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    Kapitel 18: Mittwoch, 22 Uhr 13, Speisesaal

     


     

    Langsam trat Thomas an die junge und wie paralysiert wirkende Französin heran und berührte sie leicht an ihrer Schulter. Als sie nicht reagierte, nahm sich Thomas einen Stuhl und gesellte sich an ihre rechte Seite. Sein Ärger gegenüber ihrem Verrat war mit einem Mal verflogen und sein eifersüchtiges Verhalten, das erst wenige Stunden zurück lag, ließ sich im Vergleich zu dem überraschenden Todesfall als nahezu lachhaft bezeichnen. Zudem hatte Thomas seine Zweifel, dass Jeanette sich wirklich auf Malcolm eingelassen und ihm das Trikot geschenkt hatte. Thomas vermutete eher, dass eine andere Person dahinter steckte, die vielleicht sogar einen falschen Verdacht aufkommen lassen wollte. Doch so sehr sich Thomas das Hirn zermarterte, er konnte sich auf die wahren Motive keinen Reim machen. Im Grunde hätte fast jeder der männlichen Gäste neidisch oder wütend sein können, da fast jeder ein Verhältnis mit der Französin gehabt hatte. Doch wer ging so weit, dass er einen Konkurrenten auf solch eine Art und Weise ausschaltete? Zudem dachte Thomas krampfhaft darüber nach, ob es nicht vielleicht auch ein anderes Motiv außer Neid oder Rachsucht geben könnte.

     

    Jetzt endlich erwachte die Französin aus ihrer Starre und lehnte ihren Kopf schluchzend an die Schulter ihres Sitznachbars. Sie ließ alle angestauten Emotionen frei und krallte sich mit ihren Händen am Hemdkragen des schottischen Polizisten fest. Dieser legte ihr mitfühlend einen Arm um die Schulter und ließ Jeanette gewähren. Er hauchte ihr einen beruhigenden und sanften Kuss auf die Stirn und merkte in einer Mischung aus Erstaunen und Resignation, dass das schreckliche Ereignis sie beide wieder enger zusammengeschweißt hatte. Er bekam eine Gänsehaut, als er daran denken musste, dass er möglicherweise von dem Tod eines Mitmenschen profitierte und löste sich rasch von der Französin, die ihn verwirrt und aus verweinten Augen ansah.

     

    Thomas wollte sie nicht gleich befragen, sondern abwarten, bis sie ansprechbar war und sich einigermaßen gefangen hatte. Er war dankbar dafür, dass die Französin ihm die Arbeit nach einigen Sekunden des drückenden Schweigens selbst abnahm.

     

    „Ich kann das alles noch gar nicht richtig fassen. Ich meine, ich konnte sein Verhalten nie leiden und habe mich sogar von ihm bedroht gefühlt, aber dass es so mit ihm enden musste, das ist einfach schrecklich.“, schluchzte sie und zog ein Stofftaschentuch aus ihrer Jeans, das in den Farben der französischen Flagge gestickt worden war.

     

    „Ich dachte, du hättest dich heute mit ihm vertragen?“, fragte Thomas ruhig und nachdenklich und bemerkte, dass die Französin erstaunt wirkte. Unecht lachte sie auf und schnäuzte sich verhalten, bevor sie entschlossen den Kopf schüttelte.

     

    „Aber nein. Du weißt doch selbst, wie er uns in der Sauna Angst gemacht hat! Wie kommst du denn auf eine solch abwegige Idee?“, fragte sie mürrisch.

     

    „Er hat es mir erzählt. Du hast ihm einen Brief geschickt und als Geschenk das schottische Nationaltrikot mitgegeben. Es muss wohl vor seiner Tür gelegen haben.“, stellte Thomas fest und ein heißer Schauer durchströmte ihn, als er an den Brief dachte. Er nahm sich vor dieses wichtige Schriftstück zu suchen. Wenn er dieses irgendwo finden könnte, würde es sicher Licht ins Dunkle bringen.

