• Aljenikow 1: Der Hafen des namenlosen Grauens (Roman aus den Jahren 2008/2009) (Teil 6/7)

    Sergej hatte seinen alten Lada einige Straßen von ihrem Zielort in der Ulitza Grafova abgestellt. Nervös waren die beiden Journalisten ausgestiegen und nahmen den Weg am Ufer des Reka Chernaya Rechka, der bestenfalls als größeres Rinnsal zu bezeichnen war. Das Licht der flackernden Straßenlaternen und der Leuchtreklamen der Stadt spiegelte sich auf fast idyllische Weise in dem Gewässer, an dem auch junge Pärchen lachend und unbeschwert flanierten.

    Vitali wurde ganz anders, als er an die Ahnungslosigkeit der Anwohner dachte. Im nächsten Moment konnte sich diese ganze Umgebung in einen wahrhaftigen Vorhof der Hölle verwandeln und würde die zahlreichen Pärchen, Touristen und Spaziergänger unmittelbar mit in den Strudel des Terrors hineinreißen. Am liebsten hätte Vitali sich aufgerafft und Warnungen in die fröhlichen Gesichter der glücklichen Menschen geschrieen, ihnen sein Leid mitgeteilt, ihnen von seiner unglaublichen Tagesgeschichte des erzählt, die sein ganzes Leben zu verändern drohte. Noch am gestrigen Abend nach dem Fußballspiel war er eine dieser flanierenden Personen gewesen, eine Person, die den kalten Wind in den Straßen der Stadt genoss, die sich den kulinarischen Genüssen hingab, die mit einem Freund nach dem Sieg von Zenit Sankt Petersburg feierte, die heilfroh war eine neue Wohnung zum Spottpreis gefunden zu haben. Innerhalb von nicht einmal vierundzwanzig Stunden war aus dem optimistischen, fröhlichen Vitali ein verzweifelter, düster denkender Mensch geworden, der alles auf eine Karte setzen musste.

    In diesen düsteren Gedanken um sein unheilvolles Schicksal betrat Vitali endlich die Starobel’skaya Ulitza. Wenige hundert Meter entfernt konnte er schon den Pub auf der Ecke der nächsten Straßenkreuzung sehen. Trotz der Leuchtreklame und der fröhlichen Volksmusik, die aus dem Laden kam, lag irgendwie ein düsterer Schleier des Terrors um dieses Gebäude, den Vitali spürte, sich aber nicht erklären konnte. Der junge Journalist blickte sich unauffällig um. Von Polizeiwagen oder auffälligen dunklen Wagen mit getönten Scheiben gab es keine Spur. Auf der linken Seite der Straße stand eine Imbissbuden, die russische Spezialitäten anbot. Ein alter Mann mit grauem Bart und Augenklappe, der mehr wie ein in Plunnen gehüllter alter Seebär in der Arktis wirkte, blickte sich träge um, während ein jüngerer Mann in einfacher Kleidung an einigen Pfannen und Töpfen hantierte. Schräg gegenüber dieses Standes bemerkte Vitali einen in Lumpen verhüllten Penner, der es sich in zahlreichen Kleidungsschichten auf einer klapprigen Bank bequem gemacht hatte. Eine alte Zeitung vom Vortag verhüllte sein Gesicht. Der Obdachlose schien zu schlafen.

    Vitali fragte sich, ob diese Menschen tatsächlich das waren, wonach sie aussahen. Waren sie unschuldige Statisten oder verkleidete Späher der Mafia oder gar getarnte Polizisten? Vitali wusste es nicht und diese Ungewissheit bereitete ihm noch mehr Bauchschmerzen, als er ohnehin schon hatte. Der junge Journalist hatte einfach nur noch furchtbare Angst.

    An der nächsten Straßenecke blieben die bislang sehr schweigsam konzentrierten Journalisten stehen und sahen sich aufmerksam um. Sergej blickte Vitali fragend an.

    „Wie sollen wir jetzt weiter vorgehen? Das Treffen müsste in zwanzig Minuten statt finden. Gleich werden schon die ersten Gäste auftauchen, wir sollten uns also schnell etwas überlegen, denn wir stehen hier mitten auf dem Präsentierteller.“, drängte Sergej seinen Freund und wirkte mit einem Mal wieder ungeheuer pessimistisch. In seinen Worten lag ein harter, ungeduldiger Klang und Vitali hatte seinen Freund noch nie so ernst mit ihm sprechen gehört. All dies waren Zeichen für ihre ungeheure Anspannung.

