• Aljenikow 1: Der Hafen des namenlosen Grauens (Roman aus den Jahren 2008/2009) (Teil 3/7)

    Vitali Sergejewitsch Aljenikow hielt seinen kleinen, hölzernen Koffer nervös fest, während er sich gleichzeitig prüfend im Rückspiegel des altersschwachen Ladas seines Freundes Sergej betrachtete. Forsch rieb er sich mit seiner linken Hand am Kinn, während sein Kumpel sich dem Ziel näherte und zum letzten Mal nach rechts abbog. Aus den hallenden und krachenden Lautsprechern erklang das letzte Lied des letzten Albums von Aria, während Vitali nur an die schöne Französin und seine prachtvolle Wohnung dachte.

    Er wurde grob aus seinen Tagträumen gerissen, als Sergej trocken abbremste, da er fast in eine Absperrung hineingefahren wäre. Der dort stehende Polizist wich erschrocken zurück und wedelte fluchend mit den Händen. Sergej atmete tief durch und wollte seinen alten Wagen wenden, doch Vitali hatte eine andere Idee.

    „Sergej, lass uns einfach am Straßenrand anhalten, ich möchte wissen, was hier los ist.“, bat Vitali seinen Kollegen, der zerknirscht nickte und nicht widersprach.

    Langsam stellte Sergej seinen alten Lada ab und trat gemächlich aus seinem Wagen, während Vitali förmlich aus der alten Rostlaube sprang und eilig auf den Polizisten zutrat. Seine Neugierde war geweckt. Er witterte sofort eine große Story für einen nächsten Artikel. Für ihn war es wichtig sich gerade in seiner Anfangszeit in Sankt Petersburg durch gut recherchierte Artikel zu beweisen, um eine der seltenen Festanstellungen zu bekommen.

    „Sehr geehrter Herr Polizist, können Sie mir vielleicht sagen, was hier passiert ist?“, fragte Vitali, der ein wenig gehetzt wirkte und plötzlich Angst hatte, dass der schönen Französin oder seiner Gastwirtin etwas passiert war.

    „Tut mir Leid, ich darf keine Auskünfte geben.“, erwiderte der Polizist stur, doch Vitali war lange genug im journalistischen Geschäft gewesen, um zu wissen, dass er noch weitere gute Argumente in petto hatte.

    Lässig nestelte er in seiner Hosentasche und kramte einige Rubelscheine daraus hervor, die er dem Polizisten mit einem Augenzwinkern zusteckte. Letzterer trat langsam vor und blickte sich noch kurz um. Als er sich unbeobachtet fühlte, atmete er tief durch und bewegte seinen Kopf vertraulich flüsternd in Richtung seines Gegenübers, während er mit seinen glitschigen Händen gierig nach den Geldscheinen griff.

    „Vier Tote hat es gegeben, auf bestialische Weise verstümmelt. Drei mutmaßliche Handlanger des Unterweltbosses Matschiwjenko sind grausam ermordet worden, ebenso wie ein Handlanger, der zu der konkurrierenden kriminellen Formation dieses Sektors gehörte. Wir konnten ihn nur dank seiner Tätowierung am Unterarm identifizieren, denn der Rest war völlig verstümmelt und blutig.“, berichtete der Polizist ausführlich und blickte sich gehetzt nach einem Vorgesetzten um.

    „Es könnte also sein, dass der dritte Unterweltboss, die sogenannte stählerne Maske, dahintersteckt.“, mutmaßte Vitali, der in den ersten zwei Wochen seines Aufenthalts schon jede Menge über die kriminellen Banden gehört hatte, laut, doch der Polizist widersprach ihm energisch flüsternd und machte einen sehr ernsten Eindruck.

    „Ich habe bereits viele Bandenkriege in meiner nun schon fünfundzwanzigjährigen Berufskarriere erlebt, aber eine solche Hinrichtung ist absolut unvorstellbar.“, erwähnte der Polizist erregt.

    „Wer könnte denn dahinter stecken?“, fragte Vitali ein wenig entnervt, denn er spürte, dass er hier tatsächlich eine Inspiration für einen neuen Artikel gefunden haben könnte und nun ausreichend Blut geleckt hatte.

    „Das weiß nur der liebe Gott. Möglicherweise nicht einmal mehr er, sondern nur der Teufel.“, erwiderte der Polizist düster und bekreuzigte sich hastig, bevor er sich abwandte, als zwei Kollegen aus einem Haus traten, in dem sie einige Anwohner befragt zu haben schienen. Der Fund der Leichen schien den doch erfahren wirkenden älteren Mann ziemlich heftig mitgenommen zu haben.

    Vitali entschloss sich entgegen der Meinung seines unbehaglich reagierenden Partners Sergej die Polizeisperre einfach zu ignorieren und betrat lässig die abgegrenzte Zone, wobei er dem zunächst empört protestierenden Polizisten rasch einen weiteren Rubelschein zukommen ließ, bevor dieser sich erneut erbosen konnte.

    Gemeinsam näherten sich Vitali und Sergej im Eilschritt dem Gebäude, in welchem Vitali eigentlich heute morgen hatte einziehen sollen. All diese Formalitäten waren für ihn nun vergessen, er witterte eine große Story und war bereit alles dafür zu geben.

    In diesem Moment kamen zwei Polizisten aus einer düsteren Seitengasse, in der viel Abfall herumlag. Sie trugen eine klapprige Bahre, auf der die Überreste eines Körpers verteilt lagen. Obwohl diese mit einer weißen Plane überdeckt worden war, konnte Vitali erkennen, dass das Opfer von einer unmenschlichen Kraft völlig zerfetzt worden war.

    Die beiden Polizisten waren noch ganz grün im Gesicht und blickten angespannt in die Luft, um jeglichen Blickkontakt mit dem Todesopfer zu vermeiden. Hektisch stolpernd steuerten sie auf einen Krankenwagen zu, in dessen Hinterraum bereits drei ähnliche Bahren lagen. Ein älterer Arzt mit Schnauzbart hatte sich eine stinkende Pfeife angezündet und blickte kopfschüttelnd in den grauen Rauch. Entgegen der sonstigen lauten Geschäftigkeit von Polizisten und Ärzten an einem Tatort herrschte hier eine eisige Stille, die auch den empfindlichen Vitali sofort bedrückte, während Sergej sogar schaudernd stehen geblieben war und sich keinen Schritt mehr weiter wagte.

    „Hast du so etwas hier schon einmal erlebt?“, fragte Vitali seinen Begleiter atemlos.

    „Nein, in all der Zeit nicht. Selbst in Moskau hat es solche Morde niemals gegeben. Das kann eigentlich nur die Tat eines Wahnsinnigen sein.“, bemerkte Sergej stockend.

    „Scheinbar aber ein Wahnsinniger mit klarem Motiv, denn alle vier Opfer gehörten kriminellen Organisationen an.“, murmelte Vitali mehr zu sich selbst als zu seinem Partner und blickte erst jetzt auf den Eingang des gepflegten Hauses, in dem er ab heute hausen sollte.

    Die Gasse, aus der die Toten transportiert worden waren, lag nur drei Häuser neben der jetzt seltsam grau und trist wirkenden Fassade. Zu allem Überfluss setzte jetzt noch ein kalter, feiner Nieselregen ein, der Vitali in wenigen Sekunden bis auf die Haut durchnässt hatte. Immerhin brachte das Wetter die stummen und schreckensstarren Polizisten wieder zum Fluchen. Die unnatürliche, morbide Atmosphäre löste sich langsam auf.

    Die stämmige Ekaterina Alexandrowna Kolodina stand mit einer bunten Kochschürze in ihrem Hauseingang und hatte ihre geballte Faust vor ihren vor lauter Schreck weit geöffneten Mund gedrückt. Ihre sonst so freundlichen und lebendigen Augen wirkten jetzt starr und weit.

    Nach einigem Zögern setzte sich Vitali wieder in Bewegung und passierte dabei auch die dunkle, schmutzige Gasse, die sofort in andere mündete und in ein verwinkeltes Labyrinth überging. Eine der Seitengassen war weiträumig abgesperrt worden. Zwei jüngere Polizisten traten jetzt auf die Hauptstraße und unterhielten sich nervös über den Fall. Vitali näherte sich wie zufällig den Polizisten, ging dicht hinter ihnen her und hatte seinen Schritt ein wenig beschleunigt. Sein Freund Sergej hielt sich hingegen zurück und trat stattdessen auf direktem Wege zu der geschockten Ekaterina, ohne zuvor einen Blick in die unheilvollen Gassen geworfen zu haben.

    „Dieser Täter muss von oben auf ihn gestürzt sein. Stell dir das vor, die umliegenden Häuser sind alle mindestens fünf bis sechs Meter hoch. Ein normaler Mensch würde sich doch alle Knochen im Leib brechen“, flüsterte der erste Polizist, ein kleinwüchsiger Blondschopf mit Brille, erregt und erwartete eine Reaktion seines Kollegen.

    „Da sagst du was. Der Kerl muss die Region wie seine Westentasche kennen. Er kennt alle Hinterhalte, Schlupflöcher und konnte immer rücklings angreifen und fliehen und das bei der Anzahl an Gaunern unten am Ufer, das ist unfassbar.“, gab der stämmige zweite Kollege zu, der sehr muskelbepackt war und doch seltsam kraftlos und eingeschüchtert wirkte.

    „So etwas kann doch nicht von Menschenhand verübt worden sein, das ist doch Wahnsinn!“, ereiferte sich sein Kollege ein wenig lauter, wurde sich seines Fehlers bewusst, wandte sich betroffen um und erblickte gleichsam überrascht wie feindselig den lächelnden Vitali, der instinktiv seine Laufrichtung abgeändert hatte und nun ebenfalls auf seine neue Wohnung zusteuerte.

