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    Kapitel 3: Mittwoch, 11 Uhr 04, Hotelrestaurant


    Thomas Jason Smith stieß die robuste Glastür auf und fand sich in einer kleinen Empfangshalle wieder. Er sah eine unbesetzte Rezeption auf der rechten Seite und eine kleine Treppe, die auf einem rotschwarzen Teppichmuster steil in die Höhe führte. Auf der linken Seite der Eingangstür befand sich eine größere Sitzgruppe, auf der sich die Gruppe versammelt hatte, zu der er einst gehört hatte. Koffer und Rucksäcke standen neben oder auf den kleinen Glastischen und unweit des erloschenen Kamins.

    Der junge Schotte näherte sich behutsam der Gruppe, als eine kleine Frau mit stark gebräunter Haut und pechschwarzen Haaren aufstand und ihm freudig entgegentrat. Sie reichte ihm die Hand und begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln.

    „Herzlich willkommen, Herr Smith. Ich bin froh, dass sie so pünktlich zu uns gefunden haben. Es fehlen nur noch zwei weitere Gäste, die kleine Yacht liegt bereits sicher im Fischerhafen vertäut. Der Herr Direktor befindet sich noch auf unserem Schloss, es ging ihm heute Morgen nicht sonderlich gut, er hatte einen Migräneanfall.“, erklärte Magdalena Osario hastig und wies auf die Sitzgruppe, wo ihn alle Augenpaare aufmerksam musterten.

    Thomas ließ seine Sporttasche lässig zu Boden gleiten und bedankte sich bei seiner ehemaligen Lehrerin. Er hatte die strenge und anspruchsvolle Art seiner damaligen Tutorin in jungen Jahren als schrecklich erfunden und ihre oft sehr hastige Sprache, die sie mit wilden Gesten unterstrich, hatte ihm das ein oder andere Mal beinahe den Verstand geraubt. Doch privat hatte er sie als herzlich und offen empfunden und musste anerkennen, dass sie zudem stets eine Schönheit gewesen war. Alle männlichen Schüler hatten heimlich von ihr geschwärmt und auch die smarte Lehrerin war sich ihrer Anziehungskräfte bewusst gewesen und hatte gar manchmal ihre Reize bewusst spielen lassen.

    Thomas musste schmunzeln, als er daran dachte, wie er einmal mit seinem verstorbenen Freund heimlich in das Zimmer der Lehrerin eingestiegen war und sie ihre Dessous in Augenschein genommen hatten. Er konnte bis heute nicht verstehen, warum diese junge und hübsche Lehrerin dem höchstens latent vorhandenen Charme des alten und oft missgelaunten Direktors erliegen konnte.

    Der junge Polizist setzte sich in einen etwas wackligen Korbstuhl und griff nach einem Glas und einer Karaffe Wasser, die auf einem der Glastische stand. Gierig trank er einige Schlucke des kühlen Nasses.

    Mit einem Mal legte ihm jemand die Hand auf den Oberschenkel. Thomas stellte sein Glas ab und sah in das spitzbübische Gesicht der jungen Jeanette. Er musste unwillkürlich lächeln, als er sie sah. Er hatte einmal eine kurze, aber heftige Affäre mit ihr gehabt und ihr noch sehr lange nachgehangen. Jeanette Rodin-Gagnon war allerdings nie die Person gewesen, die viel Wert auf lange und treue Beziehungen gelegt hatte. Thomas hatte später sogar erfahren müssen, dass sie ihn betrogen hatte und mit fast jedem männlichen Mitschüler ein Verhältnis gehabt zu haben schien, angeblich sogar mit dem einen oder anderen Lehrer. Sein Ärger auf sie war über die Jahre verflogen und er hatte sich am Ende seiner Schulzeit wieder gut mit ihr verstanden, sie hatte vor allem versucht ihm nach dem Tod seines Freundes Trost zu spenden.

    „Ich bin erstaunt, dass du gekommen bist. Wir haben sehr lange nichts mehr von dir gehört. Ich hatte dir ein oder zwei Briefe geschickt, aber du hast nie geantwortet.“, stellte Jeanette fest und blickte ihn eindringlich mit ihren blaugrünen Augen an.

    „Das tut mir Leid. Ich hatte nach der Schule eine schwere Zeit und bin oft umgezogen. Ich habe deine Briefe nicht erhalten.“, erwiderte Thomas leise und blickte betreten zu Boden. Die grausamen Szenen der schicksalhaften Nacht, in der sein Freund gestorben war, liefen jetzt automatisch wieder wie ein schrecklicher Film in seinem Kopf ab. Er hatte geglaubt diesen Schock überwunden zu haben, doch jetzt fühlte er sich an all diese Dinge wieder erinnert. Vielleicht war es doch nicht die richtige Entscheidung gewesen zu diesem Treffen zu kommen.

    „Ich nehme dir das nicht übel. Ich bin froh, dass du jetzt hier bei uns bist. Das Treffen wird dich bestimmt von diesen Dingen ablenken und es wird dir gut tun wieder unsere Gesellschaft zu genießen.“, erwiderte Jeanette mit einem zarten Lächeln und strich mit ihrer Hand sanft über sein Bein.

    Thomas konnte eine gewisse wohlige Erregung nicht verheimlichen und versuchte rasch das Thema zu wechseln.

    „Was ist mit dir? Was hast du nach der Schulzeit gemacht?“

    Jeanette nahm ihre feingliedrige und sehr gepflegte Hand von seinem Bein, lehnte sich zurück, legte ihr rechtes Bein auf das Knie des linken und griff zu einem Glas Sekt, das sie elegant an ihren Mund führte und Thomas dabei spitzbübisch zuzwinkerte. Langsam setzte sie das Glas ab, spreizte kurz die Beine und beugte sich wieder zu ihm vor.

    „Ich habe in Paris und Glasgow Biologie studiert und habe über einen Bekannten meines Vaters eine Stelle im zoologischen Garten in Paris bekommen. Ich arbeite dort seit letztem Jahr als Biologin und gleichzeitig als Tierärztin. Es ist ein spannender Beruf und das Umfeld ist sehr nett.“, berichtete sie mit süffisanter Stimme.

    „Das freut mich wirklich für dich.“, erwiderte Thomas mit einem Lächeln, nachdem er seine kurzen emotionalen Ausbrüche überwunden hatte. Dennoch fühlte er sich noch immer ein wenig unbehaglich und wusste nicht so recht, wie er ein vernünftiges Gespräch mit der immer noch verführerischen Französin aufbauen sollte.

    Thomas hörte, dass sich ein weiterer Ankömmling neben ihm auf einen schlichten Holzstuhl fallen ließ. Der junge Mann, dem man seine asiatische Abstammung ansah und sich gelangweilt umsah, unterschied sich deutlich von den anderen Leuten im Raum. Er trug eine zerfetzte, schwarze Lederjacke und hatte drei Piercings an seiner linken Augenbraue. Seine Jeans wirkte verwaschen und er trug einfache, alte Sportschuhe. Er zündete sich gerade unter Protest einiger Anwesender eine Zigarette an und ignorierte die Beschwerden völlig. Lächelnd wandte er sich Thomas zu und schüttelte den Kopf.

    „Immer noch dieselben alten Spießer hier, nicht wahr?“, meinte er mit einem hämischen Lachen und unterstrich seine Geste, indem er den Zigarettenrauch kräftig in Richtung einiger Gäste ausblies.

    „Du warst schon immer ein Rüpel gewesen.“, stellte Jeanette fest und ihr fröhliches und lockeres Verhalten hatte einer ablehnenden und fast gehässigen Haltung Platz gemacht.

    „Darauf stehst du doch, meine Süße.“, erwiderte der junge Asiat und sah mit großem Vergnügen, wie Jeanette puterrot wurde und empört nach Luft schnappte.

    Thomas hatte Gwang-jo Park nie wirklich leiden können. Er war zwar ebenso ein Rebell gewesen wie er, allerdings waren sie ansonsten grundverschieden. Der Koreaner hatte sich nie um die Meinung der Lehrer oder Mitschüler geschert und war immer ein Außenseiter gewesen. Er war immer grundsätzlich zu spät zum Unterricht gekommen, hatte an keinerlei Freizeitaktivitäten teilgenommen und hatte eine überhebliche und arrogante Ader. Zudem war er geradezu sadistisch veranlagt und hatte versucht einigen Schülern das Leben schwer zu machen. Ohne den Einfluss seines reichen Vaters, Vorsitzender eines koreanischen Automobilherstellers in Schottland, wäre er der Eliteschule verwiesen worden. Thomas glaubte insgeheim, dass es auch sein Vater gewesen war, der die Lehrer bestochen hatten, um seinen Sohn nicht durchfallen zu lassen und sein Diplom auszuhändigen, da er bei vielen Prüfungen gar nicht anwesend gewesen war und zudem fast niemals irgendwelche Aufgaben oder Referate erledigt hatte. Thomas fragte sich, wer letztlich die Ausstellung des Diploms gebilligt hatte und schätzte, dass es sich um den österreichischen Direktor handeln musste, da Magdalena Osario Gwang-jo ebenfalls nie leiden konnte und auch nicht bestechlich war. Auch jetzt hatte Thomas das ungute Gefühl, dass der provokante Koreaner nur mitgekommen war, um seine Kollegen zu ärgern.

    „Lass sie einfach in Ruhe.“, sagte Thomas ganz ruhig, als der Koreaner zu einer weiteren spöttischen Bemerkung ansetzen wollte.

    „Du hast mir gar nichts zu sagen. Du weist selbst ganz genau, dass dieses Luder mit jedem männlichen Mitglied aus unserer Gemeinschaft gevögelt hat. Da bin ich gewiss keine Ausnahme. Jetzt tut sie so vornehm und abschätzig, diese falsche Schlange.“, erzürnte sich Gwang-jo Park und warf der jungen Französin giftige Blicke zu.

    „Hör auf so über sie zu reden.“, erwiderte ein kräftig gebauter Hüne mit blonden Haaren und trotzigen blauen Augen, der sich von der Seite der Gruppe angenähert hatte.

    Thomas erkannte ihn sofort. Es handelte sich um Malcolm McCollaugh, der lange Zeit eine intensive Beziehung mit Jeanette geführt hatte und ihr eines Tages gar einen Heiratsantrag gemacht hatte, wie Thomas von ihr selbst erfahren hatte. Daraufhin hatte sie die Beziehung mit ihm beendet, da er ihr zu aufdringlich wurde und sie niemals eine feste Bindung eingehen wollte. Jeder wusste insgeheim, dass er dies nie überwunden und akzeptiert hatte und der jungen Französin beinahe krankhaft nachlief. Auch Gwang-jo Park wusste bestens über die Situation des Schotten Bescheid, der, wie bereits auf diversen Feiern und Ausflügen zu denen man keine Schuluniform tragen musste, auch heute einen traditionellen Schottenrock und eine graue Baskenmütze trug.