    „Wir werden auf den Hinterhof gehen, dort, wo die Frachten geliefert werden. Von dort aus werden wir durch den Keller gehen und uns im Hintergrund halten. Ich schätze nicht, dass an dieser Stelle schon Wachposten oder Ähnliches sind.“, gab Vitali relativ spontan zurück, als er eine kleine Einfahrt erspäht hatte auf der ein alter Lastkraftwagen stand und die hinter die Häuser führte.

    Sergej nickte stumm und die beiden Männer gingen im Eilschritt über die Straße, die gespenstisch leer geworden war. Der Lärm der nächstgrößeren Straßen, das Lachen der Touristen und das Necken der Pärchen schien unglaublich fern und war bestenfalls noch gedämpft zu hören. Die Nächte in Sankt Petersburg hatten zwei grundsätzlich verschiedene Gesichter. Auf der einen Seite das wilde Nachtleben, die flanierenden Touristen du Einheimischen, die den Abend genießen wollten und auf der anderen Seite die dunklen Machenschaften der Mafia, der Jugendgangs, deren Zeit in der späten Nacht gekommen war. Problematisch wurde es vor allem, wenn diese zwei Welten miteinander kollidierten.

    Vitali trat stramm und entschlossen in die Einfahrt, die komplett dunkel vor ihm lag. Hier gab es keine Straßenlaternen und nicht einmal Leuchtreklamen. Lediglich die grünlichen Funzeln einiger Notausgänge spendeten ein diffuses Zwielicht. Durch die Einfahrt ging ein kalter und schneidender Wind, der wie der Atemzug eines frostigen Ungeheuers wirkte und Vitali frösteln ließ. Es roch nach alten Kartons, Motorenöl und verfaulten Lebensmitteln.

    Vitali ging um den leeren Lastkraftwagen herum und blickte zu seiner Rechten in eine weitere kleine Einfahrt. Hier lag die Rückseite der Taverne. Vitali sah eine kleine Treppe, die in die Tiefe zu einem Lagerraum und Keller führte. Hochgestapelte Kartons versperrten den Blick auf den Hintereingang. Eine dicke Ratte huschte zwischen den Kartons umher und war auf der Suche nach Nahrung.

    Der Hinterhof war relativ klein, aber die Gebäude ringsherum waren sehr hoch geschossen. Vitali fühlte sich winzig und unscheinbar und in diesem schachtähnlichen Bereich seltsam gefangen. Die maroden Gebäude, von deren Fassaden die Farbe abblätterte, waren noch Relikte aus der Blütezeit des Kommunismus. Aus den Fenstern der Wohnungen ragten vereinzelte Satellitenschüsseln wie mechanische Hände, die sich nach Luft und Freiheit sehnten. Auf manchen Fensterbänken standen Blumentöpfe und die Pflanzen schienen sich müde dem Himmel entgegen zu recken, als ob sie auf der Flucht zu den Sternen wären. Aus den Fenstern drangen vereinzelte Geräusche. Ein wild stöhnendes und erregt schreiendes Liebespaar schien sich in einem höheren Stockwerk zu finden, während in den tiefer gelegenen Wohnungen das ein oder andere russische Fernsehprogramm lief. Doch kein einziger Bewohner wollte in den tristen Hinterhof gucken und so blieben Vitali und Sergej unbemerkt.

    Vitali trat entschlossen auf die Treppe zu, die in ein Kellerloch führte, wo sich eine offen stehende Tür befand, die in den Hinterbereich des Pubs führen musste. Der Journalist drückte sich an die Hauswand und verharrte schweigend. Er wartete einige Augenblicke ab, um irgendwelche Geräusche auszumachen, doch auch im Keller der kleinen Taverne herrschte beängstigende und trügerische Ruhe. Es war keine Menschenseele zu sehen. Dafür sah Vitali angewidert zwei hässliche Ratten, die hastig in den Keller krochen. Offenbar wurden sie dort eher nach Nahrung fündig, als auf den Straßen der Umgebung.

    Da legte sich plötzlich eine schwere Hand auf die Schulter des verharrenden Journalisten, der mit rasendem Herzen herumfuhr und in die Mündung einer Waffe blickte!

