbund reichte, an dem ein silberfarbener Eiffelturm baumelte.

    „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Es wäre nett, wenn Sie mir die Wohnungstür aufschließen könnten, ich bin sehr bepackt.“, bat ihn die Französin, die einen sehr weichen Akzent und eine sehr warme Stimme hatte, von der sich Vitali sogleich angezogen fühlte.

    Eilig erfüllte er die Bitte der schönen Französin und schloss im Handumdrehen ihre Wohnungstür auf, trat einen Schritt in den Flur und verneigte sich einladend, was die schöne Dame mit einem Schmunzeln bemerkte.

    „Sie scheinen ein echter Kavalier zu sein, Herr Aljenkow.“, kommentierte sie mit süffisanter Stimme und warf ihr langes, braunes Haar in den Nacken.

    „Bei so schönen Damen wie Ihnen bin ich das immer. Nennen Sie mich doch Vitali, ich bestehe auf keinerlei Förmlichkeiten.“, bemerkte Viatli mit sanfter Stimme und sein Herz machte einen Hüpfer, als die Französin ihm charmant zulächelte.

    „Das nehme ich gerne an, Vitali. Nenne mich doch bei einem meiner beiden Vornamen. Eva oder Maelle, ganz wie du willst.“, bat ihm die Französin an und trat langsam an Vitali vorbei, wobei sie seinen Oberkörper im Vorbeigehen leicht streifte.

    „Das mache ich gerne. Wohnst du denn schon lange hier?“, fragte Vitali, der das Gespräch um jeden Preis fortsetzen wollte.

    „Seit etwa drei Monaten. Ich bin seit dem Wintersemester in Sankt Petersburg und werde noch bis nächsten Dezember hier sein. Danach kehre ich zurück nach Lille oder Paris, um meine schauspielerische Ausbildung abzuschließen.“, erzählte die Französin, die ihre zahlreichen Bücher zunächst auf einem kleinen Tisch im Eingangsbereich ablegte.

    „Ich bin auch erst seit wenigen Wochen hier in der Stadt. Ich habe vorher in Moskau gelebt und war dort journalistisch tätig. Allerdings ist die Zeitung, für die ich hauptsächlich geschrieben habe, Pleite gegangen. Jetzt versuche ich mein Glück hier und habe über meinen alten Kollegen auch schon ein Engagement gefunden und bereits einige Artikel geschrieben.“, berichtete Vitali ein wenig.

    „Das freut mich für dich. Du kannst mir meine Artikel gerne mal zeigen. Wenn du etwas von russischer Literatur verstehst, kannst du mir vielleicht sogar behilflich sein.“, deutete die Französin an und näherte sich wieder langsam ihrem neuen Nachbarn.

    „Das würde ich gerne tun. Worum geht es denn?“, fragte Vitali, der von seiner Nachbarin völlig gebannt war und sein Glück kaum fassen konnte, mit ihr so schnell ins Gespräch zu kommen. Für den Frauenschwarm war die Tochter aus dem Wirtshaus längst vergessen, denn er hatte selten eine so grazile und umwerfende Schönheit wie die junge Französin gesehen.

    „Es geht um das Theaterstück „Die Nase“ von Nikolai Gogol. Ich muss es durcharbeiten, den Hauptdarsteller charakterisieren und analysieren und zudem will unser Kurs dieses Stück bereits in einigen Monaten aufführen.“, berichtete die Französin und legte ihre Hand scheinbar ganz nebenbei auf den Unterarm des Russen, dessen Härchen sich sofort wie elektrisiert aufstellten.

    „Das trifft sich gut. Gogol ist mein Lieblingsschriftsteller. Ich musste über ihn mal ein ausführliches Referat halten. Ich würde dir gerne helfen und die Aufführung möchte ich mir dann natürlich auch nicht entgehen lassen.“, gab Vitali hastig zurück und strahlte dabei über das ganze Gesicht.

    „Da bin ich gespannt. Jetzt muss ich mich aber ein wenig ausruhen und frisch machen, Herr Nachbar. Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.“, entschuldigte sich die Französin und blickte ihrem Gegenüber tief in die Augen.