    „Du läufst ihr wohl noch immer hinterher, nicht wahr? Vergiss es, sie kann ihren Körper nicht nur einem einzigen Mann schenken. Ich schätze, da müssen wir teilen.“, erwiderte Gwang-jo auf den Kommentar, doch er war dieses Mal einen Schritt zu weit gegangen.

    Malcolm packte die Lederjacke des verdutzten Großmauls und verpasste ihm ansatzlos einen gewaltigen Schlag in die untere Gesichtshälfte. Der Koreaner hatte keine Zeit mehr gehabt, den Schlag irgendwie abzuwehren. Er flog im hohen Bogen nach hinten und prallte gegen seinen eigenen Stuhl, der rasch Übergewicht bekam und nach hinten kippte. Schmerzhaft prallte der Koreaner mit dem Stuhl zu Boden und tastete mit schmerzverzerrtem Gesicht an seine Unterlippe, die durch den Schlag aufgeplatzt war. Mühsam rappelte er sich auf, denn er wollte diese Aktion nicht auf sich sitzen lassen und griff nun seinerseits an.

    Der Koreaner täuscht einen Haken mit der linken Faust an, nur um im selben Moment zu einem trockenen Tritt mit seinem rechten Bein auszuholen, der sein Gegenüber in der Magengrube traf. Mit verzerrtem Gesicht beugte sich der schottische Hüne nach vorn und kassierte einen kräftigen Kinnhaken, der ihn nach hinten taumeln ließ, wo er erst von der Kante eines Glastisches gestoppt wurde.

    Gwang-jo, dessen Augen wütend und erbarmungslos aufblitzten, setzte sofort mit einem weiteren brutalen Schlag in die Magengrube nach, der seinen Kontrahenten auf den Glastisch katapultierte, der klirrend zerbarst und in endlos viele Glasteile zersprang. Erschrocken sprangen einige der Anwesenden auf, doch Gwang-jo fühlte sich dadurch nur noch mehr angestachelt und setzte zu einem Hechtsprung in Richtung des Schotten an, als ihm ein etwas älterer Mann am Kragen seiner Lederjacke packte und wuchtig zurückschubste, sodass der Koreaner um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte und sich erst im letzten Moment fangen konnte. Der neue Angreifer setzte aber sofort nach, packte den Koreaner am Kragen und zog ihn ganz nah zu sich heran.

    „Sie werden sich sofort für ihre unflätigen Beleidigungen entschuldigen.“, befahl er in einem harschen Ton, der keinen Widerspruch duldete.

    „Er hat angefangen. Dieser irre Rockträger hat einfach auf mich eingeschlagen. Er soll herkommen und sich entschuldigen.“, erwiderte Gwang-jo trotzig, doch sein Gegenüber zerrte ihn zur Seite und blickte ihn eindringlich an.

    „Entweder Sie entschuldigen sich sofort oder ich schließe sie hiermit umgehend von unserem Treffen aus.“, stellte er klar.

    „Ich...“

    „Wollen Sie das?“

    „Ich wollte nur...“

    „Wir können auch anders. Ich könnte Sie wegen Körperverletzung anzeigen!“

    „Nein. Ich meine, ich wollte....“

    „Wie bitte?“, hakte der Mann drohend nach und unterbrach den rebellischen Koreaner bewusst erneut, um dessen Machtgefühl zu brechen.

    „Ich möchte mich bei ihm entschuldigen.“, murmelte der Koreaner ziemlich missmutig und kleinlaut, da ihm die Situation nun doch ein wenig unangenehm war.

    „So ist es schon besser.“, erwiderte sein Gegenüber grimmig.

    Der Mann ließ ihn los und gab ihm einen Stoß nach vorne. Der junge Schotte hatte sich bereits mit der Unterstützung einiger Anwesender wieder erhoben und hielt sich immer noch seine Magengrube, doch ansonsten schien er unverletzt geblieben zu sein.

    Thomas hatte mit Erstaunen registriert wer da eingegriffen hatte. Es handelte sich um Björn Ansgar Lykström, einem Lehrer, der in der Eliteschule sowohl Englisch, als auch Geographie unterrichtet hatte. Er war in etwa in demselben Alter wie Magdalena Osario und es gab Gerüchte, dass beide kurz bevor die rassige Spanierin den Bund des Lebens mit dem alternden Direktor eingegangen war, eine kurze Beziehung geführt hatten. Thomas hatte Lykström trotz seines strengen Unterrichts sehr gemocht, da er Leute wie Gwang-jo nie akzeptiert hatte und hart durchgegriffen hatte. Privat war er aber stets eine zugängliche Person gewesen und hatte sogar einige Zeit lang mit Thomas, seinem toten Freund und Fatmir Skolin, einem albanischen Mitschüler, der ebenfalls unter den Gästen war, in einer Schulband gespielt, wobei sie vor allem härtere Rockmusik gespielt hatten. Eines Tages hatte der Direktor dies unterbunden, da er nicht wollte, dass ein Lehrer enge und freundschaftliche Beziehungen zu Schülern aufbauten, da darunter die Objektivität und die Erziehungsmethoden leiden würden. Zudem hatte er die Musik nie leiden können und war lediglich auf klassische Musik fixiert gewesen und hatte die Probezeiten der Band bereits zuvor absichtlich stark eingeschränkt.

    Gwang-jo trat nun zu seinem schottischen Kontrahenten und reichte ihm missmutig die Hand. Dieser hob kurz den Blick und warf seinem Gegenüber böse Blicke zu, die Hände zu Fäusten geballt.

    Mit einem Mal war es wieder ganz still im Empfangszimmer, alle Gespräche brachen ab, alle Augen beobachteten die Szene. Es lang eine bedrohliche Stimmung, eine knisternde Spannung in der Luft. Nach einigen Sekunden absoluten Schweigens gab Malcolm seinem ehemaligen Mitschüler hastig die Hand und drehte sich dann unter Schmerzen wieder weg.

    Björn Ansgar Lykström schien für den ersten Moment zufrieden zu sein, als sich eine junge Dame von der Rezeption näherte, die jetzt erst den angerichteten Schaden bemerkt hatte, da sie vorher in einem Hinterzimmer gewesen war. Entsetzt wies sie auf die Scherben und blickte vorwurfsvoll in die Runde, als Magdalena Osario souverän einschritt und die Verantwortung übernahm. Sie zog sich mit der entsetzten Dame für einige Minuten zurück, um mit ihr über das Problem zu reden und ihr einen Entschädigungsscheck auszuhändigen. Die spanische Lehrerin war schon immer ein verantwortungsvolles Improvisationstalent gewesen.

    Thomas schüttelte den Kopf und beobachtete, wie sich Gwang-jo grollend in eine Ecke in der Nähe des Kamins verzog, während Malcolm von vielen Gästen umringt wurde, die sich nach seinem Wohlbefinden erkundigten.

    „Er läuft dir immer noch hinterher.“, konstatierte Thomas mit einem Blick auf seinen schottischen landsmann und schaute nun Jeanette tief in die Augen und merkte, dass sie seltsam ratlos wirkte.

    „Glaubst du?“, fragte sie nachdenklich.

    „Natürlich. Sonst hätte er sich nicht in der Weise für dich eingesetzt.“, erwiderte Thomas mit einem lockeren Lachen.

    „Er verrennt sich da in etwas. Er sollte einfach wissen, dass ich für eine langfristige Beziehung mit ihm nicht bereit bin. Ich würde niemals mit einem Kerl etwas anfangen, mit dem ich bereits zusammen gewesen war.“, sagte sie bestimmt.

    „Mit niemandem?“, fragte Thomas überrascht und fast ein wenig enttäuscht und biss sich sofort auf die Lippen, als er seine verräterische Aussage realisierte.

    Jeanette hatte seine Reaktion sofort bemerkt und mit einem süffisanten Lächeln quittiert. Zärtlich näherte sie sich ihm und flüsterte ihm ihre Antwort ins Ohr.

    „Sag niemals nie.“

    Mit einem Mal legte sich eine Hand auf Thomas Schulter und er fuhr herum. Die letzten beiden Gäste waren angekommen, nämlich Abdullah Gadua, der aus Katar stammte, sowie Marilou Gauthier, eine junge Frankokanadierin, die sich mit großem Interesse umblickte. Dabei hatte sie die Hand ihres Begleiters umfasst, der wiederum Thomas seine Hand auf die Schulter gelegt hatte.

    „Ihr beiden Turteltäubchen, was ist denn hier passiert?“, fragte er halb beunruhigt, halb belustigt.

    Thomas hatte Abdullah als oft gut gelaunten Menschen in Erinnerung, der stets hilfsbereit gewesen war. Einige Mitschüler hatten zu ihm ein etwas distanzierteres Verhältnis gehabt, da der überzeugte Turbaträger seine islamische Religion nicht aufgeben wollte, obwohl er sich in einer christlichen Eliteschule befand. Sein Vater, ein reicher Ölbaron, hatte allerdings so viel Geld springen lassen, dass er trotz dieses Mankos aufgenommen worden war, zumal er bereits im Voraus die besten Schulnoten erzielt hatte. Zudem waren die Begründer der Eliteschule in ihrer Anfangszeit von solchen Zahlungen extrem abhängig gewesen.

    Marilou Gauthier, seine Begleiterin, hatte er schon damals umworben und schien nun erfolgreich gewesen zu sein. Sie war stets ein wenig arrogant und zurückhaltend gewesen und man hatte ihr deutlich angemerkt, dass sie die Schulzeit gehasst hatte und lediglich unter dem Zwang ihrer Eltern dorthin gegangen war. Sie hatte ihre Unzufriedenheit nicht so extrem ausgedrückt wie Gwang-jo oder auch Thomas von Zeit zu Zeit, aber sie hatte stets ein wenig lustlos gewirkt und hatte vor allem mit Jeanette oft Streiterein gehabt. Sie hatte sich mehr und mehr zurückgezogen und war gar drogenabhängig geworden, was sich bei ihren Noten und ihrem Gesundheitszustand deutlich bemerkbar gemacht hatte. Dies hatte sich auch kaum verändert, als sie mit Abdullah bereits zusammen gewesen war. Die beiden hatten sich oft gestritten, doch gegen Ende der Schulzeit hatte sich ihr Verhalten gebessert und sie waren wieder fest zusammengewesen und dies schien bis zum heutigen Tage gehalten zu haben, wie Thomas nun feststellte.

    „Es gab eine Schlägerei zwischen Gwang-jo und Malcolm.“, erwiderte der Schotte.

    „Die beiden konnten sich ja noch nie leiden. Schlimm, dass das nun ausgerechnet heute passieren muss, wo wir uns endlich alle wiedersehen.“, stellte Abdullah kopfschüttelnd fest.