    Vitali konnte seinen Angstschrei gerade noch schwer keuchend unterdrücken, als er den ernst schauenden Sergej erblickte, der ihm eine Waffe hinhielt und dann auch den Elektroschocker übergab.

    „Du Idiot, du hast mich zu Tode erschreckt!“, fluchte Vitali giftig, doch Sergej musste dabei grinsen und als Vitali dies bemerkte wich seine Empörung einer gewissen Erleichterung. Sergej klopfte ihm entschuldigend auf die Schultern. So locker hatte Vitali seinen Kollegen seit Stunden nicht mehr erlebt und diese Gefühlsregung gab ihm neuen Mut für die heikle Mission.

    Vitali huschte nach kurzem Blickkontakt mit Sergej die dreckige Steintreppe hinunter und starrte in Lauerstellung in einen düsteren Gang, der an mehrere kleine Gewölbe angeschlossen war, in denen Lebensmittel oder Kühltruhen standen. Eine flackernde, seltsam helle Funzel erleuchtete den unheimlichen Gang bis zur nächsten Treppe, die wohl in die Küche führte.

    Mit seiner Waffe im Anschlag schlich Vitali in den Gang. Es war immer noch keine menschliche Regung zu sehen oder zu hören. Vitali fühlte sich sehr seltsam mit der Waffe in seiner Hand. Er hatte zwar als kleiner Junge von seinem Vater das Schießen beigebracht bekommen, aber er hatte seit Jahren schon keine Waffe mehr in die Hand genommen und seines Wissens auch nie auf ein Lebewesen damit geschossen. Er kam sich vor wie ein wahnsinniger Söldner aus einem der amerikanischen Actionstreifen, die Vitali gar nicht leiden konnte. Er mochte die simpel gestrickte Tragik des amerikanischen Kinos nicht und zog russisches Kino vor.

    Wie ein wilder Rächer pirschte er sich bis zum ersten Gewölbe vorwärts und lugte in den dunklen Raum hinein, während sein Partner Sergej auf die andere Seite des Ganges gehuscht war und dort die Gewölbe unter die Lupe nahm. Wortlos verstanden sich die beiden Freunde und kooperierten miteinander.

    Das erste Gewölbe auf dem Weg von Vitali war fast leer. Es befanden sich einige Anhänger für Lastkraftwagen darin, einige Stapel Autoreifen und ein ganzes Arsenal von Benzinkanistern und kleineren Werkzeugen. Erleichtert ging Vitali weiter.

    Das zweite Gewölbe war enger und dunkler als das erste Gewölbe. Mit angestrengt zusammengekniffenen Augen machte Vitali einige Kühltruhen aus, die düster und monoton summten. Vitali bekam eine Gänsehaut und traute sich nicht weiter in das dunkle Gewölbe hinein, das wie ein dunkler Schlund bedrohlich vor ihm lag.

    Der junge Journalist wollte sich gerade umdrehen, als er mit seinem linken Fuß in eine klebrige Masse trat. Erschrocken verharrte Vitali und blickte starr auf den Boden. Er war in eine dunkle Flüssigkeit getreten, die als Lache aus dem düsteren Gewölbe kam. Hatte ein Küchenjunge hier irgendeinen Saft verschüttet?

    Vitali bückte sich und nahm einen süßlichen Geruch war. Dann erkannte er, dass die Flüssigkeit rötlich schimmerte und schreckte kreidebleich hoch.

    Vitali war in frisches Blut getreten!

     

    Stöhnend erhob sich der Obdachlose von der Bank gegenüber des Imbissstandes und blickte sich vorsichtig um, bevor er sich hinter einen dreckigen Glascontainer begab, der ihn vor den Blicken anderer Beobachter schützte. Dann nahm er ein handliches Handy aus seiner Hosentasche und wählte rasch die Wahlwiederholung. Schon nach dem ersten Klingeln nahm sein Gesprächspartner ab.

    „Bitte?“, fragte eine knurrende und ungehalten wirkende Stimme.

    „Herr Matschiwjenko...“, begann der Obdachlose, doch er wurde bereits von seinem bösartig reagierenden Gesprächspartner grob unterbrochen.

    „Zur Hölle mit dir! Du sollst mich am Telefon nicht bei meinem Namen nennen! Und für dich bleibe ich immer noch Don Matschiwjenko. Kann denn das so schwer sein?“, fragte der Mafiaboss polternd.