    Nervös wandte sich der kleine Polizist wieder um und setzte das Gespräch mit seinem Kollegen gedämpft fort. Vitali verstand nicht einmal mehr Wortfetzen und trat nachdenklich zu Sergej und Ekaterina, die inzwischen beisammen standen. Vitali grüßte seine Vermieterin leise und mit gesenktem Haupt und die herzliche Russin blickte ihn mit Tränen in den Augen langsam an.

    „Mein Gott, das ist so schrecklich. Wenn ich bedenke, dass das Ganze nur ein paar hundert Meter von meinem Haus passiert ist.“, begann sie mit stockender Stimme, ließ den Satz aber unvollendet und erschauderte.

    „Lassen Sie uns am besten hineingehen. Es hat doch kaum Sinn den Polizisten bei dieser morbiden Arbeit noch weiter zuzusehen. Ein wenig Abwechslung wird uns allen gut tun.“, bemerkte Sergej just in dem Moment, als sich ein älterer Polizist mit langen grauen Haaren dem Trio näherte und eine flache Kappe von seinem Kopf nahm.

    Energisch trat er auf sie zu und verbeugte sich leicht vor ihnen, bevor er direkt, aber stets höflich zur Sache kam.

    „Entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Igor Semjonowitsch Matafeev. Ich bin Oberkommissar in diesem Stadtteil und leite die vorläufigen Ermittlungen zu diesem schrecklichen Fall. Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“, fragte er freundlich und mit einfühlsamer Stimme.

    „Ach, Herr Oberkommissar, das ist alles so furchtbar, was hier passiert ist. Es ist ja schon seit einiger Zeit ziemlich unruhig und bedrohlich hier und endlich war mal für einige Monate Ruhe und nun direkt so etwas.“, plauderte die immer noch entsetzte Ekaterina, die in ihrer Hektik ganz vergessen hatte sich vorzustellen und dies nun mit hochrotem Kopf eifrig nachholte, wobei sie Sergej und Vitali gleich mit präsentierte. Der Oberkommissar schüttelte mit einem feinen Lächeln fest ihre Hände und blieb danach wieder wie angewurzelt diszipliniert stehen.

    „Nun, mit dem Frieden wird es wohl jetzt leider vorbei sein, da bin ich ganz ehrlich. In den letzten Monaten haben die rivalisierenden Banden sich weitestgehend in Ruhe gelassen. Sie haben teilweise sogar Bündnisse abgeschlossen, Tauschgeschäfte gemacht, wie wir aus Insiderquellen wissen. Gerade deswegen ist ein solches Massaker für uns völlig unverständlich. Jetzt suchen wir natürlich nach dem oder den Tätern und möglichen Motiven. Ich würde von Ihnen gerne wissen, wo sie gestern Abend so zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens gewesen sind und ob sie irgendetwas Verdächtiges gehört oder gesehen haben.“, informierte sich Matafeev mit besonnener Stimme.

    „Also, die beiden Herren neben mir waren gestern gar nicht in der Gegend. Jedenfalls waren sie es nicht um diese Uhrzeit. Herr Aljenikow hat gestern ein Zimmer bei mir gemietet und ist mit seinem Freund am frühen Abend vorbeigekommen. Kurz danach sind die beiden auch schon wieder gegangen. Ach, ist das schrecklich für Sie, Herr Aljenikow, dass Sie gleich zu Beginn Ihres Aufenthalts hier solch ein schreckliches Verbrechen miterleben müssen. Aber glauben Sie mir, in meinem Haus sind Sie absolut sicher, wir sind in all den Jahren noch nie angegriffen worden, keinem meiner Untermieter ist je etwas zugestoßen. Es bleibt doch bei Ihrer Entscheidung, dass Sie das Zimmer nehmen, oder etwa nicht?“, fragte die eifrige Ekaterina mit ängstlichem Unterton und obwohl Vitali gerade erst selbst diese Frage durch den Kopf geschossen war, nickte er beruhigend und versuchte ein zaghaftes Lächeln, um die Vermieterin rasch zu beruhigen.

    „Selbstverständlich, ich hatte Ihnen ja mein Wort gegeben.“, antwortete er und schluckte einen Kloß in seinem Hals herunter. Bei seiner Entscheidungsbestätigung hatte er auch an die hübsche Französin gedacht und fragte sich ängstlich, ob die junge Dame wohl in Sicherheit war.

    „Frau Kolodina, haben Sie selbst denn irgendetwas Außergewöhnliches bemerkt?“, wollte Matafeev wissen und blieb trotz des unkontrollierten Redeschwalls der rustikalen Dame völlig ruhig und geduldig.

    „Nein, Herr Oberkommissar. Ich bin wie üblich um elf Uhr abends schlafen gegangen, nachdem ich zuvor noch den Fernseher an hatte und dabei gehäkelt und einen ganzen Samowar noch geleert hatte. Ich kann nachts nie gut schlafen und höre normalerweise das kleinste Geräusch. Aber in der Nacht gab es nichts außer das Bellen einiger Hunde. Zwei meiner Untermieter, Madame Lavoie aus Frankreich und der junge Pawel Edmundowitsch Gluschenko, sind noch am späten Abend nach Hause gekommen.“, berichtete Ekaterina eifrig und wurde erst jetzt vom interessiert zuhörenden Oberkommissar unterbrochen.

    „Wer sind denn Ihre Untermieter und wie viele haben sie?“, wollte Matafeev wissen.

    „Nun, einmal eben Herr Aljenikow, den ich ihnen ja bereits vorgestellt habe. Er ist Journalist und kommt aus Moskau. Er wohnt im oberen Stockwerk mit Madame Lavoie aus Frankreich, sie studiert hier die Schauspielkunst für ein volles Semester und wohnt seit wenigen Wochen bei mir. Im ersten Stockwerk wohnt dann noch Lew Dawidowitsch Kalchanow, er ist Frührentner und lebt recht zurückgezogen. Früher hat er in Ostdeutschland gearbeitet, als Botschafter für die kommunistische Volkspartei. Sein Nachbar ist Pawel Edmundowitsch Gluschenko, er arbeitet am Hafen, kümmert sich um das Löschen der Frachten und ähnliche Dinge.“, berichtete Ekaterina auskunftsfreudig.

    „Nun, diese Madame Lavoie und Herrn Gluschenko würde ich gerne mal sprechen.“, bat Malafeev freundlich, doch Ekaterina schüttelte bedauernd den Kopf, da beide Personen schon ihre Wohnungen verlassen hatten. Der Oberkommissar stellte dankend fest, dass er somit zu einem späteren Augenblick noch einmal vorbeischauen würde und verabschiedete sich geschäftig, aber äußerst herzlich von dem aufgewühlten Trio.

    Endlich konnten die drei Befragten in das Haus einkehren und machten sich ungewöhnlich stumm und bedrückt auf den in die Wohnung der Vermieterin, die trotz der Zwischenfälle bereits ein herzhaftes Frühstück zubereitet hatte. Es gab frische Blinies ebenso wie einige großzügig gezuckerte Pfannkuchen, dazu gab es heißen und frischen Früchtetee und trockenes Weißbrot.

    Nach einigen Minuten des stillen Schweigens lockerte sich die Atmosphäre ein wenig, als Vitali seine Gastgeberin nach den letzten Untermietern fragte und Ekaterina freudig einige Anekdoten preisgab und zudem von ihrem verstorbenen Mann sprach, der vor einigen Jahren an Krebs gestorben war und von dem noch viele Fotos in den kleinen Zimmern standen. Voller Stolz berichtete Ekaterina auch von ihren beiden Söhnen, von denen es einen in einen anderen Außenbezirk von Sankt Petersburg, den anderen ins Ferne Wladiwostok verschlagen hatte. Beide hatten sich selbstständig gemacht.

    Nach etwa einer halben Stunde verabschiedete sich Sergej dann vielfach dankend von Ekaterina und seinem Freund Vitali und fuhr zu seiner Redaktion. Die Polizeisperren waren inzwischen gelockert worden und Sergej konnte problemlos die Straßen passieren und in seinem klapprigen Lada davonstottern, nachdem er mit Vitali dessen Wertsachen in die Wohnung transportiert hatte.

    Vitali hatte sich für diesen Tag frei genommen und machte sich nach dem Frühstück, wobei die wieder muntern plaudernde Ekaterina ihn zunächst gar nicht erst gehen lassen wollte, an die Arbeit in seinem Zimmer seine Habseligkeiten vernünftig anzuordnen und ein wenig aufzuräumen. Dabei hatte er als gläubiger christ einige Marienfiguren dabei, eine Bibel, ansonsten viel Kleidung, einige Haushaltsutensilien, Fotos seiner Eltern und seiner Schwester, die allesamt noch in Moskau lebten, sowie ein eigenes Radio, einige Schmuckstücke und viele Bücher. Sogar eine altmodische Schreibmaschine hatte er mitgenommen, für die Fälle, falls ihm abends in seiner Wohnung ein guter Artikel einfallen sollte. Vitali fühlte sich trotz allem seltsam euphorisiert, weil er endlich eigenständig wohnte und sich nun seine eigene Existenz aufbauen würde. In dieser Aufbruchstimmung vergaß er fast schon den Zwischenfall vom frühen Morgen und blickte gedankenverloren durch sein Fenster auf die Hauptstraße, die inzwischen gar von zaghaften Sonnenstrahlen erhellt worden war, die ihrerseits den Kampf gegen die sparsam gesäten schmutziggrauen Schneereste an den Straßenrändern aufnahmen.

     

    Nervös betrat Wladimir Alexandrowitsch Semak das nasskalte Gewölbe der Kanalisation nahe des Obvodny-Kanals im Distrikt Ligovka-Yamskaya durch eine alte schmiedeeiserne Tür, die geräuschvoll hinter ihm ins Schloss fiel.