    „Es ging um mich. Malcolm läuft mir wohl immer noch nach und hat eingegriffen, als Gwang-jo mich dumm angemacht hat.“, erklärte Jeanette nicht ohne Stolz und warf dem Neuankömmling ein offenes Lächeln zu.  

    „Wer würde sich nicht für dich schlagen?“, rutschte es Abdullah heraus und bekam dafür einen bitterbösen Blick von seiner Frau zugeworfen, die sofort ihre Hand von der seinigen löste und sich von den Gästen abwandte. Bei der hektischen Bewegung rutschte ihre braune Baskenmütze leicht zur Seite und gab einen Blick auf ihre lockige, brauen Haarpracht preis.

    „Es war ein Scherz, Chérie, einfach nur so dahergesagt.“, meinte Abdullah und ging ihr hinterher, wobei er beschwichtigend die Hände hob.

    Von der anderen Seite kam Fatmir Skola auf Thomas und Jeanette zu. Er wirkte seltsam gealtert, hatte kaum Haare mehr auf dem Kopf und dunkle Ringe unter den Augen. Sein Lächeln konnte seine tiefen Sorgenfalten auf der Stirn kaum wettmachen. Thomas fragte sich nach dem Grund für sein Erscheinungsbild. Er hatte ihn in ihrer damaligen Band als sehr frischen und motivierten Menschen kennen und schätzen gelernt, doch jetzt wirkte er seltsam ausgelaugt. 

    „Du scheinst deine Wirkung auf die Männerwelt nicht verloren zu haben.“, meinte der Albaner in Richtung der jungen Französin und schob sich einen flachen Hocker heran, auf den er sich schwerfällig setzte.

    „Das musst du ja wissen.“, erwiderte Jeanette mit einem spöttischen Unterton.

    Thomas wusste, dass auch Fatmir eine kurze Beziehung mit ihr geführt hatte, kurz bevor er selbst mit ihr zusammen gekommen war. Beide hatten sich nach Thomas Trennung von ihr oft über die Französin unterhalten, doch Fatmir hatte sich nie große Hoffnungen gemacht und war nie nachtragend gewesen und hatte versucht Thomas mit der Übermittlung dieser Einstellung Verständnis, Mut und Gelassenheit einzuimpfen, was ihm letztlich auch größtenteils geglückt war.

    „Ich habe lang nichts mehr von dir gehört seit der Schule. Hast wohl eine schwere Phase durchgemacht, mein Freund?“, fragte Fatmir Thomas mit echter Anteilnahme.

    „Ich habe einfach Abstand gebraucht und mich zurückgezogen, doch heute bin ich wieder bereit ins richtige Leben zurückzukehren.“

    „Sicherlich. Ich wusste, dass du eine starke Moral hast.“

    „Entschuldige das so offen zu sagen, aber du siehst auch aus, als hättest du jede Menge durchgemacht.“, erwähnte Thomas nach einer kurzen Schweigepause mit einem etwas unbehaglichen und schüchternen Blick, den sein Freund mit einem sarkastischen Lachen beantwortete, bevor er sich umschaute und langsam zu Thomas nach vorne beugte.

    „Lass uns später darüber reden, auf dem Schiff vielleicht.“, flüsterte er und Thomas antwortete mit einem kurzen, neugierigen Nicken.

    Inzwischen war Magdalena Osario zurück zur Gruppe gekehrt, nachdem alle Probleme mit der Dame von der Rezeption geregelt worden waren. Sie stellte sich mutig und entschlossen in die Mitte der anwesenden Gäste.

    „Es ist alles geklärt worden. Ich hoffe, dass sich solch ein Vorfall nicht ein weiteres Mal ereignet, sonst werde ich die entsprechenden Personen von der Veranstaltung ausschließen. Ich appelliere an Sie, dass wir uns zusammengefunden haben, um uns friedlich miteinander auszutauschen und ein wenig Abstand vom Alltag zu gewinnen, um alten Erinnerungen nachzuhängen und gleichzeitig Neues voneinander zu erfahren. Streitereien sind da wirklich unangebracht.“, schloss sie ab und erntete zustimmendes Nicken und sogar vereinzelten Applaus.

    „Wie ich sehe sind auch unsere letzten Gäste eingetroffen.“, konstatierte sie mit einem Blick auf Abdullah, der seiner Gattin Marilou die Hände auf die Schulter gelegt hatte, während diese sich abweisend zur Seite gedreht hatte und zornig ins Leere blickte.

    „Die Yacht steht bereit. Die Reise kann losgehen.“, stellte Magdalena Osario fest und ging zielstrebig auf die Eingangspforte zu, während die umherstehenden Gäste ihr Gepäck sammelten, wieder aufnahmen und ihr langsam folgten.

    Auch Thomas griff nach seiner Sporttasche und verließ, begleitet von Fatmir und Jeanette, das Hotel mit gemischten Gefühlen. Nach dem unglückseligen Streit hatte er ein weniger gutes Gefühl für die nächsten Tage und befürchtete weitere Auseinandersetzungen.

    Er sollte tatsächlich Recht behalten.

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    Kapitel 4: Mittwoch, 11 Uhr 53, Hafenausfahrt

     

    Langsam lief die Yacht aus dem Hafen des kleinen Fischerdorfes aus, das an diesem Morgen relativ verlassen wirkte. Lediglich einige ältere Fischer, die sich an der Küste befanden und einige Netze auf einen älteren Kutter schleppten warfen hin und wieder einige misstrauische Blicke auf die elegante, weiße Privatyacht. Die Sicht in der Hafengegend war sehr klar und man sogar schon die Umrisse der Privatinsel erspähen, allerdings zogen vom Norden her auch erste dunkle Wolken auf und es war dort sogar hin und wieder ein dunkles Grollen zu hören.

    Thomas stand an der Bugseite des Schiffes und verfolgte den Verlauf der Küste, die wild zerklüftet das Fischerdorf einrahmte. Neben ihm stand Hamit Gülcan, der bereits den Maschinenraum und die Kojen unter Deck inspiziert hatte. Der etwas schüchterne Türke hatte ein großes Faible für Schiffe und war der Direktor des größten Schifffahrtsmuseums der Türkei und hatte über diverse Kontakte viele Schiffe für seine Ausstellungen ergattern können. Thomas wusste recht wenig über den schweigsamen Mann, der selbst als Schüler kaum Kontakte gepflegt hatte, jedoch alle Prüfungen mit Bravour bestanden hatte.

    Ebenso wie Thomas starrte der Türke auf den Küstenverlauf und zündete sich dabei eine Zigarre an. Er machte keine Anstalten mit Thomas zu reden und auch dieser war nicht gerade erpicht auf eine Konversation mit dem kauzigen Kerl. Er fragte sich, warum dieser Mann überhaupt zu dem Treffen gekommen war, da er vermutete, dass er sich während des gesamten Aufenthalts auf der Insel eher zurückziehen würde, wie er es immer getan hatte. Nach einiger Zeit wandte sich Gülcan ab und machte sich auf den Weg zum Oberdeck, wo Lykström das Schiff als provisorischer Kapitän steuerte.

    Von der rechten Seite trat nun Fatmir langsam auf Thomas zu und stellte sich neben ihm an die Reling und starrte einige Zeit lang verklärt und emotionslos in den leichten Wellengang. Thomas hatte immer mehr den Eindruck, dass den Albaner Probleme belasteten und ertrug es mit einem Mal nicht mehr seinen alten Kameraden so missmutig neben sich stehen zu sehen. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und blickte sich noch einmal um. Für den Moment waren sie endlich allein, weil die anderen Gäste sich auf der anderen Seite des Schiffes standen, um neugierig nach der Insel Ausschau zu halten.

    „Jetzt sind wir ungestört.“, stellte Thomas fest und blickte den Albaner eindringlich an, doch dieser wich seinem Blick zunächst mit einem tiefen Seufzen aus, bevor er sich letztlich einen Ruck gab und seinem Gegenüber mit trauriger Miene in die Augen blickte.

    „Ich weiß. Ich muss auch mit irgendjemandem darüber reden. Ich habe seit einem Jahr immer wieder Depressionen und ich habe auch ein Alkoholproblem.“, murmelte er mit leiser Stimme und Tränen standen in seinen Augen.

    „Was? Wie kam es denn dazu?“, wollte Thomas wissen, der auf diese Aussage entsetzt reagierte, obwohl er eine ähnliche Hiobsbotschaft bereits erwartet hatte.

    „Es ist ein Jahr her, da hatte ich einen schweren Autounfall. Ich habe ein Vorfahrtsschild übersehen und bin auf offener Kreuzung mit einem riesigen Lastwagen kollidiert. Er hat das ganze Auto zerstört und uns darin eingeklemmt. Die ganze rechte Hälfte des Autos war praktisch wegrasiert worden.“, begann der Albaner zögerlich.

    „Aber dir ist nichts passiert, oder?“, fragte Thomas nachdenklich und sein Gegenüber reagierte darauf sehr empfindlich, packte ihn an den Schultern und schüttelte wütend den Kopf.

    „Mir ist nichts geschehen, es war viel schlimmer. Meine Eltern waren beide im Wagen. Nach der Kollision war mein Vater auf der Stelle tot. Ich konnte mich irgendwann aus dem Wrack befreien, meine Mutter lag eingeklemmt im Fond des Wagens. Ich wollte sofort Hilfe holen, als der Wagen hinter mir explodierte. Es musste wohl irgendwo Benzin ausgelaufen sein und sich entzündet haben.“, berichtete Fatmir und konnte sich nicht mehr beherrschen, als er in ein haltloses Schluchzen ausbrach.

    Thomas konnte ihn sehr gut verstehen und musste an seinen toten Kameraden denken und daran, wie sehr in dieser Vorfall damals zurückgeworfen hatte. Er nahm seinen albanischen Kumpel in die Arme, klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter, doch er fühlte sich seltsam hilflos. Seine Kehle war wie zugeschnürt, er wusste nicht, was er überhaupt tun oder sagen sollte. Er wusste, dass bloße Worte seinem Freund nicht helfen konnten, doch er wollte einfach für ihn da sein und war froh, dass er sich ihm letztlich mutig offenbart hatte. Nach einiger Zeit löste sich Fatmir von ihm und fand ein altes Stofftaschentusch im entlegensten Winkel seiner inneren Jackentaschen und wischte sich die Tränen von seinen unrasierten Wangen. Er atmete tief durch.

    „Ich habe das nie überwinden können. Seitdem verfolgen mich Depressionen und Schuldgefühle und ich bin einige Male mit einigen Bekannten abends losgezogen. Sie waren damals meine einzigen Ansprechpartner und wir versuchten den Alltag zu vergessen. Irgendwann wurden meine abendlichen Streifzüge durch die Lokale regelmäßiger und ich traf neue Leute und kam von einem Teufelskreis in den nächsten.“, gab Fatmir mit geballten Fäusten und grimmiger Miene zu.