    „Verzeihung, Don, ich bitte Sie vielmals um Verzeihung.“, stotterte der Obdachlose nervös und ihm war der Angstschweiß ausgebrochen, so groß war sein Respekt vor seinem Boss.

    „Komm zur Sache. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Wir sind jetzt schon auf der Torzhkovskaya Ulitza. Was gibt es zu melden?“, fragte Matschiwjenko ungehalten und mit tief tönender Bassstimme.

    „Zwei Männer bewegen sich auf den Hinterhof des Treffpunktes zu. Sie sind bewaffnet, soweit ich das erspähen konnte.“, berichtete der Obdachlose atemlos und sein Gesprächspartner dachte einige Augenblicke schweigend nach.

    „Gehören die beiden zu Gluschenko?“, wollte er dann energisch wissen.

    „Ich habe die beiden Männer noch nie zuvor gesehen.“, gab der vermeintliche Obdachlose ein wenig beschämt und ratlos zurück.

    „Es sind auch keine Polizisten? Oder Männer von der stählernen Maske oder dem dritten Mafiaboss Tsirkhov?“, wollte Matschiwjenko ungeduldig wissen.

    „Ich glaube nicht, Don. Was soll ich tun?“, wollte der Obdachlose mit unsicherer und brüchiger Stimme wissen. Sein Gesprächspartner atmete tief und geräuschvoll durch, bevor er einen entschlossenen Befehl gab.

    „Verfolge die beiden und eliminiere sie!“

    „Sind Sie sicher, Don?“, fragte der Obdachlose überrascht haspelnd, da er mit solch einer radikalen Maßnahme nicht gerechnet hätte und sich plötzlich sehr unwohl in seiner Haut fühlte.

    „Ich denke, dass ich mich klar genug ausgedrückt habe. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Eliminiere die beiden, am besten noch, bevor wir da sind!“, befahl der Mafiaboss energisch und legte ohne ein weiteres Wort auf.

    Verdattert starrte der Obdachlose auf das Handy und steckte es mit einem flauen Gefühl im Magen wieder weg. Dann tastete er nervös nach seinem Revolver unter seinen Lumpen und blickte argwöhnisch durch das Zwielicht auf die Gasse, in der die beiden Männer verschwunden waren.

    Tief atmete er durch und gab sich dann endlich einen Ruck. Lautlos schlich er über die Straße zu, um seinen Auftrag auszuführen.

     

    Entsetzt und wie gebannt musste Vitali auf die unheilvolle Lache starren und wandte dann wie in Zeitlupe seinen Kopf wieder in Richtung des düsteren Gewölbes, aus dem die Blutspur kam. Das monotone Brummen der Kühltruhen wirkte auf ihn mit einem Mal wie eine Symphonie des Grauens. Vitali war unfähig zu sprechen oder noch klar zu denken, denn erstmals in seinem ganzen Leben wurde er so direkt mit dem Tod konfrontiert.

    Sergej hatte das Zögern seines Kollegen gemerkt, nachdem er auf seiner Seite schon drei Gewölbe examiniert hatte und trat verwundert auf Vitali zu. Erst versuchte er sich zischend und flüsternd bemerkbar zu machen, dann kam er schließlich ungehalten und nervös ganz zu seinem Partner heran und blieb ebenfalls stocksteif stehen, als er die Blutlache erblickte, die sogar noch träge in den Flur floss. Lange konnte das mögliche Opfer also noch gar nicht tot sein.

    Endlich hatte sich Vitali einen Ruck gegeben und vom ersten Schock erholt. Er musste seine inneren Dämonen bekämpfen und versuchte alle Gedanken auszublenden, als er nach dem Lichtschalter des Gewölbes tastete und ihn auch auf Anhieb fand. Angespannt legte Vitali den Schalter um und hielt seine Waffe krampfhaft umklammert, in der Erwartung, dass der Mörder noch unmittelbar vor ihm lauern könnte. Auch Sergej stand schussbereit in dem kleinen Durchgang und die beiden Journalisten wirkten wie düstere Rächer, als ein flackerndes Licht nach einiger Verzögerung mühevoll surrend ansprang.