    „Ja, das hoffe ich auch, ganz bestimmt.“, entgegnete Vitali und verbeugte sich leicht, während die Französin ihm lächelnd die Schlüssel aus der Hand nahm und elegant in ihre Wohnung trat, wo sie sich noch einmal kurz umwandte und dann die Tür sanft ins Schloss drückte.

    Vitali atmete tief beeindruckt durch und wandte sich zu seinem Kollegen Sergej um, der ihn mit einem Lächeln und kopfschüttelnd anblickte.

    Als die beiden Männer die Wohnung nach einer herzlichen Verabschiedung von Ekaterina wieder verließen und auf den lädierten Lada zutraten, musste Sergej noch immer schmunzeln. Vitali wandte sich zufällig noch einmal zum Haus um und zuckte überrascht zusammen, als er die schöne Französin an dem zur Straßenseite hin gelegenen Fenster sah. Sie winkte ihm zu und strahlte dabei über das ganze Gesicht, bevor sie sich abwandte und in einem anderen Raum verschwand. Sergej stieß seinem Freund in die Seite, um dessen Aufmerksamkeit wieder zu erlangen.

    „Kaum bist du zwei Wochen hier und schon gefällt dir die Stadt. Ich hatte es dir doch gesagt, du alter Kavalier.“, lachte Sergej fröhlich und klemmte sich wieder hinter das Steuer und legte gleich darauf die nächste Kassette der russischen Band Aria ein.

    „Da hast du wohl recht. Ich glaube, eine bessere Wohnung hätte ich gar nicht finden könne.“, gab Vitali zurück und die beiden Männer lachten herzhaft, als sie zurück zur Stadtmitte fuhren.

     

    Pawel Iljitsch Kozakow wollte nicht glauben, was er vor sich sah. Er blinzelte, rieb sich die Augen, doch das Bild des Schreckens verschwand nicht. Tausend Gedanken peinigten ihn wie fiese Nadelstiche und ließen ihn an seinem Verstand zweifeln. Der russische Kleinkriminelle war wie gelähmt vor Schreck, denn diese Ereignisse überstiegen seinen Horizont bei Weitem. Er hatte in seiner Karriere viele Leichen gesehen, doch dies war gewiss keine normale Ermordung gewesen.

    In der Mitte des verrauchten, aber verhältnismäßig edel eingerichteten Raumes befand sich ein umgestürzter Tisch und zwei zerborstene Stühle. In einer Blutlache lag ein dunkel gekleideter Mann, der den beiden Kerlen aus dem Schankraum enorm ähnelte. In seinen glasig wirkenden Augen las Kozakow den ganzen Schrecken, den dieser Mann kurz vor seinem bestialischen Tod erlitten haben musste. In seinem Gesicht waren tief Kratzwunden, sein Hemd war völlig zerrissen und seine Schulter war eine einzige blutige Fleischwunde, an welcher der Arm nur noch schlaff und seltsam ungelenk herabhing. Trotz des Hemdes konnte Kozakow die Rippen sehen, die völlig verbogen waren und mit ungeheurer und unmenschlicher Kraft deformiert worden sein mussten. Sie beulten das blutige Hemd aus und befanden sich genau in der Höhe des Herzens.

    Ängstlich und geradezu apathisch ließ Kozakow seinen Blick schweifen und sah auf dem einzigen noch erhaltenen Stuhl eine weitere leblose Gestalt, der die Hälfte des Gesichtes förmlich weggerissen worden war. Das Blut tropfte noch langsam und monoton auf die dreckigen Holzdielen. Glücklicherweise war das Gesicht des Toten dem Blick von Kozakow abgewandt, sodass ihm die schlimmsten Details erspart blieben. Auch dieser Tote trug die gleiche Kleidung wie der erste und die beiden pokernden Bewacher aus dem Schankraum.

    Jetzt warf Kozakow, in einer Mischung aus Ekel und ungläubiger Faszination, auch einen Blick auf den Mittelsmann, den er hier hätte treffen sollen. Er war ein wenig edler gekleidet als die anderen Männer, trug ein dunkles Jackett mit weinroter Krawatte und hatte sein langes Haar streng nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden. Er lag auf einer lederbezogenen Couch. In der Höhe seines Magens befand sich eine klaffende Fleischwunde, aus der immer noch Blut strömte und Kozakow konnte sogar schon die Ansätze der Gedärme erkennen, die der wahnsinnige Täter mit unbeschreiblicher Wut aus dem Kriminellen herausgerissen haben musste.