    „Du bist alkoholabhängig geworden und hast nie versucht dich dagegen zu wehren? Ich meine, du wolltest doch noch lange studieren und setzt jetzt alles aufs Spiel?“, fragte Thomas ein wenig ungläubig.

    „Ich habe versucht dagegen zu kämpfen, aber es nie geschafft. Dieses Teufelszeug ist stärker als mein eigener Wille. Bis jetzt komme ich noch mit meinem Physikstudium zurecht, aber ich werde bei einigen Dingen immer unkonzentrierter und schaffe es manchmal gar nicht überhaupt morgens zur Universität zu kommen.“, stellte Fatmir wild gestikulierend fest.

    „Du wolltest doch immer eine Doktorarbeit machen, nicht wahr?“, erinnerte sich Thomas.

    „Das ist mein größter Traum, in zwei Jahren wäre es theoretisch schon so weit, ich bin einer der besten Schüler und werde mich auf Kernphysik spezialisieren. Wenn ich den Alkohol überwinde, kann ich es schaffen.“, gab er sich selbst Mut und kniff die Lippen zusammen.

    „Hast du denn nie fremde Hilfe angenommen?“, hakte Thomas nach.

    „Doch, ich war bei einigen Beratern und Psychologen, doch die haben mir lediglich empfohlen in eine Entzugsklinik zu gehen.“, erwiderte Fatmir mit abschätzigem Tonfall.

    „Vielleicht wäre es das beste für dich.“, meinte Thomas dazu, doch er sah das entschlossene Kopfschütteln des Albaners.

    „Das wäre schrecklich, ich würde zahlreiche Lehrgänge meines Studiums verpassen und müsste es letztendlich vielleicht sogar ganz abbrechen.“, sprach er seine Sorgen mit verzweifeltem Tonfall aus.

    „Wenn du dir nicht helfen lässt, dann wirst du deine Träume ohnehin aufgeben müssen, sei dir darüber im Klaren. Unterbreche dein Studium für ein gewisse Zeitspanne und mache diesen Entzug, nur dann hast du eine reelle Chance.“, gab Thomas ihm zu verstehen und legte ihm beide Hände auf die Schultern und das trotzige Gesichts eines Gegenübers wandte sich wieder schluchzend zu Boden.

    „Wahrscheinlich hast du recht. Aber wenn meine Professoren das erfahren, wäre mein ganzer guter Ruf zerstört“, meinte Fatmir nach einiger Zeit kleinlaut und fast ängstlich wimmernd.

    „Sie werden es sicherlich befürworten, dass du so sehr um deine Zukunft und Gesundheit kämpfst. Sie würden dich eher verabscheuen, wenn sie merkten, dass du heimlich trinkst und nichts dagegen tust, das wird ihr Vertrauen in dich eher zerstören.“, argumentierte Thomas eindringlich und blickte in Fatmirs wässrige Augen.

    „Aus der Sicht habe ich die Lage noch nie betrachtet.“, gab er nach einer längeren Schweigepause halb verblüfft, halb ernüchtert zu.

    „Du solltest es so sehen. Versprich mir, dass du nach diesem Treffen eine Entziehung unternehmen wirst.“, verlangte Thomas und reichte ihm die Hand.

    Langsam blickte Fatmir ihm in die Augen und dann auf die ausgestreckte Hand. Er atmete tief durch, schloss die Augen und ließ sich die Dinge noch einmal durch den Kopf gehen. Er haderte mit seinem Schicksal und wirkte verbissen und sehr unruhig, doch nach einigen endlos wirkenden Sekunden überwand er sich und packte Thomas Hand erst leicht und unentschlossen und dann härter und energischer, als sich seit langer Zeit wieder ein kämpferischer Blick in seine Augen stahl.

    „Danke.“, sagte er aufrichtig und legte seine zweite Hand auf das umschlossene Händepaar, um seinen Willen und sein Versprechen zu unterstreichen.

    In dem Moment kam ein weiterer Gast langsam die Treppe des Oberdecks hinunter und schüttelte missmutig den Kopf. Thomas erkannte in ihm Mamadou Kharissimi, einen hünenhaften ghanaischen Mann, der zehn Jahre älter wirkte, als er es eigentlich war. Er war sehr muskulös, aber ebenfalls ein sehr intelligenter Mensch, der stets für Gerechtigkeit kämpfte und daher, wie Thomas erfahren hatte, in kurzer Zeit zum stellvertretenden Polizeipräsidenten in Edinburgh aufgestiegen war, ein Karrieresprung, der Thomas, der ja praktisch im selben Metier arbeitete, wohl nie gelingen würde, da ihm dazu die Disziplin und vielleicht auch der Ehrgeiz fehlte. Er hatte den einzigen Afrikaner ihrer Gruppe immer geschätzt, er war jemand gewesen, der auch für ihn und seine Freunde einige Male beschwichtigende Worte beim Direktor eingelegt hatte, wenn sie wieder irgendeine Dummheit ausgefressen hatten. Er hatte sich auch für die nachfolgenden Klassen stets engagiert und vor allem ausländischen Schülern immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Er war damals vermutlich der Erwachsenste in ihrer Stufengemeinschaft gewesen.

    Langsam trat er nun auf Thomas und Fatmir zu, die beide sehr froh darüber waren, nicht bereits vorher in ihrem intensiven Gespräch gestört worden zu sein. Mamadou wirkte verbissen und Thomas erkundigte ich sofort nach dem Grund.

    „Es liegt an diesem Koreaner. Er verbreitet schon wieder enormen Unfrieden. Eben hat er sich über Francesca Gallina lustig gemacht, wegen ihrer religiösen Einstellung und schmutzige Witze gerissen. Er hat erst aufgehört, als Frau Osario das Ganze bemerkt hatte und einige strenge Worte einlegen musste.“, klärte Mamadou die beiden auf.

    Thomas erinnerte sich auch an Francesca Gallina, eine junge, bildhübsche Italienerin, die allerdings, zum Leidwesen aller männlicher Mitschüler, sexuelle Bekanntschaften strikt ablehnte, da sie streng katholisch erzogen worden war und Geschlechtsverkehr vor der Hochzeit generell verurteilte und auch ansonsten sehr konservativ und unnahbar wirkte. Dennoch war sie stets eine einfühlsame und empfindliche Person gewesen und leicht beeinflussbar, was wohl auch Gwang-jo wusste und brutal ausnutzte.

    „Ich befürchte, dass wir mit diesem Kerl noch viel Ärger haben werden.“, meinte Thomas düster und starrte auf das langsam fortschwindende Küstenufer.

    „Ich werde versuchen mit dem Schuldirektor zu sprechen und ihn vor diesem Kerl zu warnen.“, gab Mamadou entschlossen und grimmig von sich.

    „Das halte ich allerdings für überflüssig. Hand aufs Herz: Selbst dem Direktor dürfte hinreichend bekannt sein, dass Gwang-jo ein provokantes Ekelpaket ist und er hat ihn dennoch eingeladen.“, widersprach Thomas bestimmt.

    „Eine Einladung pro forma.“, fügte Fatmir hinzu.

    „Wir werden sehen, wie er sich weiterhin verhält und ich bin überzeugt, dass Osario und Lykström schon ganz besonders ein Auge auf ihn werfen.“, fügte Thomas hinzu.

    „Du hast wohl recht. Mir ist aber ganz und gar nicht wohl zu wissen, dass ich mit diesem Kerl fünf Tage auf einer Insel hocken werde.“, gab Mamadou etwas ratlos zu.

    „Wenn wir zusammenhalten wird er kaum Opfer finde. Außerdem sollten wir ihn ignorieren, es sind ja noch genügend andere Leute da.“, meinte Thomas optimistisch und sah wie sich Mamadous Gesicht mit einem freundlichen Lächeln aufhellte.

    In dem Moment trat der letzte noch verbliebene Gast des Treffens zu den drei Männern. Es handelte sich um Elaine Maria da Silva, eine blutjunge Brasilianerin, die sozusagen mit ihren gerade Mal einundzwanzig Jahren das Küken in der Gruppe war. Sie war allerdings schon immer ihrem Alter voraus gewesen, wie sich Thomas mit einem Lächeln erinnern musste. Sie war nicht nur besonders intelligent gewesen, sondern hatte auch mit anderen Dingen nicht gegeizt. Sie war zwar nicht so sehr angebetet worden wie Jeanette und sie hatte ihre Beziehungen auch nie unbedingt an die große Glocke gehangen, aber auch sie hatte mehr als einen Mitschüler intensiver gekannt. Thomas hatte bei einer kurzen Affäre mit ihr jedoch schnell gemerkt, dass die Frau nicht die Richtige für ihn zu sein schien, da sie oft unter Stimmungsschwankungen litt, aber auch eine dominante und arrogante Ader hatte. Sie war immer irgendwie ein Mysterium für ihn gewesen und auch ein krasser Gegensatz zu der modischen, lebensfreudigen Französin, da die junge Brasilianerin praktisch immer ganz in schwarz gekleidet und sehr dunkel geschminkt umherlief und somit auf einige Leute sehr anziehend und ungewöhnlich, auf andere wiederum abstoßend und geradezu unheimlich gewirkt hatte. Sie war seit zwei Jahren als Horrorautorin bekannt und hatte bereits die erste Staffel ihrer Serie veröffentlicht. Sie war damit so erfolgreich gewesen, dass sie ihr Pädagogikstudium abgebrochen hatte. Viele Lehrer und ehemalige Mitschüler hatten über diese Art von Karriere die Nase gerümpft, zumal in den Büchern Kämpfe mit dämonischen Wesen und Sexorgien sehr intensiv beschrieben wurden. Manchmal fragte sich Thomas, ob sie nicht vielleicht geistig gestört war, doch auf der anderen Seite hatte sie nie wirklich mit irgendwem Streit gehabt oder die Privatschule boykottiert und war, was schulische Dinge anbelangte, zudem auch immer sehr hilfsbereit gewesen, sodass Thomas sie einfach nur ungewöhnlich fand und aus ihr nie schlau geworden war, trotz ihrer intensiven Kurzbeziehung.

    Auch jetzt war Elaine ganz in schwarz gekleidet. Sie trug dunkle Lederstiefeletten und schwarze Seidenstrümpfe, sowie einen recht kurzen, schwarzen, ausgefransten Rock und ein figurbetontes schwarzes Top. Sie hatte sogar eine dunkle Sonnenbrille aufgezogen und ihre Fingernägel schwarz lackiert. An ihren Händen trug sie mehrere silberne Ringe, oft mit Schlangen- oder Totenköpfen darauf.

    Alle Augen hafteten auf ihr, als sie langsam näher kam und sich genüsslich eine Zigarette anzündete, die sie lässig zwischen Zeige- und Mittelfinger hielt. Thomas konnte nicht verhindern, dass er sich von der düsteren Dame wieder ungemein angezogen fühlte und sie schien ihn durch die dunklen Brillengläser auch zu mustern. Ein spöttisches Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.