    Vitali erstarrte vor Schreck, als er einen jungen Mann mit weißer Schürze sah, der verkrümmt auf dem Bauch lag und mit Blut besudelt war. Irgendjemand oder viel mehr irgendetwas hatte den armen Küchenjungen völlig zerfetzt und aufgeschlitzt. Vitali wandte sich würgend ab, während Sergej fassungslos auf den Toten starrte, obwohl sein Geist ihm sagte, dass er sich ebenfalls abwenden sollte. Sein Körper aber gehorchte ihm nicht mehr und er fühlte sich wie gelähmt. Auch Vitali stand kreidebleich und mit drückendem Magen verkrampft im Flur und fragte sich panisch zu was für einem Himmelfahrtskommando sich die beiden bloß durchgerungen hatten.

    Da ertönte plötzlich vom anderen Ende des Flurs die fragende Stimme eines älteren Mannes, dessen Körperkonturen einen langen Schatten in die Tiefe warfen, sodass er unheimlich groß und kräftig wirkte. Vitali bekam eine frostige Gänsehaut, als er das Hackbeil in der Hand des Mannes entdeckte, der mühsam einige Stufen in die Tiefe ging und die beiden Eindringlinge in wenigen Augenblicken überraschen musste.

    „Nikita, wo bleibst du bloß so lange? Hast du den Lebertran etwa nicht gefunden?“, fragte der Mann mit dem Beil in der Hand ungeduldig und war kurz stehen geblieben.

    Vitali und Sergej tauschten einen panischen Blick aus. Sie mussten unverzüglich verschwinden! Aber wohin?

    In ihrer Not huschten die beiden zurück in das düstere Gewölbe, in dem auch der Tote lag. Ein Ratte huschte quiekend zwischen den beiden durch und auf den Flur. Vitali bekam ein ganz flaues Gefühl im Magen als er den in Blut getunkten Schwanz des Nagers sah.

    „Nikita, nun beeile dich doch. Tsirkhov und seine Leute sind gerade eingetroffen und die anderen beiden Parteien sind auch bald da. Die wollen ihr Essen in wenigen Minuten auf dem Tisch sehen! Wo steckst du denn?“, fragte der Koch fluchend und trat noch einige Schritte in die Tiefe.

    Vitali lugte vorsichtig aus dem Gewölbe heraus und erblickte einen älteren Mann mit einem lächerlich großen Kochhut, der eher wie eine Schlafmütze aussah. Der ganz in weiß gekleidete Mann blickte sich missmutig in seiner unmittelbaren Umgebung um, bevor er dann entschlossen in den Flur trat. Wenige Armlängen trennten ihn jetzt noch von den beiden versteckten Journalisten. Vitali hielt den Atem an und kroch tiefer in das unheilvolle Gewölbe hinein. Ihre Mission drohte zu einem Fiasko zu werden.

    Doch plötzlich wurde alles anders!

     

    Gluschenko starrte atemlos auf die junge und leicht bekleidete Dame, die verärgert aus ihrer Wohnungstür schaute und überrascht den unerwarteten Ankömmling erblickte.

    „Was zur Hölle wollen Sie hier? Ich erwarte gleich schon Kundschaft, ich habe heute keine Zeit!“, begann die aufgetakelte Russin nörgelnd, doch da sprang Gluschenko plötzlich hervor und drückte ihr die Hand auf den Mund.

    Aus wild aufgerissenen Augen starrte die Prostituierte ihm entgegen und schüttelte unwillig und erschrocken den Kopf. Gluschenko blickte die Frau hart an und nahm ihr mit einer drohenden Geste die Hand wieder vom Mund. Verwundert wischte sich die Dame mit dem Handrücken ihr Gesicht ab.

    „Mein Gott, wenn Sie so versessen drauf sind, dann kann ich noch eine schnelle Nummer einlegen, wenn Sie ein paar Rubel drauflegen.“, plapperte die Prostituierte los, doch irgendetwas im Blick ihres Gegenübers ließ sie schlagartig wieder verstummen.