    Nur zwei billige Ölfunzeln erhellten den isoliert gelegenen Raum, in dem bereits zwei Männer an einem einfachen Holztisch in der Mitte saßen. Abgesehen von ihnen, einigen Stühlen und zwei alten Garderoben, in denen verschiedenste Utensilien versteckt lagen, war der Raum völlig leer. Selbst auf Wachposten oder Türsteher, welche die Tätowierungen der Mitglieder der stählernen Maske normalerweise überprüften, hatte man heute verzichtet, denn es war höchste Eile geboten.

    Rasch nahm Semak auf einem der klapprigen Holzstühle Platz. Er hatte einen Aktenkoffer mitgebracht, den er nun rasch öffnete. In ihm befanden sich einige weiße Blätter, sowie ein edler Füllfederhalter.

    „Sie kommen recht spät, Genosse Semak.“, bemerkte einer der beiden Männer, der zu Semaks Linken saß und diesen aufmerksam aus kaltblauen Augen musterte.

    Semak hatte an der Kopfseite des Tisches Platz genommen und blickte den Sprecher an. Er hatte ein ziemlich pockenartig vernarbtes Gesicht, das im Halbdunkel des Gewölbes unheimlich aussah. Der Mann war für seine grausame Kaltblütigkeit bekannt und hatte die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht. Jeder hatte enormen Respekt vor ihm, angeblich sogar der Boss, der sich allerdings immer im Hintergrund hielt. Man sagte immer, dass der pockennarbige Josef Iljitsch Lukianenko eine von sozusagen zwei rechten Händen der stählernen Maske war. In der Gruppierung nannte man ihn sogar hinter hervorgehaltener Hand spöttisch die „linke Hand“ des Bosses, da Lukianenko in den frühen Neunzigern vielfach linksextremistisch gesinnte Anschläge auf hochrangige Geschäftsmänner und Politiker verübt hatte.

    Ihm gegenüber saß Dmitry Fjodorowitsch Plichanow, der mit seinen streng gescheitelten und gegelten Haaren und seinen maßgeschneiderten Anzügen das komplette Gegenteil von Lukianenko war. Er war eben die andere rechte Hand und übernahm meist die geschäftlichen Aspekte der Organisation, die sich einfach nach ihrem Boss als „stählerne Maske“ bezeichnete.

    Semak war hingegen einer der wichtigsten Kuriere und Botschafter in der noch jungen Organisation und verhältnismäßig kleinen Hierarchie. Er hielt mit Vertretern von konkurrierenden Banden Kontakt, aber auch mit hochrangigen Politikern und Vertretern der Polizei und des Geheimdienstes. Semak war einst wegen eines Putsches von seinem Ministerposten in Kolpino gestürzt worden und seitdem in kriminellen Bereichen recht erfolgreich tätig.

    Doch dem erfahrenen Mann schlotterten an diesem späten Vormittag die Knie und er brachte mit zitternden Hand einige wirre Wörter zu Papier. Verärgert zerknüllte er das Papier und nahm eine neue Seite. Die Berichte vom frühen Morgen bezüglich der grausigen Morde in der Hafengegend hatten ihn sehr aufgeschreckt und aus diesem Grund fand auch dieses improvisierte Treffen statt.

    „Verzeihen Sie, Genosse Lukianenko, ich hatte noch eine Unterredung mit einem unserer Waffenlieferanten. Seit heute Morgen ist in unseren Zentralen die Hölle los. Alle Leute sind in Alarmbereitschaft. Jeder will wissen, ob wir hinter den Taten stecken. Unser Autohändler ließ sogar durchklingen, dass er seinen Vertrag mit uns fristlos kündigen möchte. Ihm wird die Sache zu heiß. Mit solch brutalen Morden will er nichts mehr zu tun haben.“; erwiderte Semak hektisch und unkonzentriert.

    „Niemand verrät unsere Organisation. Wer ohne Bewilligung des Bosses aussteigt, muss sterben.“, bemerkte Lukianenko kalt und ohne den Hauch einer Regung.

    Semak erschauderte, denn er kannte sein Gegenüber lang genug um zu wissen, dass dieser Mann seinen Worten stets Taten folgen ließ. Ein Menschenleben war für Lukianenko wenig wert. Für ein bisschen Ruhm, Anerkennung, Wodka und einige Rubel würde er jeden Auftrag erledigen und gewissenlos jeden Gegner professionell ermorden lassen. Lukianenko war ein brillanter Taktiker und Stratege und zudem ein Organisationstalent.

    „Diese Anschläge werden unseren Geschäften mit Sicherheit wenig gut tun. Man wird Vergeltungsanschläge planen und die Polizei wird uns auch das Leben schwer machen. Wir sollten von daher möglichst diplomatisch agieren und ein erklärendes Schreiben an die Bosse der anderen Organisationen, sowie an die Polizei und den Geheimdienst aufsetzen, um die Lage sofort klarzustellen. Ein Missverständnis würde zu einem blutigen Bandenkrieg führen, den sich niemand von uns leisten möchte.“, erklärte Plichanow und nickte dem nervösen Semak auffordernd und ein wenig hochnäsig zu.

    „Vor einem Konflikt hätte ich keine Angst. Wir sind gut gerüstet. Man würde sich an uns die Zähne ausbeißen.“, warf Lukianenko kalt ein und bei dieser Vorstellung blitzten seine kalten Augen fanatisch auf. 

    „Das ist erfreulich, Genosse Lukianenko, aber wir sollten es nicht darauf ankommen lassen.“, gab Plichanow mit leicht höhnischer Stimme zurück. Er war eine der wenigen Personen, die vor Lukianenko keine Angst und auch nur wenig Respekt hatten.

    Zerknirscht schwieg der Brutale und blickte seine beiden Mitstreiter finster an. Er gab sich nun ziemlich barsch und ungehalten, was allerdings ein relativ gutes Zeichen war. Denn es wurde nur gefährlich, wenn Lukianenko schwieg, mit seinem Gesprächspartnern gar nicht mehr kommunizierte und sich seine perversen Fantasien in der Tiefe seines Blickes zu spiegeln schienen. Jetzt war er lediglich ein wenig gekränkt.

    „Nun gut, wie ich unseren Boss kenne, wird er ähnlicher Meinung sein. Aber wir sollten das Schwein finden, dass hinter der Sache steckt und uns ganz offensichtlich etwas anlasten will!“, begehrte Lukianenko grimmig auf.

    „Die Polizei und die anderen Banden werden auch hinter dem Kerl her sein.“, warf Semak leise ein.

    „Umso wichtiger ist es, dass wir diesen Bastard zuerst in die Finger bekommen und ihm einen besonders qualvollen Tod ermöglichen.“, flüsterte Lukianenko grimmig und lachte heiser.

    „Die Frage ist nur, wer ein Motiv für solch eine Tat haben könnte. Vielleicht ein ehemaliges Mitglied unserer Organisation, das sich für seinen Rauswurf rächen möchte. Möglicherweise ein brutaler Bürger, der Selbstjustiz üben und alle kriminellen Organisationen der Stadt ausschalten möchte. Vielleicht aber auch eine Art vierte Kraft, die sich ihren eigenen Machtbereich aufbauen möchte.“, gab Plichanow einige Möglichkeiten vor.

    „Die Liste der von uns verstoßenen ehemaligen Mitarbeiter können wir relativ leicht herausfinden.“, warf Semak hektisch ein.

    „Besorgt mir die Liste, ich kümmere mich um die Befragung der potenziellen Täter.“, lachte Lukianenko grimmig und knackte geräuschvoll mit seinen Händen, sodass Semak eine frostige Gänsehaut bekam.

    „Ich hätte noch einen Vorschlag. Wir alarmieren unseren Kontaktmann aus der Hafengegend. Er ist zwar nur ein einfacher Mitarbeiter, könnte sich allerdings nun als nützlich erweisen, da die Tatorte direkt bei ihm um die Ecke liegen. Er könnte sich umhören und umschauen und verdeckt agieren.“, warf Semak nach einigen Sekunden des frostigen Schweigens ein.  

    Lukianenko schnaubte verächtlich, während Plichanow unentschlossen den Kopf von einer Seite zur anderen wog. Beide schienen dem Kontaktmann nur wenig zuzutrauen.

    „Schaden kann es ja im Moment nicht.“, warf Plichanow arg zögerlich ein.

    „Wir sollten alle unsere Möglichkeiten ausschöpfen. Die Zeichen stehen auf Sturm.“, meinte Semak mahnend und hoffte die beiden Zweifler noch von seiner Idee zu überzeugen.

    „Dieser Kerl ist ein Nichtsnutz. Er war es schon immer und wird es auch immer bleiben. Er ist zwar nur ein Schläfer, aber man hätte ihm seit dem Debakel und seinem Verrat vor zwei Jahren die Zunge aus seinem dreckigen Maul herausschneiden sollen!“, begehrte Lukianenko grimmig auf.

    Er spielte damit auf einen gescheiterten Hinterhalt in der Hafengegend an, bei dem der Kontaktmann sich versehentlich versprochen und den Gegner somit misstrauisch gemacht hatte. Die Piraten vom finnisches Meerbusen hatten den Hinterhalt somit im letzten Moment erkannt, die Sache war aufgeflogen und es hatte eine wilde Schießerei gegeben. Zwar wurde niemand dabei getötet, die Beute und die potenziellen Opfer waren jedoch entkommen. Das jedenfalls war die offizielle Version des Falles. Nur Lukianenko und wenige Eingeweihte wussten, dass der Kontaktmann damals mehrfach falsch gespielt hatte und sogar eine Art Revolte gegen die stählerne maske geplant zu haben schien. Zwei seiner engsten Mitsreiter hatten dann jedoch die Seite gewechselt und den Kontaktmann auffliegen lassen. Um einen weitläufigen Skandal zu vermeiden, hatte man es so aussehen lassen, als hätte der Mann einen wichtigen Deal vermasselt. Die angeblichen Piraten waren nichts weiter als eine im Voraus engagierte Theatergruppe gewesen.