    „Wir sind bald angekommen. Ich habe das Schloss bereits mit einem Fernglas inspiziert. Ich bin überzeugt davon, dass mir dieser Ausflug einige Inspirationen für einen neuen Roman geben könnte.“, gab sie süffisant zu.

    „Solange wir darin nicht die Opferrolle übernehmen, soll es mir recht sein.“, gab Fatmir trocken zurück.

    „Wer weiß das schon? Manchmal liegen Täter und Opfer nah beisammen.“, orakelte Elaine Maria da Silva und schickte ein raues Lachen hinterher.

    In diesem Moment trat Lyksröm an das Treppenende zum oberen Deck und winkte ihnen freudig zu.

    „Wir laufen jetzt gleich schon die Anlegestelle der Insel an. Kommt doch nach vorne, da habt ihr eine bessere Sicht auf die Insel.“, rief er ihnen zu und kehrte dann nach oben zurück.

    Die Anwesenden befolgten seine Idee und machten sich an den Aufstieg auf das Oberdeck. Dort wirkte die Yacht besonders luxuriös. Die Holzplanken wirkten unnatürlich sauber und blank poliert, eine kleine Bar befand sich in der hinteren Ecke der Bugseite des Schiffes, davor befanden sich einige moderne Glastische und schräg davor sogar ein kleiner Whirlpool und ein normales Schwimmbecken, das etwa vier fünf mal vier Meter maß. Darum platziert befanden sich einige Liegestühle, die bis an die Kapitänskabine heranreichten, wo Lykström hinter getönten Scheiben stand und die Elektronik des Schiffes zu bedienen schien. Langsam ging Thomas an der Kabine und dem kleinen Untergang zu den Kojen im Schiffsinnern vorbei und auf die andere Seite des Schiffes, wo die restlichen Gäste versammelt waren. Lediglich Hamit Gülcan war noch verschwunden und Gwang-jo kauerte ein wenig abseits auf einem Liegestuhl sitzend und eine Zigarette rauchend.

    Thomas gesellte sich zu den anderen Gästen und nahm die Insel genauer in Augenschein, die ihm für die nächsten fünf Tage als vorübergehendes Zuhause dienen sollte.

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    Kapitel 5: Mittwoch, 12 Uhr 30, Anlegestelle

     

    Aufmerksam betrachtete Thomas die Insel und vor allem das relativ zentral gelegene

    Schloss, das im neugotischen Baustil errichtet worden war und auf Thomas irgendwie unheilvoll und düster wirkte. Eine Art Thermalbad schien sich auch unweit des Schlosses zu befinden, dessen düstere Hitzeschwaden wie gespenstische Finger am Schlossgemäuer entlang streiften. Wie düstere Mahnmale ragten im Hintergrund auf der anderen Seite des Schlosses einige dunkle Grabsteine aus der Erde, die sich vor einem undurchdringlich erscheinenden Dickicht befanden, das bis zu einem etwas hügeligeren und höher gelegenem Plateau führte. Thomas fixierte das Dickicht näher, welches sich unter dem frisch aufkommenden Westwind von einer Seite zur anderen bog. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass irgendetwas oder auch irgendjemand in diesem Dickicht lauern könnte. Unwillkürlich bekam er eine fröstelnde Gänsehaut und ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Er versuchte sich innerlich zu beruhigen und die Gedanken als lächerlich herabzusetzen, doch ein mulmiges Gefühl war immer noch latent vorhanden. Mit einem Seitenblick auf Jeanette, die rechts neben ihm stand und gerade eben noch mit Malcolm in einem Gespräch versunken war, stellte er fest, dass auch sie angespannt wirkte. Vermutlich hatte sie sich die Insel schöner und fröhlicher vorgestellt und sich insgeheim sogar einen Sandstrand gewünscht, den es offensichtlich nicht gab. Es schein sich eine drückende Stimmung auf die gesamte Gruppe legen zu wollen und es herrschte ein unheilvolles Schweigen. Alle starrten gebannt auf das Schloss, als ein lautes Hupen alle urplötzlich zusammenzucken ließ.

    Thomas fuhr erschrocken herum und sah Björn Ansgar Lykström vor sich, der die Schiffshupe ausgelöst hatte und sich prächtig über seinen Scherz amüsierte, während ihn Magdalena Osario, die neben ihm stand, eher vorwurfsvoll anblickte. Immerhin hatte diese Aktion es geschafft, die Passagiere ein wenig von ihren düsteren Gedanken zu lösen. Erste Gespräche setzten wieder ein und beendeten die drückende Totenstille, die sich zuvor wie eine eisige Klaue um sie alle gelegt hatte.

    Thomas starrte wieder kurz in Richtung des Schlosses, dessen gewaltiges Eingangsportal sich nun öffnete. Hinaus traten drei Männer, die allesamt in dunkle Anzüge gekleidet waren und sich der Anlegestelle näherten. Thomas glaubte unter den Personen in der Mitte den österreichischen Direktor zu erkennen.

    Lykström begab sich eine Etage tiefer und Magdalena Osario übernahm das Steuer. Mit einem durch Mark und Bein gehendem Geräusch ließ sie per Knopfdruck den Anker betätigen, der an einer Eisenkette befestigt war, die nun schwer ins Wasser viel, sodass ein leichter Ruck durch die Yacht ging. Lykström mühte sich eine Etage tiefer damit ab, eine Trennwand zu entfernen und einen kleinen Steg auszufahren und zum Pier hin auszurichten. Hamit Gülcan, der von irgendwoher aufgetaucht war näherte sich ihm und wurde behilflich, sodass sie die Aufgabe gemeinsam meisterten. Im selben Moment stellte Magdalena Osario die Schiffsmotoren ab und es herrschte wieder eine bedrückende Stille. Nur das unruhige Plätschern des Wassers gegen die Bordwände war zu hören, sowie das raue Pfeifen der steifer werdenden Meeresbrise.

    Viele der Anwesenden starrten betreten auf ihre Fußspitzen, manche blickten gar sehnsüchtig zur in die Ferne gerückten Küste Nordschottlands. Thomas bekam mehr und mehr das ungute Gefühl, dass der Inselaufenthalt unter keinem guten Stern stehen würde. Die beiden düsteren Schlosstürme wirkten auf ihn fast wie Mahnmale zur Grenze in eine dunklere Welt.

    In diesem Moment erreichten die drei Herren der Pier und verharrten dort in seltsam steifer, unnatürlicher Lage. Thomas gab sich einen Ruck, wandte sich um und trat zur Treppe in den unteren Bereich des Schiffes. Zögerlich folgten andere Anwesende seinem Beispiel und schienen aus einer Art Trance zu erwachen. Das euphorisierende Gefühl, das manche der Anwesenden zu Beginn der Reise noch verspürt hatten, war komplett verschwunden.

    Thomas trat langsam auf den schmalen Steg und folgte damit Björn Ansgar Lykström, der als erste Person auf die Insel getreten war. Hinter Thomas befand sich noch Fatmir, der das Schiff ein letztes Mal eingehend musterte und dann mit nachdenklicher Miene ebenfalls den ausgefahrenen Steg betrat.

    Thomas erreichte den stabilen Pier, auf dem sich in einigen Metern Entfernung auch die drei Männer in den Anzügen befanden. Seine Vermutung wurde zur Gewissheit, als er in dem mittleren der drei Herren den Direktor wieder erkannte. Er war etwas größer gewachsen, als die beiden anderen Männer und wirkte sehr hager, fast schon mager. Er hatte eine runde Brille auf, die ihm in Zusammenhang mit seinem stechenden Blick eine gewisse Strenge verlieh. Sein graues Haar war halblang und wirr nach hinten gekämmt. Eine Narbe schmückte die linke Hälfte seines Gesichtes von der Augenbraue bis zum Kieferknochen und machte ihn noch abstoßender. Lediglich seine Zähne hatten ein fast schon strahlendes Weiß, doch sein Lächeln wirkte irgendwie gezwungen und unecht, vielleicht sogar hämisch.

    Thomas hatte in seinem Leben und seiner Ausbildung als Polizist gelernt Menschen besser einzuschätzen und hatte das untrügliche Gefühle, dass der Aufenthalt auf der Insel mit dem Direktor alles andere als ausgelassen und entspannend werden würde. Die so unbeschwert klingende Einladung des mürrischen Österreichers war Thomas ohnehin ziemlich seltsam vorgekommen. Er bereute es langsam überhaupt gekommen zu sein, doch eine gewisse Neugier trieb ihn dennoch weiter voran.

    Zögerlich folgten ihm auch die anderen Gäste und zuletzt verließ Magdalena Osario die moderne Yacht und ihr Kollege Björn Ansgar Lykström machte sich daran, den Steg wieder einzufahren. Thomas fiel auf, dass Magdalena Osario sich ihrem Mann nicht näherte und nicht einmal Blickkontakt mit ihm aufnahm. Stattdessen stellte sie sich in den Hintergrund der Gruppe, als ob sie sich verstecken wollte. Thomas spürte, dass irgendetwas nicht normal war und auch Björn Ansgar Lykström ließ seinen Blick misstrauisch zwischen der spanischen Lehrerin und dem österreichischen Direktor hin- und herpendeln. Als der Schwede seine Arbeit verrichtet hatte sprang er leichtfüßig über eine Barrikade auf den Pier und stellte sich mit verschränkten Armen neben Magdalena Osario. Der österreichische Direktor lächelte böse und richtete dann das Wort an die Neuankömmlinge.

    „Herzlich willkommen auf „Osario Island“. Ich bin glücklich, dass Sie meinen Einladungen so zahlreich gefolgt sind. Ich hoffe, dass Sie eine angenehme Reise bis hierhin hatten. Ich bin davon überzeugt, dass Sie das Wochenende genießen werden und es wird sicherlich die eine oder andere Überraschung geben. Ich denke, dass wir den heutigen Tag etwas ruhiger angehen werden. Sie sind sicher von der Reise erschöpft und wollen vor allem das Schloss und Ihre Zimmer kennen lernen. Daher bitte ich Sie darum mir einfach zu folgen.“, schloss der Direktor seine Rede und musterte seine Gäste mit lauerndem Blick, doch er erhielt keine Reaktionen oder Antworten und fügte somit selbst noch etwas hinzu.

    „Vorher möchte ich Ihnen noch meine Begleiter vorstellen, die auch auf dem Schloss residieren. An meiner linken Seite ist  James Wigg, der Koch des Hauses. Er hat einige exzellente kulinarische Spezialitäten auf Lager. Sie dürfen sich beim Mittagessen gerne selbst davon überzeugen.“, bot Wohlfahrt mit einem dünnen Lächeln an.