     

    „Nein, um Gottes Willen. Jetzt wird mir einiges klar. Jetzt verstehe ich, warum du so wütend gewirkt hast und warum er mich während des Konzertes und des Abendessens die ganze Zeit so verschwörerisch angezwinkert hat.“, ächzte die Französin tonlos und schaute Thomas mit großen Augen an. Energisch packte sie seinen Arm und schüttelte diesen.

     

    „Ehrlich gesagt bin ich erleichtert die Wahrheit zu erfahren. Er hatte mich nahezu verhöhnt und dein angeblicher Gesinnungswandel war natürlich wie ein Schlag ins Gesicht für mich gewesen.“, kommentierte Thomas ihre Aussage.

     

    „Erleichtert, sagst du? Erleichtert? Verdammt noch mal, Malcolm ist tot und du bist erleichtert? Womöglich wird man noch glauben, dass ich etwas mit seinem Tod zu tun habe. Oder auch du.“, rief sie panisch und starrte Thomas verzweifelt an.  

     

    Der junge Schotte überlegte, ob er der Französin die Wahrheit sagen sollte. Sollte er ihr darstellen, dass Malcolm keines natürlichen Todes gestorben war und sie somit weiter beunruhigen? Oder war es vielleicht besser, wenn er eben dies verneinte und sie anlog? Er wog eine Zeit lang ab und entschied sich zunächst schweren Herzens für einen einigermaßen vorsichtigen Mittelweg.

     

    „Wer sagt denn, dass er eines unnatürlichen Todes gestorben ist?“, fragte er unschuldig und sah Jeanette brüskiert auflachen.

     

    „Bist du wirklich so naiv, dass du nach all den Indizien noch glaubst, er habe wirklich einen Herzinfarkt oder Schlaganfall oder so etwas erlitten? Thomas, Malcolm ist noch nicht einmal 22 Jahre alt. Er war einer der jüngsten der gesamten Gruppe.“, argumentierte die Französin empört und gestikulierte wild mit ihren Armen.

     

    „Es gibt viele Menschen, die ganz unerwartet und jung an solchen Dingen gestorben sind. Du kennst sicher Bruce Lee, einen meiner Lieblingsschauspieler, der mit gerade einmal 32 Jahren an einem Gehirnödem gestorben ist.“, hielt Thomas dagegen, doch er wusste, dass sein Beispiel nicht gerade repräsentativ und passend war und die intelligente Französin kritisierte ihn dafür auch stark.

     

    „Das kannst du nicht vergleichen. Dein Bruce Lee hat sein ganzes Leben lang pausenlos gearbeitet und ist aus Erschöpfungsgründen so tragisch verstorben. Malcolm hat sich nie besonders viel engagiert, abgesehen von der Musik. Den Beruf als Orchesterdirigent hat er auch nur dank seines Vaters bekommen.“, entgegnete Jeanette.

     

    „Nehmen wir mal an, dass deine These stimmt. Wenn du und ich an seinem Tod unschuldig sind, wer steckt dann dahinter?“, wollte Thomas wissen.

     

    „Ich weiß es einfach nicht. Ich kann das alles nicht verstehen, das ist so grausam.“, bemerkte Jeanette und brach wieder in Tränen aus.

     

    Sie lehnte sich an Thomas und dieser strich ihr über ihr samtweiches Haar. Er atmete tief durch und begleitete Jeanette nach einigen Momenten vorsichtig aus dem Speisesaal. Sie brauchten jetzt beide ein wenig Ruhe. Mit Schrecken stellte der Schotte fest, dass die sonst so elegante Französin seltsam langsam und gebeugt ging und ihn eher an eine alte und müde Frau erinnerte. Die Vorfälle hatten sie komplett durcheinander gebracht und ihre Vision oder Illusion einer heilen Welt und eines schönen Ausfluges radikal zerstört.

     

    Thomas ließ sich die neuen Erkenntnisse durch den Kopf gehen. Frustriert schüttelte er seinen müden und schweren Schädel, als die beiden die Eingangshalle erreichten. Jeanette schmiegte sich ängstlich an ihn und blickte Thomas todtraurig an. Dieser fühlte sich verantwortlich und wollte ihr neuen Mut geben und sie von den Problemen ablenken.