    Lukianenko hatte es sich nicht nehmen lassen dem angeblichen Verantwortlichen auf Geheiß des Bosses persönlich den Daumen der rechten Hand abzuschneiden und sich an dem Blutschwall zu ergötzen. Wenn es nach Lukianenko gegangen wäre, hätte er dem Verursacher des Debakels noch ganz andere Körperpartien abgeschnitten und erinnerte sich voll perverser Erregung an den Geruch von Schweiß und Exkrementen des Kontaktmannes. Allerdings hatte eben jener Mann eine zweite Chance als Schläfer erhalten und lebte davon auch recht gut. Er kannte die Hafengegend wie seine Westentasche und war trotz seines Fehlers im Grunde unersetzbar. Selbst intern hatte man diese Art der Begnadigung durch die stählerne Maske nicht verstanden. Viele vermuteten jedoch, dass die stählerne Maske selbst einmal so behandelt worden war und auf Grund eines Fehlers seinerseits die Brandnarben in seinem Gesicht entstanden waren, die seine Maske kaschieren sollte. Da man über den Boss allerdings nur wenig Konkretes wusste, war man fast immer auf Spekulationen angewiesen. Die „stählerne Maske“ war längst eine Art lebender Mythos geworden.

    „Nun, vielleicht kann er sich ja jetzt für die Sache von damals entgültig revanchieren. Ich bin auch dafür, dass wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen.“, entschied sich Plichanow endlich und Lukianenko schüttelte verächtlich den Kopf, stimmte aber nicht mehr gegen den Vorschlag.

    „Gut, dann wäre dies ja auch geregelt. Ich schlage vor, dass wir diese Maßnahmen sofort in die Tat umsetzen. Genosse Lukianenko, ich erstelle Ihnen die Liste mit den betreffenden Personen und werde zudem das Schreiben aufsetzen, um die Gemüter irgendwie zu beruhigen. Genosse Plichanow, Sie kümmern sich also um unseren Kontaktmann. Ich schlage vor, dass wir uns heute Abend um acht Uhr wieder hier treffen, um unsere Ergebnisse zu analysieren. Viel Erfolg, Genossen.“, resümierte Semak eifrig und machte einige krakelige Notizen.

    Ohne ein Wort des Abschieds stand Lukianenko auf und verließ mit schweren Schritten den stinkenden, feuchten Raum und riss mit roher Gewalt die quietschende Tür auf, sodass einige Ratten verschreckt aus ihren Winkeln krochen. Lukianenko spuckte verächtlich in ihre Richtung und trabte davon.

    „Viel Erfolg, Genosse Semak. Ich melde mich telefonisch bei Ihnen.“, verabschiedete sich Plichanow bei seinem Kollegen und verließ mit gerümpfter Nase und sanfterem Schritt den Raum durch eine andere Eisentür, die in einen Gang mündete, der in ein altes und verlassenes Wasserwerk führte.

    Dann machte auch Semak sich auf den Weg. Er ging denselben Weg wie Lukianenko und folgte einem Labyrinth von unterirdischen Gängen, die ihn schließlich in eine verlassene Metrostation führen sollten.

    Semak kannte den Weg eigentlich wie im Schlaf. Dennoch fühlte er sich jedes Mal unwohl, glaubte in den Schatten der Seitengänge verborgene Gestalten zu erkennen und litt zudem leicht an Platzangst. Das Rascheln und Fiepen der zahllosen fetten Ratten, die um seine Füße krochen munterte seine Stimmung auch nicht gerade auf.

    Plötzlich hörte Semak jedoch dumpfe Schritte und ein leichtes Scheppern und blieb abrupt stehen. Sein Herzschlag raste, Schweiß strömte über seine flache Stirn und atemlos fuhr Semak herum. Das Geräusch war scheinbar irgendwo hinter ihm aufgeklungen, vielleicht auch in einem der linken Seitengänge, man konnte die Akustik in der alten Kanalisation nie so richtig deuten.

    Semak bestand nicht darauf näher zu erfahren, mit was er es zu tun hatte. Er fühlte sich unwohl und beschleunigte ängstlich seine Schritte, anstatt dem Geräusch auf den Grund zu gehen. Er redete sich hektisch ein, dass er wohl nur das Trippeln einer besonders dicken Ratte vernommen hatte. Er hasste diese pelzigen Viecher wie die Pest. Dazu kam noch der penetrante Geruch nach Exkrementen, die seinem Magen übel mitspielten.

    Semak rannte gerade eine kleine Treppe hoch, als er ein dumpfes Ächzen und Stöhnen hinter sich hörte und mit einer Gänsehaut mitten in der Bewegung erstarrte. Sein Herzschlag pochte unangenehm in seinem Kopf und gegen seine Rippen, sodass er sich kaum mehr auf seine Umgebung konzentrieren konnte. Hatte er sich die Geräusche bei all dem Stress vielleicht nur eingebildet?

    Semak atmete tief durch und setzte sich gerade wieder in Bewegung, als er wieder Schritte hinter sich hörte. Doch dieses Mal reagierte Semak anders als zuvor. Fluchend nahm er seine Beine in die Hand und raste die Treppe hinauf in den nächsten Gang. Er warf keinen Blick zurück, sondern dachte nur an den Ausgang aus der Kanalisation, der nicht mehr weit entfernt liegen konnte.

    Hastig rutschte er über den nassen Untergrund, bog rasch in einen Seitengang ab, der völlig durchnässt war, da sich auf der Mitte des Weges eine undichte Stelle an der Decke befand. Semak sprang über die kleinen Pfützen und hetzte in einen breiteren Gang, neben dem direkt ein stinkender Strom aus Abwasser, Exkrementen und Regenwasser floss und sämtliche Geräusche schluckte. Semak warf einen panischen Blick über seine Schultern und sah im flackernden Licht der Notbeleuchtung einen gigantische Schatten, der überraschend schnell um die Ecke kroch und ihm bereits dicht auf den Versen war.

    Semak kam zu einer vergitterten Tür, die er nervös entriegelte, um dann in einen kleineren Gang zu kommen, der ihn direkt zu einem Durchgang zur verlassenen Metrostation führen sollte. In seiner Eile schloss Semak die Gittertür gar nicht mehr hinter sich, sondern hetzte ächzend auf die Treppe zu, verfehlte eine Stufe und rutschte auf dem nassen Untergrund ungelenk aus.

    Dumpf prallte er mit seinem Kinn gegen die Unterkante einer Stufe und biss sich auf die Zunge. Ein höllischer Schmerz raubte ihm fast die Sinne, Blut tropfte aus seinem Mund und Tränen schränkten seine Sicht weiter ein. Jammernd erhob sich Semak, taumelte ein paar Stufen in die Höhe, als er ein gieriges Schnaufen und einen heißen Atem direkt in seinem Rücken spürte.

    Semak hatte die Kontrolle über seinen Körper längst verloren. Seine Knie schlotterten, seine Schließmuskel öffneten sich und zusammenhangslose Wörter kamen über seine blutigen Lippen. Mit tränengefüllte Augen ging Semak zu Boden, schlug sich seine Knie auf den harten Stufen auf, doch er nahm den Schmerz inzwischen kaum mehr wahr.

    „Bitte nicht. Bitte!“, jammerte er und wollte seiner Stimme einen lauten und schreckhaften Tonfall geben, doch sie klang nur noch schwach und monoton.

    Sein unidentifizierter Verfolger aber kannte keine Gnade und eine schwere Pranke riss Semak an seinem linken Arm so heftig herum, dass dieser ihm dabei fast ausgerissen wurde. Durch einen Tränenschleier sah Semak eine völlig entstellte Fratze, ein behaartes Gesicht mit animalischen Augen, die auf unheimliche Weise doch irgendwie klug wirkten. Das Biest riss drohend sein Maul auf und entblößte eine lange Reihe spitz zulaufender Raubtierzähne.

    Dann schlug die zweite Pranke dem bitterlich weinenden Semak dumpf gegen den Hinterkopf und raubte ihm fast das Bewusstsein, bis er einen dumpfen Schmerz an seinem Hals spürte, ein grässliches Knacken vernahm und seine Augen in eine rötliche Schwärze starrten, während seine Sinne von einem unerträglichen Gestank benebelt wurden. Fast hätte sich Semak übergeben und dieser Brechreiz war sein letzter Gedanke bevor er plötzlich seinen Körper nicht mehr spürte, nur noch Augen für die unheilvolle Schwärze hatte und sein Gesicht reflexartig zuckte.

    Sein vom Rest des in sich zusammensackenden Körpers getrennter Kopf verschwand in dem Rachen der unheilvoll brüllenden Kreatur, bevor sie diese Körperpartie wieder wuchtig ausspie und der Schneise der Verwüstung, die sie selbst geschaffen hatte, den Rücken zukehrte. Als grausiges Andenken lag der Körper des toten Russen mitten auf der Treppe, während der Schädel zurück bis zu der Gittertür gerollt war.

    Nun war hingegen die Zeit der Ratten gekommen, die gierig durch die dreckigen Gänge und aus dem Abwasserstrom hervorkrochen, nachdem die Kreatur in der Tiefe des Labyrinthes endlich verschwunden war.

     

    Vitali schreckte aus seinem Holzstuhl hoch, den er sich bequem vor dem Tisch mit der Schreibmaschine gestellt hatte, an der er einen ausführlichen Artikel zu den Ereignissen der Morgenstunden geschrieben hatte. Inzwischen war es früher Nachmittag geworden und kalte Sonnenstrahlen fielen geradewegs in seine neue Wohnung ein.