    Der Koch trat kurz vor und wirkte dabei sehr ruhig und irgendwie unbeteiligt und legte keinen Wert darauf irgendetwas zu sagen. Er zog sich schnell und elegant wieder zurück. Er war bereits etwas älter als der Direktor und ein wenig kleiner und kräftiger. Er trug einen grauen, auffälligen Schnurrbart und hatte eine Halbglatze. Er hatte eine hohe, weiße Kochmütze unter seinen linken Arm geklemmt, die irgendwie nicht so recht zu dem vornehmen Anzug passen wollte. Thomas wusste nicht so recht, wie er diesen Mann einschätzen sollte.

    „Zu meiner rechten Seite ist mein Butler Francis McGregor. Er wird auch Ihnen stets behilflich sein und für Ihren vollen Komfort verantwortlich sein.“, fuhr Wohlfahrt fort.

    Der Butler trat hervor und verneigte sich leicht. Er wirkte wie man sich einen typischen Butler vorstellte. Er war ein wenig jünger noch als Direktor, sehr hager und hatte pechschwarzes Haar und einen eleganten Schnauzer. Er bewegte sich sehr elegant und geschmeidig und trug weiße Handschuhe und hatte eine gewisse Ernsthaftigkeit in seinen Zügen, in denen ansonsten keinerlei Regungen zu vermerken waren. Thomas sah aber ein seltsam unstetes Flackern in den Augen des Mannes, was bewies, dass er seine ruhige Zurückhaltung nur spielte.

    Langsam trat auch er zurück und verharrte in einer geraden, fast schon steifen Haltung, die im krassen Gegensatz zur gekrümmten Haltung des leicht buckligen Kochs stand. Doktor Wohlfahrt wandte sich ohne weiteren Kommentar ab und schritt zielstrebig auf den Eingang des Schlosses zu, ohne seine Frau oder Lykström begrüßt oder ihnen in irgendeiner Form für das Abholen der Gäste gedankt zu haben.

    Der Weg führte über eine kleine Treppe und einen breiten Weg durch einen sehr ordentlich gepflegten Garten, der gar nicht zu dem wirren Dickicht auf der anderen Seite passen wollte. An der linken Seite, nahe den Klippen waren sogar einige Gemüsebeete neben einem alten Geräteschuppen. Dort stand ebenfalls eine unheimlich anmutende Vogelscheuche aus zerrupftem, dreckigem Stroh, die mit einer zerrissenen Baskenmütze und einer hässlich auf morsches Holz aufgemalten Fratze ausgestattet war. Auf einem Querbalken, der eine Art Schulter symbolisierte hockte ein pechschwarzer Kolkrabe, der keinerlei Angst vor der Vogelscheuche zu empfinden schien und aus dunklen Augen den Neuankömmlingen entgegenstarrte. Er löste sich aus seiner bedrohlichen Starre und stieß sich mit einem schrägen Krächzen von der Vogelscheuche in die Lüfte ab, wo er langsam seine Kreise zog und ein weiteres böse klingendes Krächzen von sich gab. Thomas fühlte sich immer unbehaglicher und bekam eine Gänsehaut. Der Rabe wirkte auf ihn wie ein dämonischer Vorbote und die Stimmung in der Gruppe, die dem Schlossherrn schweigend folgte schien noch bedrückender zu werden. Thomas kam sich eher wie auf einer Beerdigungszeremonie vor.

    Schließlich hatte der Schlossherr das gewaltige Eingangsportal erreicht und packte mit hartem Griff einen Metallring an der Tür, der in das künstliche Maul eines überdimensionalen Phantasiegebildes eingebaut worden war, welches am ehesten noch an einen aggressiven Hund erinnerte. Mit einem Ruck zog er die rechte Seite des Portals nach außen auf, was ein lautes, schräges Quietschen verursachte, was allen Anwesenden durch Mark und Bein ging. Düster lag die Eingangshalle vor ihnen und der Schlossherr verbeugte sich theatralisch. Er machte eine gekünstelte, einladende Handbewegung, während der Butler und der Koch ihn starr und regungslos einrahmten.

    Thomas gab sich einen Ruck, als niemand den Anfang machen wollte und überschritt die Schwelle des Eingangs mit einem unguten Gefühl.

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    Kapitel 6: Mittwoch, 12 Uhr 45, Eingangshalle


    Unbehaglich schaute sich Thomas Jason Smith in der dunklen Eingangshalle um. Sie wirkte auf ihn wie ein erdrückendes und überdimensionales Hexagon. Die Halle maß eine enorme Höhe und die Decken waren mit düsteren Freskomalereien verziert. An der Decke waren auch die Halteteile für einen gigantischen Kronleuchter befestigt, dessen schwaches Licht die Halle in ein unnatürliches Zwielicht tauchte. Ansonsten befanden sich an den Seiten mehrere Kerzenständer und Fackeln, sodass sich Thomas unwillkürlich in vergangene Jahrhunderte zurückversetzt fühlte. Der Schotte bemerkte auch einige exotische Waffen, die der Österreicher über Jahre hinweg gesammelt und nun zur Dekoration an den Wänden befestigt hatte. Der Boden der Halle war aus edlem Marmor, der an seinem zentralsten Punkt eine Weltkarte symbolisierte. Auf der rechten Seite, unmittelbar neben dem Eingang, befand sich eine düstere Treppe die steil in die Tiefe führte und einen scharfen Knick machte. Weiter vorne, wo die Halle breiter wurde, führten zwei breite, mit purpurfarbenem Teppich ausgelegte Treppen sanft in die Höhe in das nächste Stockwerk. Etwas höher gelegen lag zwischen den beiden Aufgängen eine Art Vorsprung, auf dem sich ein kleiner, heller Springbrunnen befand, der eine Art Riesenschlange symbolisierte, die mit grausamen Blick das kühle Nass in die Höhe spuckte.

    Mit einem Schaudern wandte Thomas seinen Blick von dem mysteriösen Gebilde ab und erspähte ein weiteres Portal am anderen Ende der Halle, das in einen schmalen Gang führte, in dem einige alte Ritterrüstungen standen und zwei elegante Teppiche die Wände verzierten. Sie zeigten beide eine zerstörte Stadt, die entweder von Phantasiegestalten oder glühenden Kometen angegriffen wurde. Hinter dem Durchgang befand sich eine Art Wohnraum, der ebenfalls sehr groß wirkte und in dem sich endlos hohe Bücherregale türmten. An den Wänden befanden sich zudem eine Art Schwertersammlung und afrikanische Totenmasken, die aus pechschwarzen Augen den Ankömmlingen entgegen starrten. Dazwischen erblickte Thomas eine völlig unpassende Kuckucksuhr, die allerdings nicht mehr funktionstüchtig zu sein schien, da die Zeiger stehen geblieben waren und die gesamte Apparatur schon mit Staub überdeckt war.

    Auch die anderen Ankömmlinge hatten sich mittlerweile ein wenig vorgewagt und betrachteten mit unguten Gefühlen die bedrohliche Umgebung. Das unechte Lachen des Direktors verstärkte die unangenehme Stimmung noch, obwohl er die Atmosphäre wohl ein wenig auflockern wollte. Er trat aus der Gruppe hervor und stellte sich mit einer einladenden Geste in die Mitte der Halle, eingerahmt von seinem Butler und dem Koch, die beide wie gefühllose Marionetten wirkten.

    „Ich heiße sie noch einmal ganz herzlich willkommen auf Osario Island und in unserem Schloss. Sie können ihre Reisetaschen gerne vorübergehend hier stehen lassen, wir haben uns alle vorher eine Stärkung verdient, das Mittagessen ist bereits angerichtet. Wenn Sie uns dann folgen würden...“, schloss Wohlfahrt und wandte sich bereits entschlossen um.

    Thomas ließ seine Reisetasche unmittelbar neben dem Treppenaufgang stehen und schaute sich weiterhin missmutig um. Neben ihm tat Mamadou Kharissimi das Gleiche.

    „Die ganze Umgebung wirkt irgendwie unheimlich auf mich. Ich hatte vor einem Jahr in meinem Präsidium einen Doppelmord in einem alten Herrenhaus aufzuklären. Es wirkte genauso düster und groß wie hier. Der Hausherr hatte stranguliert in einem großen Ohrensessel gehangen, während seine Frau nackt und kopfüber an das Treppengeländer in der Eingangshalle gefesselt worden war, nachdem man sie brutal erschlagen hatte. Letztlich war es der Butler, der alles gestanden hat und er ist dafür ins Zuchthaus gekommen.“, berichtete Kharissimi nachdenklich und Thomas fühlte sich mit einem Mal noch bedrückter.

    „Nun malen Sie mal nicht den Teufel an die Wand. Wozu erzählen Sie mir solche Schauergeschichten überhaupt. Man bekommt es hier ja bislang allerseits nur mit negativen Neuigkeiten zu tun. Hier wird es keine Kriminalfälle zu lösen geben.“, sprach Thomas aus und wollte sich selbst Mut zureden, während er mit seinem Handrücken nervös die Nasenflügel massierte und tief durchatmete.

    „Nichts ist unmöglich.“, antwortete Kharissimi orakelhaft und lächelte vielsagend, bevor er sich weiter in Bewegung setzte und dem Schlossherrn in den Wohnsaal folgte.

    Malcolm McCollaugh hatte den letzten Teil des Gespräches mitbekommen und legte seinem ehemaligen Mitschüler seine kräftige Hand auf die Schulter. Thomas mochte diese pseudofreundschaftliche Geste nicht sehr gerne, zudem schien die eiserne Hand ihn gar nicht mehr loslassen zu wollen.

    „Er hatte schon früher immer solch einen schwarzen Humor gehabt. Paola hatte mich gerade schon darum gebeten, heute Abend ein wenig Dudelsack zu spielen, das wird die Stimmung sicherlich auflockern.“, erwähnte McCollaugh und löste seine Hand endlich von Thomas Schulter, der sich diese mit der Hand des anderen Arms sanft rieb.

    „Das halte ich für eine gute Idee.“, antwortete er knapp und folgte nun auch in das große Wohnzimmer, welches noch leicht von einem letzten glimmernden Holzscheit im Ofen erhellt wurde und komplett mit Teppich überzogen war.

    In dem recht altertümlichen Raum gab es keinerlei Fenster, jedoch einen schmalen, dunklen Gang der in den Speisesaal führte, der auf der rechten Flügelseite des Schlosses lag und dort auch viele Fenster hatte, die den Raum in ein blendend weißes Licht tauchten. Ein riesiger, langer Tisch stellte den Mittelpunkt des Raumes dar. An jedem Platz gab es ein Namensschild, neben dem jeweils ein Schlüssel lag. Thomas wunderte sich ein wenig über diese Prozedur, die auf ihn irgendwie eher unpersönlich wirkte. Zudem fragte er sich, warum jeder strikt ein Einzelzimmer bekam, sogar Abdullah und Marilou.