    Wortlos drängte sich Gluschenko an der Dame vorbei in die Wohnung, zerrte die Prostituierte mit und machte die Wohnungstür hinter sich zu. Mit schnellen Griffen verriegelte er die Tür und blickte sich gehetzt in der äußerst schäbigen Wohnung um. Das Badezimmer war voller Spiegel und Schminkkoffer, auf dem Küchentisch lagen Handschellen, Peitschen und einige Lackkostüme. Viel mehr interessierte sich Gluschenko aber für das Fenster des Wohnraumes, beziehungsweise für den kleinen Balkon, der jenseits davon lag. Der schweigsame Russe erspähte ebenfalls eine sehr kleine und geradlinig senkrecht verlaufende Feuerleiter neben diesem Balkon, auf dem die Prostituierte alte und leere Flaschen Schampus oder billigen Wodka gehortet hatte.

    Die Prostituierte schmiegte sich von hinten an Gluschenko und griff ihm mit ihrer feingliedrigen Hand und ihren künstlichen Fingernägeln in den Schritt, während sie sich von hinten mit ihrem kräftigen Becken an ihn anschmiegte.

    „Sie mögen es wohl besonders heiß und schnell.“, hauchte die Prostituierte mit lustvoller Stimme, doch Gluschenko riss sich grob von ihr los und zückte seine kleinkalibrige Waffe, was die Prostituierte mit schreckgeweiteten Augen registrierte.

    „Nein, bitte, ich besitze doch nichts, das macht doch keinen Sinn!“, jammerte sie theatralisch, doch Gluschenko beachtete sie nicht und öffnete stattdessen die Tür zum Balkon, deren Griff längst verschwunden und durch braunes Klebeband notdürftig ersetzt worden war.

    Dann blickte er sich nervös um und trat vorsichtig zwischen den Flaschen hindurch auf den Balkon. Die Prostituierte lief ihm aufgeregt nach.

    „Bitte, ich mache es Ihnen auch ganz umsonst, wenn Sie unbedingt wollen, mit allem Drum und Dran.“, plapperte sie, doch da wandte sich Gluschenko gereizt um, verpasste der übermäßig geschminkten Dame mit den künstlich blondierten Haaren eine schallende Ohrfeige und legte seinen Zeigefinger auf seine Lippen. Jetzt endlich verstummte die Prostituierte wimmernd und zog sich ängstlich in ihre Wohnung zurück.

    Gluschenko aber schlich über den Balkon und hatte Glück, dass die Feuerleiter nur etwa einen Meter vom Balkon aus verlief. Er kletterte über den Rand des Balkons und griff mit schwitzigen Händen nach der Leiter, zu der er sich keuchend herüberschwang. Dabei versuchte er es den Blick in die Tiefe zu vermeiden, obwohl ihm der Angstschweiß ausgebrochen war. Gluschenko hatte schon immer an einer gewissen Höhenangst gelitten. Krampfhaft kletterte er die leicht quietschende Leiter hoch und erreichte nach wenigen Augenblicken den Rand des Daches, auf das er eben noch über den normalen Aufgang getreten war. Gluschenko erblickte seine Gegenspieler Jaschin und Rostov sofort, die lauernd zu dem Aufgang starrten und sich dann berieten. Der Wind trug ihre Stimmen bis zu Gluschenko herüber, dessen Hände verkrampft die Feuerleiter umklammerten.

    „Wir können hier nicht ewig warten, verdammte Scheiße!“, fluchte Rostov ungeduldig.

    „Nein, pass auf, wir machen es so: Du gehst wieder runter und sicherst das obere Stockwerk und suchst nach dem Schwein. Ich bleibe hier oben und sichere dich ab.“, schlug Jaschin drängend vor.

    „Du hast doch nur Angst selbst da runter zu gehen und schickst mich vor, um die Drecksarbeit zu machen.“, verhöhnte Rostov seinen Kollegen und klang dabei nicht einmal wütend oder ängstlich, sondern lediglich sarkastisch und ein wenig arrogant.

    „Jetzt hör auf hier zu nörgeln, sonst ist Gluschenko schon über alle Berge. Schnell!“, forderte Jaschin seinen Begleiter auf und überging den Vorwurf nervös.

    Heiser lachend befolgte Rostov den Befehl und riss ruckartig die Tür auf, durch die Gluschenko vor wenigen Minuten noch in die Tiefe gesprungen war. Der Mann auf der Feuerleiter robbte sich noch ein Stück in die Höhe und blinzelte dem frostigen Windzug entgegen, während er mit seiner linken Hand nach seiner kleinkalibrigen Waffe tastete. Er fand es erstaunlich, dass die Mafiosi nicht daran gedacht hatten, ihn näher auf Waffen zu untersuchen. Diesen dilettantischen Fehler wollte Gluschenko nun gnadenlos ausnutzen, um seinen Erzrivalen aufzuzeigen, dass er der beste war.