    Erst jetzt realisierte Vitali das Klopfen an seiner Tür, trat vom Tisch weg und an der Tür zu Küche und Badezimmer vorbei durch einen kleinen Flur, der zu einer Garderobe und direkt daneben zur Eingangstür führte. Durch den Türspion bemerkte Vitali die schöne französische Studentin, die ihm ein wenig gequält zulächelte.

    Freudig schloss Vitali seine Tür auf und verbeugte sich leicht vor der schönen Dame, die nun doch ein wenig freundlicher lächeln musste.

    „Nun, hast du die Geheimnisse von Gogols Nase schon tief ergründet?“, fragte Vitali mit einem spöttischen Lachen, das die Atmosphäre sofort auflockerte.

    „Nasen sind nicht gerade die Körperpartien, die mich vorrangig interessieren, Vitali. Aber wir kommen mit dem Stück gut voran, falls du das meinst.“, gab Eva charmant zurück.

    Vitali durchfuhr bei dieser Bemerkung ein heißer Schauer und er blickte die französische Schönheit unverhohlen an. Sie trug ein gelbes, sommerlich locker wirkendes Oberteil mit kurzen Ärmeln, darunter einen Jeansrock und eine elegant wirkende schwarze Strumpfhose. Ihre silbernen Schuhe wirkten grazil, aber nicht übertrieben hochhackig. Die Französin hatte sich dezent geschminkt und ihre Farben passten wunderbar zu dem lockeren Stil ihres Oberteils.

    „Hast du noch nicht genug gesehen oder darf ich hereinkommen?“, fragte Eva mit glockenhellem Lachen und Vitali errötete vor Scham. Der Journalist beeilte sich seinem Gast rasche Einlass zu gewähren.

    Anerkennend nickend blickte sich die Französin um, während Vitali die Tür hinter ihr schloss.

    „Für einen Junggesellen hast du dich sehr sorgsam und gepflegt eingerichtet.“, bemerkte sie ein wenig überrascht.

    „Das ist nur der erste Eindruck. Sobald ich hier die ersten Artikel schreibe, wird alles im Chaos versinken.“, gab Vitali bescheiden zu und bot der Französin etwas zu trinken an.

    Eva Maelle Lavoie wählte einen Obstsaft, während Vitali mit einem Glas klaren Wasser vorlieb nahm. Dann nahmen sie beide am Küchentisch Platz und warfen sich gegenseitig verstohlene Blicke zu, bevor die Französin ihr Glas mit einem Ruck abstellte und ein etwas ernsteres Gesicht machte.

    „Was ist los mit dir? Schmeckt der Saft nicht?“, fragte Vitali besorgt und griff instinktiv nach der Hand der Französin. Als er sich seiner Tat bewusst wurde, zog er sie schnell wieder zurück, was bei Eva ein leichtes Schmunzeln verursachte. 

    „Doch, der Saft ist ausgezeichnet. Ich würde gerne selbst solch einen haben. Sehr fruchtig und gut gemischt.“, stellte Eva anerkennend fest.

    „Den wirst du im Laden nicht finden. Meine Mutter hat ihn selbst gemacht und mir einige Rationen mitgegeben. Ich kann gar nicht genug davon kriegen.“, gab Vitali lächelnd zu und Eva nickte anerkennend.

    „Ja, so ist das mit den guten Müttern. Meine hat immer wunderbare Flammkuchen gemacht und ihre Crêpes waren auch nie zu verachten. Nein, aber ich musste gerade nur an heute Morgen denken. Schrecklich, was da passiert ist, eine Schauspielkollegin hat mir davon berichtet. Man muss die Leichen gefunden haben, kurz nachdem ich aus dem Haus gegangen war.“, bemerkte Eva mit leiser und dunklerer Stimme als gewöhnlich.

    Vitali stelle sein Glas ebenfalls ab und atmete tief durch.

    „Ich hatte mir meinen Umzug und meine Eingewöhnungsphase hier ein wenig ruhiger vorgestellt. Ich habe mir heute Morgen direkt Sorgen um dich gemacht. Vor allem, als ich erfahren habe, dass du gestern Abend noch unterwegs warst und um die Uhrzeit zurückgekehrt bist, als dieser grausige Mörder seinen Opfern aufgelauert hat.“, bemerkte Vitali in ernstem Tonfall.

    „Ich war gestern am Gribojedow-Kanal unterwegs. Eine Bekannte von mir hat dort ein kleines Hausboot und wir haben dort in gemütlicher Runde gefeiert bis in den frühen Morgen.“, erklärte die Französin mit einem Frösteln.

    „Nachts allein unterwegs zu sein ist für eine solch schöne Frau für dich immer gefährlich.“, bemerkte Vitali mit einem Lächeln und versuchte die Atmosphäre wieder ein wenig aufzulockern, indem er seiner Gesprächspartnerin russische Schokolade verschiedenster Sorten in grellbunten Papieren anbot. Die Französin nahm das Angebot dankbar an und knabberte auf einem der Stücke nachdenklich herum.

    „Ich weiß auf mich aufzupassen. Vor einem Jahr haben mich einmal drei Typen nachts in Lille überfallen, die mich vergewaltigen wollten. Sie dachten, sie hätten in der Metro leichtes Spiel mit mir, aber ich habe einem von denen die Nase gebrochen, den anderen windelweich geschlagen und der dritte hat an der nächsten Station panisch die Flucht ergriffen. Ihre Gesichter werde ich bis heute nicht vergessen. Vermutlich war die Sache für diese Halbstarken mehr eine Art Mutprobe gewesen. Immerhin hatten sie es geschafft meine schönste Bluse bei der Auseinandersetzung zu zerfetzen.“, bemerkte die Französin mit einem wehleidigen Blick.

    „Lieber die Bluse wurde zerkratzt, als dein schönes Gesicht. Wenn du willst gehen wir mal gemeinsam einkaufen und ich kaufe dir eine schöne neuen Bluse.“, bot Vitali an und die Französin lächelte charmant und ergriff ihrerseits nun die Hand des jungen Journalisten, dem sofort ein süßlicher Schweiß ausbrach und der sein Glück kaum fassen konnte.

    „Da kann ich schlecht widerstehen.“, hauchte Eva Maelle Lavoie und zwinkerte Vitali eindeutig zu.

    „Ich auch nicht.“, fügte er unbeholfen und leicht krächzend hinzu und konnte seinen Blick nicht von der schönen Dame ihm gegenüber lösen.

    „Ein wenig russische Kultur, beigebracht von einem charmanten und jungen Mann aus der Hauptstadt, kann gar nicht falsch sein.“, meinte die Französin mit einem verschmitzten Lächeln und Vitali hatte inzwischen eine erregte Gänsehaut bekommen und scharrte unruhig mit seinen Füßen unter dem Tisch.

    In diesem Moment fielen die Sonnenstrahlen durch das Fenster der Küche und tauchten die Französin in ein fast engelhaftes Licht. Vitali staunte über ihre reine, weiche Haut und ihr edles, offenes Haar und war völlig sprachlos, was bei dem Journalist schon berufsmäßig äußerst selten vorkam.

    Erst nach einigen Sekunden, die Vitali wie eine halbe, schöne und unsterbliche Ewigkeit vorgekommen waren, löste die Französin ihren Blick von Vitali und zog ihre filigrane Hand sanft zurück. Vitali hatte Lust diese Hand zu nehmen, sie zu küssen, sie zu umschmeicheln und nie mehr los zu lassen. Er spürte eine nie gekannte Leichtigkeit in sich, die er selbst bei seiner letzten Freundin, einer ambitionierten Studentin aus Moskau, die wenig Zeit für ihn gehabt hatte, nie gespürt hatte. Er spürte einfach, dass die Französin ganz anders war, als alle Mädchen, die er so gekannt hatte. Mit Wehmut dachte er schon daran, dass die edle Französin lediglich bis zum Ende des Jahres in Russland verweilen würde. Er wusste schon jetzt, dass dieser Abschied ihm in jedem Fall sehr schwer fallen würde.

    Unwillig schüttelte er den Kopf und warf diesen Gedanken ab. Er wollte sich jetzt keine Sorgen machen, sondern seine Zeit hier genießen. Zudem hatten die beiden bislang bestenfalls geflirtet und so wollte er noch nichts überstürzen. Und doch fühlte Vitali sich magisch angezogen und wollte es bei den vorsichtigen Annäherungen gewiss nicht belassen. Andererseits fragte er sich, ob er als einfacher und armer Journalist eine solche Frau überhaupt verdient hatte. Sie hatte sicher viel höhere Ambitionen als er selbst, war sehr klug und extrovertiert und schien auch nicht gerade aus den ärmsten Verhältnissen zu stammen. Vitali fragte sich, was ihre Familie wohl dazu sagen würde, wenn sie erfuhr, dass die französische Schönheit sich mit einem einfachen Russen eingelassen hatte. Auf der anderen Seite hatte Vitali schon immer ein Faible für ausländische Frauen gehabt, den Grund dafür konnte er sich bei seinen eher konservativ eingestellten Eltern selbst nicht erklären.

    „Jetzt fällt mir auch gerade ein, dass ich gestern vor dem Haus noch einen anderen Mitbewohner getroffen habe. Pawel Edmundowitsch Gluschenko, ein Hafenarbeiter. Er wohnt ein Stockwerk unter uns. Er wirkte seltsam erregt, völlig verschwitzt und ziemlich schmutzig.“, bemerkte die Französin, die wieder ein wenig ins Grübeln gekommen war.

    Ernüchternd seufzend löste sich Vitali von seinen erwärmenden Gedanken und nahm den Faden zu diesem unangenehmen Thema wieder auf. Dabei kaute er auf einem besonders harten Keks mit Karamelfüllung herum.

    „Vielleicht hatte er einen anstrengenden Schichtdienst.“, warf Vitali schulterzuckend ein.