    Er blickte sich weiter um und erspähte am anderen Ende des Raumes eine Art Rezeption, hinter der sich jedoch die Küche befand, die auf ihn selbst aus der Entfernung steril sauber wirkte und eher an ein Krankenhaus erinnerte. Schräg mittig davor befanden sich zwei Tische, auf denen das Büffet auslag. Rechts davon gelegen befand sich ein weiterer Gang, der in ein anderes Zimmer führte, sowie ein Aufgang zu einer steilen Treppe, die wohl bis in das Turmzimmer führte.

    Thomas hatte schon bald sein Namensschild erspäht und setzte sich widerwillig an den befohlenen Platz und wartete, bis die letzten Gäste ihren Platz gefunden hatten. Thomas hatte zu seiner linken Seite die schüchtern wirkende Religionswissenschaftlerin Paola Francesca Gallina und zu seiner rechten Seite die brasilianische Horrorautorin Elaine Maria da Silva sitzen, die still und aufmerksam die anderen Gäste musterte und hin und wieder verschmitzt lächelte, wenn sie deren Unbehagen bemerkte. Es herrschte noch immer ein bedrückendes Schweigen unter den Gästen und so dauerte es nicht lange, bis sich der Gastgeber wieder zu Wort meldete, der theatralisch mit einer Art Schlagstock gegen eine kleine, orientalische Gong schlug. Der blecherne, unnatürliche Klang ließ alle noch einmal zusammenzucken und alle wandten ihre Blicke in Richtung des Direktors, der ein wenig abseits am Tischende saß und lediglich seinen Butler neben sich stehen hatte, der immer mehr wie ein gefühlloser Roboter wirkte. Thomas mochte diese künstliche Steifheit nicht, sie war ihm sogar suspekt. Doktor Wohlfahrt, der seltsamerweise nicht in der Nähe seiner Gattin, sondern am anderen Kopfende des Tisches Platz nehmen wollte, hatte nur einen Satz zu verkünden und er tat dies wieder mit einem gezwungenen, schmalen Lächeln.

    „Verehrte Damen und Herren: Das Büffet ist hiermit eröffnet.“

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    Kapitel 7: Mittwoch, 12 Uhr 55, Speisesaal


    Thomas hatte sich gerade eben am Büffet einen kleinen Salat mit viel Mais und Thunfisch, garniert mit ein wenig Petersilie und einer herzhaften Cocktailsoße, geholt und kehrte zu seinem Stammplatz zurück. Zu seiner linken Seite war Francesca Gallina in ein Gespräch mit Wohlfahrt verwickelt, der wie ein Raubtier um den Tisch streifte und mit einigen Gästen belanglose Gespräche angefangen hatte. Er selbst schien keinen Wert auf sein Essen zu legen und verbreitete eine unangenehme Unruhe, wie Thomas fand.

    „Sie finden die Kapelle, wenn sie diesen Raum in Richtung des zweiten, westlichen Turmzimmers hinter der Küche verlassen. Dort zweigt ein längerer Gang ab, der komplett mit Glasscheiben ausgestattet ist und sie können von dort aus auch einen Blick auf meinen bescheidenen botanischen Garten werfen, wo sich auch ein Vogelkäfig befindet. Mein Prachtstück sind zwei Aras, die ein Studienfreund aus Brasilien mitgebracht hatte, aber das nur nebenbei. Dahinter führt eine breitere Steintreppe geradewegs in die Kapelle. Sie haben dort die Gelegenheit jeden Tag zu beten, ich bin selbst fast jeden Morgen um 11 Uhr dort. Ich habe einigen anderen Gästen bereits angeboten, morgen ebenfalls an einem Gottesdienst teilzunehmen.“, führte Wohlfahrt gerade der interessiert blickenden Italienerin aus.

    „Wer wird die Gottesdienste denn halten?“, hakte diese begeistert nach.

    „Mein Koch James Giggs. Sein Vater war ebenfalls Pfarrer, sein Großvater hatte gar die letzten zwanzig Jahre seines Lebens im Kloster verbracht, nachdem seine Frau gestorben war. Er ist besonders talentiert und seine Predigten sehr lehrreich.“, erklärte Wohlfahrt weiterhin und seine Gesprächspartnerin versprach ihm mit strahlenden Augen am nächsten Tag zu kommen.

    Wohlfahrt wandte sich zufrieden ab und nun Thomas zu, der davon nicht allzu begeistert war, doch er versuchte dies souverän zu überspielen und schenkte seinem Gegenüber sogar ein freundliches Lächeln, der dies freudig erwiderte und ihn überschwänglich ansprach.

    „Thomas, mein lieber Freund, wie gefällt es Ihnen hier?“

    Thomas überlegte kurz wie er seine Antwort formulieren sollte. Er war niemand, der seine Gesprächspartner anlog, sondern jemand, der nahezu immer offen seine Meinung sagte, wenn er denn danach gefragt wurde. Auf der anderen Seite war er ja eingeladen worden und hatte somit keinen Grund sich auf überhebliche Art nun zu beschweren, er war ja aus freien Stücken gekommen. Zudem wollte er nicht in ein Streitgespräch mit dem kauzigen Direktor verfallen, da dies die Stimmung womöglich noch weiter verschlechtern würde und er sein Gegenüber zudem so schnell wie möglich abfertigen wollte. Eine ermüdende Diskussion war wirklich das letzte, wonach der junge Schotte sich jetzt sehnte. Thomas war gekommen, um sich abzulenken und um alte Schulkameraden wieder zu treffen, aber mit dem unsympathischen Direktor wollte er so wenig wie möglich zu tun haben. Daher entschied er sich nach einigen Sekunden für die sichere Variante der Antwort, indem er auf die Frage nicht direkt einging. So etwas hatte er an der Eliteschule im Rhetorikunterricht gelernt und später in den Zeiten seiner Isolation auch im richtigen Leben schon oft genug erprobt.

    „Ich bin mir sicher, dass wir alle einen entspannenden und schönen Aufenthalt in ihrem Schloss haben werden.“

    „Selbstverständlich. Wo liegen denn ihre speziellen Interessen? Ich denke Sie sind mehr der sportliche Typ, da lagen auch früher schon ihre Stärken.“, stellte der Direktor mit einem fiesen Grinsen fest und Thomas erinnerte sich an sein miserables Abschlusszeugnis, nachdem der Tod seines Freundes ihn fast ganz aus der Bahn geworfen hatte. Zwar war er immer froh darüber gewesen sein Diplom trotz allem bestanden zu haben, was ihm nach all den Ereignissen viel Kraft und Beherrschungswillen gekostet hatte, doch selbst seine Eltern waren mit den schwachen Leistungen alles andere als zufrieden gewesen, ebenso wie der Direktor. Das einzig konstante gute Fach war in jenen Zeiten die sportliche Ertüchtigung gewesen.

    Thomas erinnerte sich mit einem Schmunzeln an ein groß arrangiertes Boxturnier, in welchem er es bis ins Finale geschafft hatte, wo er gegen den brutalen Gwang-jo ankämpfen musste. Der Kampf war sehr heftig geworden und Thomas hatte seinem Gegner mit letzter Kraft das Nasenbein zertrümmert, als dieser ihn mehrfach unterhalb der Gürtellinie traktiert hatte und in einen waren Aggressionsrausch verfallen war, den selbst der Lehrer nicht unterbinden konnte. Sein Gegner wollte sich auf ihn stürzen und mit diversen Gegenständen auf ihn einprügeln, der Koreaner war vollkommen ausgerastet. Letztlich waren einige Lehrer doch noch dazwischen gegangen und das gesamte Turnier war annulliert worden und wurde nie wieder ausgetragen. Allerdings hatte Gwang-jo noch zwei Tage im Krankenflügel der Eliteschule gelegen und auch Thomas hatte an seinen kleinen Verletzungen zu knabbern gehabt. Seine Mitschüler hatten ihm dennoch eifrig gratuliert, denn bereits damals war der brutale und provokante Koreaner sehr unbeliebt gewesen. Gwang-jo hatte diese Niederlage auch nicht auf sich sitzen lassen wollen und Thomas eine Woche später mitten auf einem Gang brutal hinterrücks zusammengeschlagen, bis zwei Freunde zur Hilfe gekommen waren. Thomas und Gwang-jo waren zum Direktor bestellt worden und der Koreaner hatte sich herausgeredet und Thomas als fiesen Provokateur darzustellen versucht. Erst als einige andere Zeugen zu Gunsten von Thomas ausgesagt hatten, hatte sich das Blatt gewendet und Gwang-jo sollte der Schule verwiesen werden, doch dank der Einflussnahme und des Geldes seines Vaters konnte der Koreaner dies umgehen und hielt sich zukünftig zurück, obwohl er Thomas natürlich jederzeit deutlich spüren ließ, dass er ihn fortan abgrundtief hasste und sich irgendwann definitiv rächen wollte.

    „Eine gute sportliche Ertüchtigung hat noch nie jemandem geschadet.“, gab Thomas gelassen zurück, nachdem ihm all diese Gedanken durch den Kopf gegangen waren und er wieder voll im Hier und Jetzt angekommen war.

    Der Schotte sah mit Genugtuung an dem verdutzten Gesicht des Direktors, dass dieser sich eine persönlichere und direktere Antwort gewünscht hatte.

    „Nun, Sie haben hier die Gelegenheit einige sportliche Aktivitäten auszuüben. Im neueren Teil des Kellers befinden sich ein kleines Fitnessstudio und sogar ein Hallenbad, was ich Ihnen sehr ans Herz legen möchte. Ich selbst schwimme jeden Morgen dort. Sie sollten allerdings nicht den Nebenraum betreten, denn dort befinden sich einige Haifischbecken und andere Aquarien.“, erklärte Doktor Wohlfahrt freudig und ließ sich seine Verunsicherung nicht mehr anmerken.

    „Wenn das so ist, hoffe ich inständig, dass die Haifische hier bald auf dem Speiseplan stehen werden. Sie schmecken einfach vorzüglich, wenn man sie nur richtig zubereitet, vor allem Blauhaie.“, gab Thomas schnippisch zurück und sah, wie sich der Mund des Direktors empört öffnete und dann wieder schloss, während sein Gesicht einen roten Farbton annahm.

    „Sie interessieren sich für Haie? Das finde ich faszinierend. Kann man um die Küste herum eigentlich auch tauchen? Ich bin eine leidenschaftliche Taucherin seit meinem siebten Lebensjahr.“, plauderte Elaine Maria da Silva munter dazwischen.

    Der Direktor schien kurz zu zögern, als ob er nicht wisse, wem er zuerst antworten sollte und entschied sich letztlich für die spitzbübisch blickende Brasilianerin, die gedankenverloren mit einem silbernen Totenkopfring herumspielte auf den der Direktor kurz mit verschnupfter Empörung schaute.