    Kozakow wurde mit einem Mal schlecht, das Gefühl der Übelkeit schlug blitzartig in ihm hoch und weckte ihn gleichzeitig aus seiner stummen Apathie. Er konnte die Ereignisse nicht einordnen und kannte nur noch einen Gedanken. Er musste sofort von hier verschwinden!

    Nervös warf er sich herum und trat dabei noch in die riesige Blutlache, die über die dreckigen Dielen floss. Gehetzt warf Kozakow einen Blick in den Gang. Er wollte auf keinen Fall mit dieser abscheulichen Tat in Verbindung gebracht werden.

    Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür des Raumes, in dem sich ein Mann vorhin noch mit einigen leicht bekleideten Mädchen vergnügt hatte. Eines dieser Mädchen, eine zierliche, asiatische Schönheit, trat just in diesem Moment aus dem ersten Raum, erblickte Kozakow und ahnte sofort, dass etwas nicht stimmte, als sie den wahnsinnigen Blick des Russen sah. Schreiend ließ die Prostituierte das blütenweiße Handtuch fallen, mit dem sie ihren Oberkörper bedeckt hatte und eilte gehetzt zurück in den Raum.

    Kozakow griff instinktiv nach seinem Revolver und erneut fiel ihm ein, dass er selbigen beim Türsteher verloren hatte. Plötzlich kamen ihm beklemmende, schreckliche Gedanken. Was wäre, wenn der unbekannte Täter noch irgendwo im Haus lauern könnte? Den Opfern nach zu urteilen, waren diese noch nicht sehr lange tot. Wie sollte er sich überhaupt verteidigen können? Wann würde dieser Alptraum für ihn enden? Hatte er sich die beobachtenden Blicke also doch nicht nur eingebildet? Würde er als Entdecker der grausigen Tat das nächste Opfer des Wahnsinnigen werden?

    Wie in Trance warf sich Kozakow herum und hetzte in blinder Angst durch den schmalen Gang. Dabei stieß er gegen einen Bilderrahmen an der Wand, der klirrend zu Boden fiel und in tausend Scherben zerbarst. Kozakow störte sich nicht daran, warf aber gehetzte Blicke über seine Schultern und stieß durch diese Unachtsamkeit schmerzhaft gegen ein kleines Tischchen, dass scheppernd umfiel und ihm den Weg versperrte.

    Nervös sprang Kozakow darüber hinweg, blieb am Tischbein hängen und fiel der Länge nach hin. Benommen rappelte er sich auf, hetzte schweißüberströmt weiter und erreichte mit letzter Kraft die Hintertür, die er aufreißen wollte, um endlich ins Freie zu gelangen.

    Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm. Die Tür war verschlossen! Heftig rüttelte der russische Kleinkriminelle an dem Knauf, zog daran, drehte ihn zur Seite und schlug wutentbrannt dagegen, doch all dies änderte nichts an der Ausweglosigkeit seiner Situation.

    In diesem Moment ging die Tür zur Theke auf und die beiden Männer, die kurz zuvor noch gepokert hatten, stürmten in den Flur. Sie erblickten Kozakow, hoben drohend ihre Revolver und stürmten geduckt heran, da sie für einen präzisen Schuss noch ein wenig zu weit entfernt waren.

    Kozakow brach in Panik aus, warf sich wuchtig gegen die verschlossene Tür und spürte, wie diese leicht wackelte, aber noch nicht nachgab. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Gehetzt warf er sich nochmals gegen die Tür, die nun ächzte, seinem Angriff aber weiterhin standhielt.

    Die beiden Killer kamen immer näher und riefen Kozakow eine Warnung zu, die dieser überhaupt nicht wahrnahm. Zitternd sah er sich nach einer anderen Fluchtmöglichkeit, einer weiteren Tür oder einem Fenster um, doch es gab keinen anderen Ausweg.

    In dem Moment schlug eine Kugel direkt vor seinen Füßen ein und eine weitere sirrte knapp an ihm vorbei in die Tür hinein. Kozakow wurde davon aber nicht gestoppt, sondern reagierte noch panischer und unkontrollierter. Er rannte einige Schritte zurück in den Gang, nahm Anlauf und warf sich mit voller Wucht und letzter Kraft gegen die Tür.