    „Ich habe drei Jahre meines Lebens in der französischen Hafenstadt Calais verbracht. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, mein Vater blieb in Lille, meine Mutter zog es nach Calais und später nach Paris. Meine Mutter hatte in Calais einen neuen Freund, einen marrokanischen Hafenarbeiter. Er und seine Freunde hatten immer einen ganz eigentümlichen Geruch, wenn sie von ihrem Schichtdienst kamen. Sie rochen nach altem Meereswasser, nach Öl oder Benzin. Jedenfalls hatten sie alle den gleichen undefinierbaren Geruch. Dieser Gluschenko hatte den gewiss nicht. Ich habe ihn noch nie bei ihm bemerkt.“, stellte die aufmerksame Französin fest und trank den letzten Schluck ihres Saftes aus.

    „Du willst also sagen, dass er möglicherweise etwas mit den Morden zu tun hatte?“, fragte Vitali, der sich von seinem Stuhl erhoben hatte und an den Kühlschrank ging, um der Französin ein wenig Saft nachzuschenken.

    „Das will ich nicht einmal sagen. Er wirkte seltsam erregt, als ob er unter Drogen stünde. Er hat kein Wort mit mir gewechselt, ist wie ein Verrückter ins Haus gerannt und hat sich dann fast panisch in seinem Zimmer eingeschlossen. Das war richtig unheimlich.“, bemerkte die Französin, die sich nun ebenfalls erhoben hatte und einige Blumenvasen auf der Fensterbank begutachtete. Das Fenster selbst führte auf die Gasse hinaus, aus der am frühen Morgen die Polizisten mit dem Toten gekommen waren. Der Bereich war immer noch weiträumig abgesperrt, aber es war keine Menschenseele zu sehen, bis auf einen schmierigen Geschäftsmann, der gar nicht in die Hafengegend passen wollte und argwöhnisch blickend an der Gasse vorbeischlenderte und auch die Außenfassade des Hauses kritisch beäugte.

    „Vielleicht hat er die Tat zufällig mit ansehen müssen und stand unter Schock. Die Polizei wollte jedenfalls noch einmal mit ihm sprechen. Mit dir im Übrigen auch.“, bemerkte Vitali und kehrte mit einem gefüllten Saftglas zu der Französin zurück, die nachdenklich am Fenster stehen geblieben war. Vitali roch ihr angenehmes, dezentes Parfüm und staunte wieder über die elegant frisierte Haarpracht der Französin.

    Langsam wandte sich Eva Maelle Lavoie zu Vitali um, nahm lächelnd das Glas entgegen und prostete dem Journalisten zu, der sein eigenes Glas ebenfalls mit Saft nachgefüllt hatte.

    „Auf eine schöne Zeit in Sankt Petersburg!“, rief der Russe feierlich.

    „Auf eine schöne Zeit für uns.“, fügte die Französin mit einem glockenhellen Lachen hinzu, als sie das errötete Gesicht ihres Gegenübers bemerkte.

    In nur wenigen Zügen leerte die Französin ihr Glas, bedankte sich sanft und tätschelte Vitali dabei zärtlich auf die Schulter, bevor sie ihm einen zarten Kuss auf die Wange hauchte und sich für einige Hausaufgaben in ihr eigenes Appartement zurückzog.

    Als die Tür hinter der Schauspielerin zugefallen war, atmete Vitali tief durch und ließ sich mit einem glückseligen Lächeln in sein Bett fallen. Kurz darauf fielen ihm auch schon die Augen zu und er sank in einen leichten Schlaf und wirren Traum, in dem sowohl sein neuer Schwarm, als auch ein düsterer, unerkennbarer Mörder ihr Unwesen trieben.

     

    Sergej Wiktorowitsch Stepanow saß in einem engen Raum mit schmutzigen Fensterscheiben und einem brummenden Computer und spielte nachdenklich mit seinem Füllfederhalter, während er sich in dem Redaktionszimmer umsah. Er hatte seinen Arbeitsplatz mit diversen Postern verschönert, hauptsächlich mit ehemaligen Spielern von Zenit Sankt Petersburg, aber auch einige Poster bekannter russischer Bands hatte er aufgehangen. Lustlos pickte er hin und wieder in einigen aufgewärmten Pelmeni, Teigtaschen mit Fleischfüllung, die er sich in der Mittagspause geholt hatte oder starrte auf den flackernden Bildschirm.

    Seit einer guten Stunde saß er nun schon an einem Artikel, doch die Ereignisse vom frühen Morgen ließen seine Konzentration immer wieder schwinden. Hin und wieder starrte er gedankenverloren auf den Leninskiy Prospekt nahe der Metrostation Moskovskaya, wo sich die Zeitungsredaktion befand.

    Sergej schrak aus seinen trüben Gedanken hoch, als plötzlich schrill das Telefon klingelte. Seufzend starrte er auf den überlauten schwarzen Apparat, der auch nach einigen Sekunden nicht verstummen wollte und nahm ungehalten ab. Eine neuerliche Störung würde ihn noch weiter vom Fertigstellen seines Artikels abbringen.

    „Stepanow hier, vom Moskovskaya Kurier.“, meldete sich Sergej kurz angebunden.

    „Sergej, ich bin es, Sascha Smertin.“, antwortete ihm eine flüsternde, hektische Stimme, die er nur zu gut kannte.

    Sascha Sergejewitsch Smertin war ein Kleinkrimineller, dem Sergej vor einigen Monaten zufällig aus der Patsche geholfen hatte. Seitdem bekam er von dem jungen Russen hin und wieder gewisse Insiderinformationen und wusste, was in der Unterwelt der Stadt vor sich ging. Allerdings hatten die beiden schon seit geraumer Zeit keinen intensiven Kontakt mehr gepflegt.

    „Sascha, ich habe wenig Zeit. Was gibt es?“, fragte Sergej ein wenig ungehalten.

    „Sergej, ich habe auch nicht mehr viel Zeit! Ich bin bei unserem Treffpunkt im Hafen. Ich stecke in Schwierigkeiten. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht nur beobachtet, sondern auch verfolgt werde. Es hat etwas mit diesen vier Morden in dem Viertel zu tun, da bin ich mir ganz sicher!“, ächzte der Kleinkriminelle hektisch.

    Da wurde Sergej hellhörig und richtete sich aus seinem billigen Sessel aus unechtem Leder auf. Sofort griff er zu Stift und Papier und versuchte seinen Gesprächspartner zu beruhigen.

    „Ganz ruhig Sascha. Erst einmal der Reihe nach gehen. Was ist passiert?“, erkundigte sich Sergej deutlich freundlicher, aber dennoch in klarem und hartem Tonfall.

    „Ich war gestern noch in der Gegend unterwegs, habe die schöne Evgenija besucht. Auf meinem Rückweg bin ich dann durch die Gassen des Hafenviertels gekommen und habe direkt eine enorme Unruhe bemerkt. Einige bullige Typen unter der Knute von Matschiwjenko haben sich herumgetrieben und fieberhaft nach irgendeinem Flüchtigen gesucht. Ich habe einen großen Bogen um sie gemacht, wollte keinen Ärger haben. Da kam mir plötzlich so ein völlig verschwitzter Typ entgegen, der völlig nervös wirkte, mich entsetzt anstarrte und dann eilig davonlief. Eine Seitenstraße weiter habe ich dann diesen anderen Toten liegen sehen, Kozakow heißt er. Und das ist nicht alles Am Ende der Gasse habe ich in der Notbeleuchtung einen riesigen Schatten gesehen von einer großen Kreatur, die davonschlich. Ich könnte schwören, es sei ein Monster oder Dämon gewesen, wenn ich so etwas nicht für Aberglaube halten würde. Meine Mutter Tatjana hatte vielleicht doch damit recht, dass sich in dieser Gegend böse Geister herumtreiben.“, berichtete Sascha heftig keuchend und atemlos zugleich.

    Sergej wurde der Bericht zu bunt und er unterbrach den nervösen Kleinkriminellen rasch.

    „Bist du sicher, dass du nicht nur das ein oder andere Bier zu viel getrunken hast, mein lieber Sascha?“, fragte Sergej spöttisch zweifelnd.

    „Verdammt, du kannst mir glauben. Als ich den Typen da liegen gesehen habe, war ich auf einen Schlag wieder nüchtern!“, schwur Sascha mit gepresster Stimme.

    „Und jetzt glaubst du, dass diese, sagen wir mal, Kreatur dich verfolgt?“, hakte Sergej nach und klang immer noch alles Andere als überzeugt.

    „Nein, nein, nicht dieses Monstrum. Der verschwitzte Typ, der mir über den Weg gelaufen ist. Er muss etwas damit zu tun haben. Ich habe das Gefühl ihn ständig zu sehen, es ist einfach grausam.“, stotterte Sascha und ein verzerrtes Knacken drang aus der Leitung.

    „Du bist nicht zufällig ein wenig paranoid?“, wollte Sergej sehr direkt wissen und hörte ein keuchendes Atmen seines Gesprächspartners, das durch die schlechte Leitung überlaut zu hören war.

    „Verdammt, du könntest mir wenigstens einmal glauben! Ich lüge dich nicht an!“, fauchte Sascha mit gepresster Stimme und Sergej hob beschwichtigend seine Arme, obwohl sein Gesprächspartner ihm gar nicht gegenüber saß. Er fühlte jedes Telefonat sozusagen mit und war stets mit vollem Herzen bei der Sache. Auch jetzt konnte er sich den ungewaschenen, kleinwüchsigen Sascha vorstellen, der nervös hin und her wandernd in einer der halb zerfallenen und scheibenlosen Telefonhäuschen stand.

    „Beschreibe mir wenigstens den Kerl, dem du über den Weg gelaufen bist!“, forderte Sergej seinen Kontakt auf.

    „Das kann ich nicht am Telefon. Er war etwas jünger als ich, ein wenig größer auch und schlaksig. Sein Gesicht, das war richtig schlimm, irgendwie völlig vernarbt. Herrgott, Sergej, komm bitte vorbei, ich kann nicht länger warten!“, ächzte der Kleinkriminelle jetzt in hoher und panischer Tonlage.