    „Sie können theoretisch tatsächlich tauchen gehen, allerdings gibt es hier nicht viel unter Wasser zu sehen und außerdem soll ja ein Sturm auf uns zu kommen. Ich benutzte die Taucherausrüstung gelegentlich zur Säuberung der großen Aquarien. Wenn Sie wollen, können wir gerne gemeinsam die Aquarien besichtigen und ich erkläre Ihnen die Einzelheiten.“, schlug der Direktor überschwänglich vor und schenkte der Brasilianerin ein eindeutiges Lächeln.

    Thomas wurde ein wenig mulmig, als er diese Geste bemerkte und wurde noch entsetzter, als die junge Brasilianerin das Lächeln erwiderte. Nachdenklich wandte Thomas sich ab und pickte wieder in seinem Salat herum, der vorzüglich schmeckte. Erst jetzt bemerkte er, wie hungrig er eigentlich war und hatte die Vorspeise innerhalb weniger Minuten genüsslich verschlungen. Nebenbei hört er weiter dem nun intensiveren Gespräch zwischen der Brasilianerin und dem Direktor zu.

    „Ich muss sagen, dass ich Ihr Schloss sehr inspirierend finde. Das gibt mir einige neue Denkanstöße für weitere Horrorromane.“, stellte Elaine fest.

    „Nun, ich muss Sie da leider enttäuschen, aber in diesem Schloss spukt es nicht. Wir sind hier auf der Insel vollkommen isoliert und alles ist ganz harmlos.“, wog der Direktor ab.

    Thomas erhob sich und holte sich am Büffet seine persönlich zusammengestellte Hauptspeise, die ihm der Koch servierte. Es handelte sich um Schweinemedaillons in Champignonrahmsoße mit Bratkartoffeln und frischen Broccoli und das Ganze war zudem mit Frühlingszwiebeln garniert. Dazu nahm Thomas eine Flasche Almdudler, die der Direktor aus seinem Heimatland hatte importieren lassen. Auf dem Rückweg zu seinem angestammten Platz beobachtete er die anderen Anwesenden ein wenig.

    Jeanette war in ein Gespräch mit Hamit vertieft und legte diesem mehr als einmal bewusst die Hand auf die Schulter oder den Oberschenkel, was dieser eher missmutig und nervös zu Kenntnis nahm. Der Türke war immer schon sehr schüchtern gewesen und hatte niemals eine richtige Freundin, sondern bestenfalls ominöse Kurzbeziehungen gehabt, in denen aber wohl auch nicht viel gelaufen sein soll. Böse Zungen behaupteten, dass er homosexuell sei, doch Thomas wusste es besser, denn Hamit war einst in Francesca Gallina verliebt gewesen, hatte bei der streng religiösen Dame allerdings nie landen können. Thomas hatte ihn einst dabei erwischt, wie er einige Fotos von ihr in seinem Portemonnaie versteckt hielt. Hamit war peinlich berührt gewesen und Thomas hatte ihm schwören müssen darüber zu schweigen, was er auch getan hatte. Thomas bewunderte den Türken insgeheim für seine Widerstandsfähigkeit gegenüber Jeanette und dafür, dass er einen anderen Geschmack hatte als alle Anderen.

    Neben den beiden saß Fatmir ein wenig isoliert, der sich bereits das dritte Glas Wein ausschüttete, was Thomas mit einigem Unwillen sah. Neben ihm saß Marilou Gauthier, die das Szenario ebenso aufmerksam beobachtete wie Thomas. Sie wirkte ebenfalls sehr isoliert und schien düsteren Gedanken nachzuhängen. Die Blicke der beiden Beobachter kreuzten sich schließlich und Thomas schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, was sie aber nicht erwiderte. Sie starrte ihn viel mehr düster an und beobachtete ihn wie die Schlange, wenn sie eine hilflose Maus belauert. Thomas war geradezu erschreckt von der Bosheit dieses Blickes und wandte sich verstört ab. Er fragte sich nach dem Grund für diesen Hass in ihrem Blick. Sie schien sich sehr unwohl zu fühlen und nahm selbst ihren Mann nicht wahr, der auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches einige Male hoffnungsvoll zu ihr herüberblickte, da er vermutete, dass sie immer noch sauer auf ihn sei. Thomas vermutete, dass Marilou wohl nur ihrem Mann zu Liebe mitgekommen war und sich nach dessen Spruch noch gereizter fühlte.

    Neben Abdullah befand sich Malcolm McColluagh, der neidische Blicke in Richtung seiner einstigen Freundin Jeanette warf. Diese war sich seiner Aufmerksamkeit bewusst und genoss es sichtlich im Mittelpunkt zu stehen. Hin und wieder warf sie dem Schotten sogar einen überheblichen Blick zu, was diesen sichtbar zur hilflosen Weißglut brachte.

    Neben ihm saß Mamadou Kharissimi, der sich angeregt mit seinen ehemaligen Lehrern Björn Ansgar Lykström und Magdalena Osario unterhielt, die beide relativ eng beisammen saßen und hin und wieder verstohlenen Blicke untereinander austauschten, die nach Thomas Ansicht bereits Bände sprachen. Nache inigen Momenten stand der Schwede auf, um zum Buffet zu gehen und machte einen möglichst weiten Bogen um den österreichischen Direktor. Der Schlossherr kümmerte sich hingegen nicht darum und war viel mehr seinen anderen weiblichen Gästen zugeneigt, mit denen er belanglose Gespräche führen wollte.

    Etwas isoliert vom Rest der Anwesenden saß Gwang-jo Park, der lustlos in seinem Essen herumpickte und ebenso finster dreinblickte wie Marilou Gauthier.

    Thomas kehrte zu seinem angestammten Platz zurück, wo der Direktor sich gerade von der Brasilianerin gelöst hatte. Thomas warf ihr einen nachdenklichen Blick zu und diese schien seinen Gedanken erraten zu haben. Flüsternd beugte sie sich zu ihm.

    „Keine Angst, ich weiß genau, worauf der Direktor aus ist. Er hatte schon immer ein Faible für blutjunge Frauen, das ist kein Geheimnis. Ich hasse diesen Kerl wie die Pest und falls er es bei mir versuchen sollte, wird er sein blaues Wunder erleben.“

    Thomas nickte und fühle sich nach diesem Geständnis wieder ein wenig erleichterter als zuvor und erschrak, als er plötzlich eine Gestalt hinter sich stehen sah, die seine Hände auf seine und Elaines Schultern legte. Diese zuckte zusammen, weitete ihre Augen vor Schreck und fuhr hastig herum. Vor ihnen stand Björn Ansgar Lykström, der eine ernste Miene machte und sich rasch zu den beiden hinunterbeugte.

    „Verzeihen Sie mir, aber ich habe das Ende des Gesprächs mitbekommen. Ich gebe Ihnen nur einen Rat, Elaine. Lassen Sie sich auf kein Spiel mit dem Direktor ein. Sie würden es sehr bereuen.“, gab der Schwede unmissverständlich zu.

    „Was meinen Sie damit?“, fragte die völlig perplexe Brasilianerin.

    „Glauben Sie mir, er hat sich schon einmal an einem Mädchen vergriffen und man konnte es nie beweisen. Ich bin mir bewusst, dass Sie nun kein kleines Mädchen mehr sind. Aber fühlen Sie sich nicht stärker als sie wirklich sind. Fordern Sie ihn nicht heraus.“, stellte der Schwede klar und wollte sich bereits abwenden.

    „Wer war dieses Mädchen?“, hakte Thomas flüsternd nach und der Schwede zuckte energisch und wutentbrannt herum, beugte sich zu ihm herab und sah ihn mit einem dermaßen furchteinflößenden Blick an, dass Thomas unwillkürlich eine Gänsehaut bekam.

    „Das weiß außer den Beteiligten nur ich. Das sollte auch so bleiben. Vergessen Sie einfach, was ich Ihnen gesagt habe und passen Sie auf sich auf.“, murrte er gehetzt und wandte sich energisch von den beiden ab.

    Elaine sah Thomas schulterzuckend an und blickte zu dem Direktor, der gerade mit Fatmir ein Gespräch über seinen Weinkeller begonnen hatte. Thomas atmete tief durch und fragte sich, wer dieses damalige Opfer gewesen sein könnte. Er fragte sich zudem, ob die betreffende Person überhaupt anwesend war. Schaudernd versuchte er den Gedanken an eine solche Schandtat zu verdrängen, doch es gelang ihm nicht wirklich. Lustlos aß er sein eigentlich sehr delikates Essen und bereute wieder überhaupt gekommen zu sein. Das Treffen schien eher zu Spannungen und psychologischen Konflikten zu mutieren, anstatt der Entspannung oder Abwechslung zu dienen.

    Schließlich hatte Thomas sein Mahl beendet und verzichtete auf den Nachtisch, der wahlweise frisches Obst oder eine Blaubeertorte anbot. Nach einigen Minuten klatschte der Direktor in seine Hände und erhob sich feierlich am Kopfende des langen Tisches. Sein Teller und sein Besteck waren unangetastet geblieben. Alle Anwesenden starrten zu ihm.

    „Ich bin sehr erfreut, dass Ihnen der Aufenthalt hier größtenteils sehr zu gefallen scheint. Nun, ich denke, sie werden sich erst einmal auf ihrem Zimmer einrichten wollen. Der Damentrakt befindet sich im rechten Flügel des Schlosses, der Herrentrakt im linken Teil. Bitte bewegen Sie sich ruhig frei hier im Schloss und in der Umgebung. Die Sauna, die sportlichen Anlagen im Keller und die Bibliothek stehen Ihnen zur Verfügung. Bei Fragen wenden Sie sich an meine Frau oder Herr Lykström, ich selbst habe noch einige Dinge zu erledigen und werde mich vorläufig in mein Arbeitszimmer zurückziehen. Ein kurzer Hinweis noch zu Ihren Zimmern und Schlüsseln. Es handelt sich ausschließlich um Einzelzimmer und ich bitte Sie inständig darum die Regeln einzuhalten und allein auf Ihren Zimmern zu bleiben, damit Sie in richtigem Maße entspannen und zu sich selbst finden können. Ein klein wenig Isolation in dieser rauen natur kann manchmal Wunder wirken, auch in Bezug auf die Gesundheit. Wer will kann mich gegen fünf Uhr nachmittags bei der Fütterung der Haie begleiten. Ansonsten treffen wir uns zum Abendessen spätestens gegen sieben Uhr wieder.“, verkündete er und blickte sich beifallheischend um.

    Zögerlich begannen einige Gäste kurz zu applaudieren und sich zu bedanken und standen dann langsam auf. Die Stimmung hatte sich während des Essens doch noch ein wenig gebessert, auch wenn immer noch eine unsichtbare Tristesse über den Anwesenden zu schweben schien.

    Thomas hatte das ungute Gefühl, dass es bald zu neuen Konflikten kommen würde und schnappte sich missmutig seinen Zimmerschlüssel. Er war der erste, der den Speisesaal verließ.

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