     

    „Es tut mir furchtbar Leid, dass ich dich so zu Unrecht verdächtigt habe. Ich war ungerecht und leichtgläubig, ich hätte mir denken können, dass das Trikot nicht von dir stammte. Wie kann ich das bloß kompensieren? Willst du heute Nacht in meinem Zimmer übernachten?“, hakte Thomas vorsichtig und tatsächlich ohne perverse Hintergedanken nach, doch die Französin schüttelte langsam den Kopf und lehnte seine gefühlvoll vorgetragene Einladung ab.

     

    „Nein, Thomas. Ich weiß, dass du mir Schutz und Trost spenden willst, aber ich muss jetzt einfach allein sein und ein wenig nachdenken, zumindest für diese eine Nacht. Ich bleibe lieber auf meinem Zimmer ganz allein.“, antwortete sie niedergeschlagen.

     

    „Das akzeptiere ich vollkommen, ich kann dich gut verstehen. Ich werde das aber wieder gut machen und dir bald irgendeine kleine Überraschung zukommen lassen.“, versprach er mit einem sanften Lächeln und sah mit Freude, dass die Französin dieses vorsichtig erwiderte.

     

    „Übertreibe es nicht wieder. Ein paar Rosen oder Pralinen werden schon reichen.“, erwiderte sie sanft und spielte darauf an, dass Thomas ihr, als sie in ihrer Jugendzeit ein Paar waren, einen edlen Goldring geschenkt hatte, der ihn eine hohe dreistellige Summe gekostet hatte. Er hatte sich damals ein ebensolches Exemplar gekauft und war kurz davor gewesen sich mit der Französin zu verloben, doch einen Monat später war ihre Beziehung bereits auseinandergebrochen. Die Französin hatte das Geschenk auch erst nicht annehmen wollen und hatte sich mehrfach entschuldigt, dass Thomas sein Geld praktisch fehlinvestiert hatte. Dieser hatte damals in seinem Schmerz nichts mehr von ihr wissen wollen und seinen Teil des Ringes in irgendeinen schottischen Tümpel geworfen, während Jeanette den Ring noch einige Zeit getragen und auch aufbewahrt hatte.

     

    „Versprochen.“, erwiderte Thomas sanft und die beiden setzten ihren Weg durch die Eingangshalle nach kurzem Verharren fort.

     

    Der Sturm peitschte immer noch nervös gegen das Eingangsportal und rappelte an irgendwelchen Fensterläden. Ein Grollen drang von draußen ins Schloss und ließ die beiden einsamen Anwesenden erzittern.

     

    Am oberen Ende der Treppe angekommen, blickten sich die beiden an und Jeanette hauchte Thomas einen dankbaren Kuss auf die Lippen, bevor sie sich in Richtung ihres Zimmers abwandte. Thomas sah ihr lächelnd hinterher und wartete, bis die junge Französin ihre Zimmertür erreicht hatte, diese aufschloss und mit einem verhaltenen Winken in Richtung des schottischen Polizisten schließlich darin verschwand. Die Tür verriegelte sie gleich doppelt.

     

    Thomas hingegen wandte sich mit gemischten Gefühlen zur anderen Seite des Flurs hin und trat in den dunkleren Trakt dieser Etage. Kurz bevor er in sein eigenes Zimmer trat, fiel ihm ein, dass er noch das Zimmer des Toten untersuchen wollte. Er nahm den Zimmerschlüssel des Toten, den er am Tatort hatte mitgehen lassen, aus seiner Hosentasche und näherte sich vorsichtigen Schrittes dem Zimmer. Ein letztes Mal blickte er sich um, doch außer ihm befand sich niemand in der Nähe. Auf den düsteren Gängen herrschte eine drückende Stille, alles wirkte wie ausgestorben. Die Ruhe der Toten schien sich über das mysteriöse Horrorschloss gelegt zu haben.