    „Warum sagst du das alles nicht der Polizei?“, wollte Sergej noch wissen.

    „Verdammt, dann würde mich dieser Typ doch bei nächster Gelegenheit umbringen, wenn diese Idioten mit ihren Sirenen aufkreuzen und alle Leute aufscheuchen. Selbst dezentere Bullen kann man in unserer Gegend auf einem Kilometer gegen den Wind riechen. Ich möchte hier nicht mein Todesurteil unterschreiben. Komm vorbei! Sofort! Bitte!“, schrie Sascha jetzt außer sich vor Verzweiflung ins Telefon und legte dann hektisch auf.

    Nachdenklich blickte Sergej auf den Hörer, aus dem nur noch ein monotones Tuten drang. Er hatte seinem Kontakt eigentlich noch etwas mitteilen wollen, es aber bereits wieder vergessen. Er wog kurz ab, ob er der Forderung des Kleinkriminellen tatsächlich Folge leisten sollte. Er kannte Sascha gut genug, um zu wissen, dass er oft und gerne übertrieb und ein großer Schwätzer war. Aber in diesem Fall hatte er ernsthaft besorgt und sogar panisch geklungen. So hatte Sergej ihn tatsächlich in den heikelsten Situationen noch nicht erlebt. Seine Entscheidung war längst gefallen.

    Seufzend schaltete Sergej den Computer aus, griff zu seiner schwarzen Lederjacke, die über seinem Stuhl hing und verließ mit einer knappen Erklärung gegenüber seines ungehalten wirkenden Chefredakteurs das Gebäude. Sergej entschied sich für die Metro gegenüber seines Ladas, da der Innenstadtverkehr um diese Uhrzeit bereits gigantische Ausmaße angenommen hatte.

    Mit gemischten Gefühlen machte er sich auf den Weg in die Hafengegend. Irgendwie ließ ihn das drückende Gefühl nicht los, dass in diesem Fall jede Sekunde entscheidend sein konnte.

     

    Nachdem Vitali durch ein undeutbares Geräusch aus seinem unruhigen Schlaf gerissen worden war, hatte der junge Journalist endlich seinen Artikel fertig gestellt und sich mit einer eiskalten Dusche von der Müdigkeit befreit. Danach nahm sich der junge Russe vor, sich ein wenig in der Stadt zu bewegen und verließ am späten Nachmittag noch einmal seine Wohnung. Auf der Treppe wäre er beinahe mit einem fein gekleideten Geschäftsmann zusammengestoßen, der mit grimmigem Gesicht aus einem der Zimmer im ersten Stock getreten war. Vitali sah im Vorbeigehen das schüchterne, verschwitzte Gesicht eines Mannes, dessen rechte Gesichtshälfte durch eine längliche Narbe entstellt war. Der Mann beeilte sich die Tür zu seiner unaufgeräumt wirkenden Wohnung zu schließen.

    Vitali passierte den mürrisch wirkenden Geschäftsmann, der ihm feindselig nachblickte, sodass Vitali ein leichtes Schaudern bekam. Er ging davon aus, dass der nervöse Zimmerbewohner der seltsame Gluschenko gewesen sein musste. Vitali überlegte kurz, ob er die Polizei verständigen sollte, die den unheimlichen Mann ja noch befragen wollte, doch er verwarf diesen Gedanken mit einem unguten Gefühl wieder. Er wollte sich nicht direkt unbeliebt bei seinen Nachbarn machen und in Dinge einmischen, die ihn selbst im Grunde wenig angingen. Dennoch war ihm die Sache alles Andere als koscher. Warum erhielt ein schäbiger Hafenarbeiter Besuch von einem herausgeputzten Geschäftsmann? Vitali tippte instinktiv darauf, dass es bei der ganzen Geheimniskrämerei möglicherweise um illegale Schiffslieferungen gehen konnte, vielleicht waren auch Drogen im Spiel.

    Vitali war erleichtert, als er aus dem eng wirkenden und stickigen Treppenhaus hinaus auf die Hauptstraße fand, wo er endlich tief durchatmen konnte. Es war immer noch relativ kalt draußen, die Temperaturen lagen trotz des Sonnenscheins nur unweit über dem Gefrierpunkt. Vitali zog seinen Schal von Zenit Sankt Petersburg enger um seinen Hals und setzte sich eine dunkle Wollmütze auf.

    Der junge Journalist ging zu dem nicht weit entfernt liegenden Fluss Bol’shaya Izhorka, der trotz seines Namens eigentlich mehr ein kleiner Kanal war. Der frische Wind vom Hafen hinter ihm und das Geschrei der Möwen weckten die müden Glieder des Journalisten, der sich vorgenommen hatte bis zum Izmaylovkiy Prospekt zu gehen, der ihn auf fast direktem Weg zur Dreifaltigkeitskathedrale führte, die der gläubige Russe sich heute ein wenig ansehen wollte. Er hatte in den letzten Tagen und Wochen schon viele Kirchen und andere Denkmäler in der russischen Metropole am finnischen Meerbusen gesehen und gestand sich insgeheim sogar ein, dass er diese Stadt fast noch mehr mochte als Moskau. Lediglich ein Besuch der Peter-und-Paul-Festung und eine Besichtigung des prächtigen Eremitages waren ihm bislang noch nicht geglückt, denn dazu hatte die Zeit gefehlt.

    Auch heute streifte Vitali wieder viele Touristen, vor allem Schulklassen, die sich hektisch durch die Straßen der Stadt bewegten, um ihren Reiseleitern oder Lehrern zu folgen. Straßenmusikanten spielten leidenschaftlich Geige, Trompete oder sogar hin und wieder eine Dombra, was eigentlich ein zentralasiatisches Zupfinstrument ist. Vitali fühlte sich in dieser friedlichen und dennoch belebten Atmosphäre wohl und konnte sich ein wenig ablenken.

    Nach einiger Zeit erreichte er endlich die Dreifaltigkeitskathedrale, deren leuchtend blau gestrichenen Kuppeln er bereits aus einiger Ferne ausmachen konnte. Staunend schlenderte Vitali über den weiträumigen Platz auf den Eingang der eleganten Kathedrale zu, vor dem sechs weiße Säulen das kurze Vordach stützten.

    Andächtig zog der Journalist das Portal auf und trat leise in die Kathedrale, die sich als dreischiffiges Bauwerk erwies und durch mächtige Säulen mit korinthischen Kapitellen gegliedert war. Die Gewölbe und die Innenseite der Kuppel waren von edlen Malereien verziert. Die Zerstörungen durch den Brand bei den Restaurierungsarbeiten waren komplett verschwunden und der Wiederaufbau hatten dem Gebäude wenig von seinem alten Charme genommen.

    Ehrfurchtsvoll näherte sich Vitali, der sich seines Schals und seiner Mütze entledigt hatte, den vorderen Sitzreihen und musterte Reliquien und den Altar im vorderen Bereich. Außer ihm befanden sich nur wenige Touristen und ein korpulenter Mönch in der Kathedrale. Vitali ergriff eines der arg lädierten Gebetsbücher und nahm zögernd neben dem Mönch Platz, der in einem stillen Gebet vertieft war.

    Auch Vitali ließ sich von der heiligen Atmosphäre inspirieren und schloss beim Gebet die Augen, um sich mehr auf seine Wünsche, Sorgen und sein Zwiegespräch mit einer höheren Macht zu konzentrieren. Vitali betete für seine Familie, für seinen Neuanfang in Sankt Petersburg und zuletzt sogar für seine neue französische Bekanntschaft.

    Als er das Gebet beendet hatte, war der frühe Abend schon längst angebrochen und draußen war es dunkel und kalt geworden. Vitali war aus einem tranceähnlichen Zustand erwacht und spürte erst jetzt die Kälte in dem edlen Bauwerk.

    Neben ihm hatte auch der ältere Mönch ins einer braunen Kutte sein stummes Gebet soeben beendet und lächelte aus seinem zerfurchten und mit einem wuscheligen, rotbraunen Vollbart übersäten, aber durchaus warmherzigen und sympathischen Gesicht dem Journalisten zu.

    „Du bist neu hier in der Kathedrale, mein Bruder.“, stellte der Mönch mit sanfter Stimme fest.

    „In der Tat, Bruder. Ich heiße Vitali Sergejewitsch Aljenikow. Ich komme aus Moskau und bin erst seit wenigen Wochen in der Stadt. Ich arbeite als Journalist.“, antwortete Vitali ruhig und respektvoll, denn er war sehr froh mit einem Mönch in Kontakt zu treten.

    „Ein schwerer Job. Da ist es wichtig sich auf seinen Glauben zu besinnen und seine innere Ruhe zu finden. Ich bin Bruder Gregor Wassiljewitsch Puschkin und lebe in einem Kloster bei Pobeda, im Nordwesten von hier.“, berichtete der Bruder gelassen und verbeugte sich sogar leicht, um seinem Gegenüber ebenfalls Respekt zu zollen.

    „Nun, das ist ja doch eine ganz schöne Strecke bis hierhin.“, stellte Vitali anerkennend und gleichsam erstaunt fest.

    „Wohl wahr, aber sie ist es mir wert, um regelmäßig in dieser schönen Kathedrale hier vorbeizuschauen und andere Gläubige zutreffen. Ich habe mich auch bei den Aufbauarbeiten engagiert und bin meist einmal im Monat für ein verlängertes Wochenende hier. Ich wohne dann beim Priester der Gemeinde, direkt hier nebenan.“, erklärte der Mönch redselig und schien froh zu sein, einen interessanten Gesprächspartner gefunden zu haben.

    „Das ist faszinierend. Mir gefällt es hier sehr, ich werde bestimmt des Öfteren hierhin zurückfinden.“, pflichtete Vitali begeistert bei.