    Aufgeregt lief Jaschin hin und her und blickte seinem Begleiter angespannt nach. An eine Gefahr von hinten dachte er dabei überhaupt nicht. Schließlich griff er nervös zu seinem Handy, tippte hektisch eine Nummer ein, verwählte sich und fing fluchend wieder von vorne an. Dadurch war der Mafioso nun vollends abgelenkt.

    Gluschenko lächelte finster, als er sich über den Dachrand hinwegbeugte und auf den Hinterkopf seines Gegners zielte. Als er sich völlig sicher fühlte machte er einen verräterischen Pfeifton und sah amüsiert wie Jaschin erschrocken herumfuhr und nach einigen Augenblicken des nervösen Haderns endlich Gluschenko im Halbdunkel erblickte.

    Da drückte Gluschenko bereits ab. Die Kugel traf den verwunderten Jaschin gerade als er realisierte, wer ihm die Falle gestellt hatte. Geräuschvoll jagte sie mittig durch seine Stirn und schoss an seinem Hinterkopf wieder heraus. Der Mann war auf der Stelle tot.

    Mit erschrocken verdrehten Augen kippte Jaschin wie in Zeitlupe nach hinten und schlug hart auf dem Dachboden auf. Zufrieden und böswillig lachend kroch Gluschenko entgültig über den Dachrand und ging mit schweißnassen Händen hinter einem Schornstein in Deckung und wartete auf seine nächste Gelegenheit.

    Er sah bereits den Schatten seines zweiten Gegners, der den Zwischenfall bemerkt hatte und im trüben Licht des Flures wieder mit erhöhter Vorsicht zurück auf das Dach steigen wollte.

    Da lief Gluschenko einem Geistesblitz folgend geschmeidig auf den Aufgang zu und kletterte an der Rückseite der eckigen Überdachung per Klimmzug herauf. Dabei knirschte nur das Kies auf dem Dach, ansonsten war seine Aktion schnell und geräuschlos verlaufen. Gluschenko legte sich auf die Lauer nach Rostov, der sich unmittelbar unter ihm befinden musste.

    Nach wenigen Sekunden trat der grobe Mafioso auf das Dach, blieb in der Tür aber noch stehen und blickte sich nach einem möglichen Gegner um. Dann stürzte er nach vorne, drehte sich um in der Erwartung seinen Gegner hinter sich zu sehen.

    Als er bemerkte, dass sich Gluschenko jedoch viel mehr über ihm befand, kam die Erkenntnis bereits zu spät. Eine Kugel jagte mitten in sein Gesicht hinein und der Russe stürzte wimmernd nach hinten, stolperte über die Leiche seines Kollegen und viel der Länge nach hin. Rostov zuckte noch kurz, Blut quoll über seine Lippen und lief in Strömen seine Wangen hinab, dann erstarrten auch seine Muskelreflexe und sein Kopf sackte gurgelnd zur Seite.

    Gluschenko sprang gewandt von dem Übergang hinab, schloss die Tür zum obersten Stockwerk und trat zufrieden auf seine Opfer zu. Endlich hatte er sich für die persönlichen Qualen, die ihm der Verrat der beiden Mafiosi bereitet hatte, grausam gerächt. Er fühlte sich nun stark euphorisiert und war von einer grimmiger Freude und einem abartigen Verlangen nach Blut und Mord erfüllt.

    Grimmig verharrte Gluschenko einige Minuten, bis er von der Straße einige Wagen vorfahren hörte. Erwartungsvoll ging Gluschenko auf dem Dach in Deckung und spähte schließlich vorsichtig über dessen Rand in die Tiefe.

    Die Wagen der stählernen Maske waren vor dem Pub vorgefahren, es waren drei an der Zahl. Aus dem mittleren stieg zuerst ein Bediensteter aus, der die Tür für seinen Boss offen hielt, der auch dieses Mal seine Maske trug und seine Identität nicht Preis gab. Mit energischem Schritt betrat der Mafiaboss den Pub und ihm folgte eine ganze Horde von Leibwächtern und anderen Bediensteten.

    Erwartungsvoll rieb sich Gluschenko die Hände. Das Spiel konnte beginnen!

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