    In diesen Augenblicken hatte er gleich doppeltes Glück. Zum Einen ging just in dem Moment die Tür auf, hinter der eben noch einige Russen das Fußballspiel verfolgt hatten und ein älterer und offensichtlich betrunkener Russe mit einem gewaltigen Bart trat genau in die Schusslinie der beiden Killer, die ihn grob zur Seite stießen, durch diese Aktion aber sowohl Zeit verloren, als auch irritiert wurden. Zum Anderen gab die Tür unter den Bemühungen des Kleinkriminellen endlich nach und brach unter ihm krachend zusammen.

    Hart fiel Kozakow auf eine Treppenstufe im Hinterhof, stieß sich den Kopf am Geländer und sah seine Umgebung um sich herum nur noch verschwommen und verzerrt, während er selbst die Stufen herunterpurzelte und benommen in einige Glasscherben rollte, die am Boden lagen und ihm den Rücken aufschnitten.

    Diese unverhoffte Verletzung belebte noch einmal seine letzten Kräfte und riss ihn zurück in die Realität. Ein Schuss peitschte an ihm vorbei und verlor sich in der dunklen Nacht. Kozakow rannte blind durch den Hof, umkurvte einige überfüllte und stinkende Mülltonnen und erreichte schließlich ein hohes Gitter, an dem er hochsprang, das Ende zu greifen bekam und sich mit seinen letzten Kraftreserven hochzog. Nun machte sich seine harte Schulung doch noch bezahlt.

    Kraftlos ließ Kozakow sich auf der anderen Seite des Gitters zu Boden fallen, robbte in die dunkle Gasse, die fast gar nicht beleuchtet war und verlor seinen kompletten Orientierungssinn.

    An seinen eigentlichen Auftrag und eine mögliche Bestrafung seines Bosses dachte er gar nicht mehr. Er rannte wie in Trance planlos durch die dunklen Gassen.

    Er hörte aus der Ferne noch einige Schüsse, bog in eine Seitengasse ab und danach in eine noch düstere Sackgasse, wo er sich gegen eine ramponierte Straßenlaterne lehnte, zu Boden sank und sich geräuschvoll übergab. Der ganze Druck und seine ganze Nervosität entluden sich und beruhigten ihn zugleich.

    Kozakow hielt inne und lauschte seinem eigenen, rasselnden Atem. Er beruhigte seinen Puls und verharrte. Von seinen Verfolgern war nichts zu sehen oder zu hören. Der Russe lächelte gequält. Sollte er ihnen doch entwischt sein? War er tatsächlich mit seinem Leben davongekommen?

    Nervös rappelte sich der Kleinkriminelle auf, als sich seine Nackenhaare aufrichteten und er urplötzlich ein flaues Gefühl im Magen bekam. Dieses unheimliche Gefühl beobachtet zu werden war mit einem Mal wieder da. Der Russe wandte sich langsam um und blickte angestrengt ihn die düstere Gasse, als er plötzlich den unheilvollen Schatten über sich sah.

    Erschrocken blickte Kozakow in die Höhe und sah nur noch wie der Schatten vom flachen Dach sprang und brutal gegen seine Schulter prallte. Der Russe wollte sich zur Seite rollen und flüchten, doch seine Aktionen waren zu langsam.

    Er schrie gellend auf, als sich scharfe Zähne in sein Bein bohrten und zurück zu Boden zerrten. Glühend heiß lief das Blut aus der Wunde und trieb ihm die Tränen ins Gesicht. Wimmernd sank Kozakow in sich zusammen und spürte den harten Schlag von hinten gegen seinen Brustkorb, der ihm fast die Besinnung raubte.

    Mit letzter Kraft wandte sich Kozakow um, weil er das Antlitz seines Mörders erkennen wollte. Erschrocken blickte er aus tränenverschleierten Augen in eine deformierte Fratze einer unbeschreiblichen Kreatur, die geradewegs aus der Hölle zu kommen schien. Das undefinierbare Wesen lachte mit fast menschlichen Zügen, bevor das Ungetüm sein Maul aufriss und eine Reihe weißer, spitzer Zähne entblößte, die sich erbarmungslos in den Hals seines vierten Opfers bohrten, dessen Leben in diesen Sekunden ein brutales und menschenunwürdiges Ende fand.

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