    „Wo genau wohnst du, mein Bruder?“, wollte der Mönch wissen und erhob sich langsam von der einfachen und auf Dauer recht ungemütlichen Holzbank.

    Beide traten hinaus in einen Seitengang der Kathedrale und steuerten gemächlich auf deren Ausgang zu. Mittlerweile waren sie ganz allein im Raum und Vitali hatte die Möglichkeit die feinen Stuckfassaden, Schnitzereien und Malereien eingehender zu bewundern. Die Schönheit des Gotteshauses verschlug ihm erneut so sehr die Sprache, dass er erst nach einigen Augenblicken beschämt und ein wenig hastig Antwort auf die Frage des Mönches gab.

    „In der Hafengegend, nur etwa eine halbe Stunde Fußmarsch von hier.“, warf Vitali daher rasch ein.

    „Gott bewahre! Schrecklich, was dort heute Morgen passiert sein muss. Es war schon immer ein Viertels des Lasters und der Sünde, aber dies kann nur die Tat einer dämonischen Kreatur sein!“, behauptete der Mönch und wirkte mit einem Mal sehr erregt und war ganz blass im Gesicht geworden.

    „Sie wissen schon davon?“, hakte Vitali erstaunt nach. Er war stehen geblieben, hatte die Stirn gerunzelt und wunderte sich ein wenig über den Kommentar des Mönches, doch er wollte der Respekt einflößenden Person zunächst nicht widersprechen.

    „Gewiss, so etwas Schreckliches spricht sich schnell herum. Glaube mir, das war erst der Anfang. Mein sechster Sinn hat mich bei solchen Dingen noch nie betrogen.“, fügte der Mönch hinzu und wirkte jetzt langsam wieder beruhigter.

    Vitali schlenderte schweigend neben dem Glaubensbruder her und wusste nicht so wirklich, was er nun erwidern sollte. Er musterte seinen Begleiter aufmerksam. Der Mönch hatte im Brustton der Überzeugung gesprochen und wirkte nicht wie ein übereifriger Spinner. Vitali selbst glaubte zwar an Gott, aber an dämonische Wesen hatte er noch nie geglaubt und solche Schauergeschichten immer ins Reich der Märchen und Legenden abgetan. Er lächelte kurz, denn er dachte bei sich, dass der Mönch wohl wirklich fest an solche Dinge glaubte und eben eine etwas altmodische Einstellung zu diesen Dingen hatte und diese ein wenig stur vertrat.

    Dem Glaubensbruder war der kritische Seitenblick nicht entgangen und sein wacher Blick aus haselnussbraunen, jung wirkenden Augen traf den des Journalisten, der sich ein wenig beschämt abwandte und sich leicht räusperte. Der Mönch blieb stehen und hob mahnend seinen Zeigefinger. Vitali hatte fast Angst eine Standpauke zu bekommen, doch dem war nicht so.

    „Bruder Vitali, du magst mich wohl nun für einen abergläubigen Spinner halten und ich kann dir dies gewiss nicht verübeln. Doch ich bin bei klarem Menschenverstand und du darfst mir glauben, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als man sich vorstellen kann oder mitunter auch möchte.“, belehrte der Bruder seinen Gesprächspartner ruhig, aber durchaus bestimmt.

    „Das glaube ich Ihnen gerne. Ich halte Sie gewiss für keinen Spinner.“, warf Vitali abschwächend ein.

    „Du musst dich für deine Meinung nicht schämen. Ich hoffe sogar, dass der Tag nie kommen mag, an dem du mir Glauben schenkst. Ich habe viel Unheil auf diesem Planeten gesehen und viele Brüder sind daran zerbrochen. Die Erkenntnis ist ein schweres Schicksal. Du sollst diese Last nicht auch noch mit dir tragen, Bruder Vitali.“, fügte der Glaubensbruder orakelhaft hinzu und setzte sich langsam wieder in Bewegung, während Vitali ein wenig verständnislos und überrascht versuchte mit dem bärtigen und weisen Mann Schritt zu halten.

    „Von welcher Erkenntnis sprechen Sie genau, Bruder Gregor?“, wagte Vitali endlich zu fragen, als beide schon das schwere Holzportal am Eingang erreicht hatten und einen letzten Blick zurück in die gewaltige Kathedrale warfen.

    Bruder Gregor blickte ihn ernst an und seine wachen Augen schienen bis auf die Seele des Journalisten sehen zu können. Vitali bekam unwillkürlich eine Gänsehaut. Er spürte, dass der Glaubensbruder eine ganz bestimmte, fast schon magische Atmosphäre ausstrahlte, die besonders in der stillen Kathedrale ihre Wirkung nicht verfehlte.

    „Die Zeit ist noch nicht reif für dich, Bruder Vitali. Aber ich fühle mich dir verbunden. Du bist ein gottestreuer und aufmerksamer Mensch. Ich möchte, dass du das hier trägst.“, begann der Glaubensbruder, ergriff eine Kette, die um seinen Hals hing, zog seine Kutte ein wenig herunter und beförderte die Kette schließlich über seinen Kopf hinweg, sodass Vitali sehen konnte, was der Mönch ihm nun anbieten wollte.

    An einer einfachen Silberkette hing ein edles, aber dezent verziertes Agnus Dei. Vitali erkannte das Symbol des Opferlamms, das die Siegesfahne auf seinem Rücken trug nur allzu gut. Es war ein christliches Symbol für die Auferstehung Jesu Christi, der als Lamm Gottes bezeichnet wurde und die Sünde der Menschheit auf sich nahm.

    Vitali war von der Kette tief beeindruckt und blickte Bruder Gregor ungläubig an. Sein Mund öffnete sich, doch er brachte keinen Laut hervor. Vitali war völlig sprachlos.

    Doch sein Gegenüber zögerte nicht länger, nahm die Kette und streifte sie behutsam über den Kopf des jungen Journalisten. Vitali spürte die Wärme des silbernen Metalls und bekam unwillkürlich eine ehrfurchtsvolle Gänsehaut, als er die Kette auf seiner Haut spürte. Der junge Journalist spürte instinktiv, dass es mit diesem Talisman etwas Besonderes auf sich haben musste.

    „Das kann ich unmöglich annehmen, Bruder Gregor.“, stotterte Vitali hilflos und überwältigt zugleich, doch sein Gegenüber legte ihm beide Hände kräftig auf die Schultern und blickte ihn wieder eindringlich an.

    „Diese Kette wird dich vor allen übernatürlichen Gefahren und Feinden schützen. Du musst nur fest daran glauben und beten, dann kann diese Kette Leben retten. Allein der Anblick dieses Symbols kann viel bewirken. Nur Auserwählte können diese Kette ohne Risiko berühren, alle anderen Wesen könnten es mit ihrer Existenz bezahlen. Du brauchst nicht besorgt zu sein, jeder meiner Brüder trägt eine solche Kette und im Kloster wird es sicher noch ein weiteres Exemplar für mich geben. Du aber sollst dieses behalten. Und falls du dem Unheil wahrhaftig gegenüber treten solltest, so kontaktiere mich und ich werde dich tiefer in diese Geheimnisse einführen. Du weißt, dass du mich hier oder im Kloster finden kannst. Pass auf dich auf und meide die Gefahr, Bruder Vitali. Denke immer an meine Worte.“, erklärte der Mönch eindringlich und Vitali nickte stumm und benommen. Die Worte des Mönches hatten sich bereits jetzt auf ewig in seiner Erinnerung eingeprägt.

    Vitali fand keine Worte, als der besorgte Mönch das schwere Portal der Kathedrale aufstieß und sie beide nach draußen ins Freie taten. Sofort empfing sie eine eisige Kälte und der Lärm der Stadt, sodass die Magie ihres Zusammentreffens in der Kathedrale geradezu fern und unwirklich erschien.

    Bruder Gregor lächelte Vitali zu, trat dann näher zu ihm und umarmte ihn herzhaft, was Vitali ein wenig schüchtern erwiderte. Doch obwohl er den Bruder erst seit wenigen Minuten kannte, wirkte er auf ihn schon wie ein guter und vertrauter Bekannter.

    Bruder Gregor löste sich von ihm und lächelte. Dieses Mal wirkte er wieder völlig ausgeglichen und optimistisch.

    „Unsere Wege trennen sich vorerst hier. Aber ich bin mir sicher, dass wir uns sehr bald wiedersehen werden.“, stellte der Mönch abschließend fest und in seiner Stimme lag solch eine Gewissheit, dass Vitali gar nicht an den Worten zweifelte.

    „Ich danke dir, Bruder Gregor.“, krächzte er und war erstaunt, dass er überhaupt wieder seine Sprache zurückgefunden hatte.

    Der junge Journalist dachte hektisch nach, wollte dem Mönch noch etwas sagen und einige Verwirrungen aus der Welt schaffen, doch da hatte sich der Geistliche bereits umgewandt und verschwand mit zielstrebigen Schritt, aber ohne nötige Hast, im leichten Schneegestöber eines noch frostigen Aprilabends.

    Vitali blieb mit gemischten Gefühlen zurück und kam sich mit einem Mal seltsam ungeschützt und alleine vor. Zögernd fasste er nach seiner Kette und betrachtete lange Zeit das Agnus Dei. Er drückte das seltsam warme Metall gegen seine Stirn und spürte ein leichtes Kribbeln. Erschrocken ließ er das detaillierte, aber dennoch nicht zu pompös gestaltete Schmuckstück wieder unter seine Jacke fallen und massierte sich die betroffene Stelle, doch es war nichts mehr zu spüren.

    Vitali redete sich zaghaft ein, dass er wohl nur ein wenig Schnee oder einen kalten Windhauch auf der Haut gespürt hatte. Dann warf er einen letzten Blick auf die monumentale Kathedrale und machte sich rasch auf den Heimweg.

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