               Thomas wollte gerade den erbeuteten Schlüssel verwenden, als er merkte, dass die Tür einen Spalt weit offen stand. Mit einem unguten Gefühl im Magen stieß er die Zimmertür auf und machte einen ersten Schritt. Er hoffte darauf, dass der Täter einen ersten Fehler gemacht hatte und wollte nicht warten, bis sie irgendwann die Kollegen verständigt hatten und diese mit den Untersuchungen beginnen konnten. Thomas wollte sofort eingreifen und den Anwesenden und sich selbst beweisen, dass er ein guter Polizist war, der nicht so weltfremd und leicht manipulierbar war, wie er in Bezug auf die Französin gewirkt hatte. Er wollte sich und allen Anderen beweisen, dass er willenstark sein konnte, wenn es wirklich darauf ankam, dass er einen kühlen Kopf bewahren konnte. Und nun kam es tatsächlich darauf an.

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    Kapitel 19: Mittwoch, 22 Uhr 40, Malcolms Zimmer


    Mit erhöhter Aufmerksamkeit trat Thomas in das dunkle Zimmer des Ermordeten und schloss die Tür behutsam hinter sich. Nervös bewegte sich seine Hand zum Lichtschalter. Zitternd betätigte er diesen und blickte mit schreckgeweiteten Augen in das Zimmer.

    Auf dem Boden lagen überall willkürlich verteilte Anziehsachen, die Schubladen waren aufgezogen worden und selbst die Bettdecke und das Kissen waren verrückt worden. Thomas war klar, dass Malcolm dies nicht gewesen sein konnte, da er trotz allen schlechten Angewohnheiten stets ein relativ ordentlicher Mensch gewesen war. Irgendjemand schien bereits vor ihm nach wichtigen Beweisen gesucht zu haben. Thomas schauderte, als er daran dachte, dass es möglicherweise der Mörder war, der vor wenigen Augenblicken noch letzte Indizien hatte beseitigen wollte. Vielleicht war auch der Täter auf der Suche nach dem gefälschten Brief gewesen.

    Thomas bekam eine Gänsehaut und fragte sich nervös, ob der Täter mit seiner Suche Erfolg gehabt hatte. Das Chaos bedeutete immerhin, dass er oder sie den Brief nicht sofort gefunden zu haben schien. Dennoch wollte Thomas nicht aufgeben und schlich langsam zu dem kleinen Nachtschränkchen neben dem Bett. In den meisten Fällen versteckten Menschen solch intime Dinge entweder dort oder in oder unter dem Kopfkissen. Ächzend ging Thomas in die Knie und zog die oberste Schublade auf, die bereits durchwühlt worden war. Auch bei der zweiten Schublade hatte er keinen Erfolg, doch die dritte war noch unangetastet. Dort lagen einige Taschentücher und ein Notenordner, sowie zwei Bücher des toten Schotten. Langsam nahm Thomas das Buch aus der Schublade und sah sofort, dass in der Mitte etwas lag. Mit wild pochendem Herzen schlug er die Seite mit zitternden Fingern auf und wurde enttäuscht. Es handelte sich nicht um den gesuchten Brief, sondern viel mehr um ein altes Lesezeichen und einen Notizzettel mit einigen Namen bekannter Musiker darauf.

    Enttäuscht wollte sich Thomas bereits abwenden, doch er besann sich dazu auch das zweite Buch anzuschauen, welches wesentlich dünner war. Mit gemischten Gefühlen zwischen nervöser Erwartung und aufkommender Resignation blätterte er die Seiten durch, als plötzlich ein weißes, zusammengefaltetes Papier aus dem Buch und auf den Boden fiel. Hektisch klappte Thomas das Buch zusammen und legte es auf das Bett und hob den Zettel auf. Nervös entfaltete er ihn und bemerkte zunächst, dass der Brief offensichtlich mit einem Füller geschrieben worden war. Thomas wusste, dass Jeanette sich sehr für Kaligraphie interessierte und bereits zu früheren Zeiten wegen ihres Füllers in der Schule aufgezogen worden war. Thomas hatte immer heimlich bei sich gedacht, dass der Füller zu einer eleganten und verführerischen Französin perfekt passte.

    Er schrak auf, als er registrierte, dass der Brief mit dem Namen der Französin unterschrieben worden war. Er hatte das gefunden, wonach sein schlampiger Vorgänger vergeblich gesucht zu haben schien. Thomas atmete tief durch und wollte die ersten Zeilen durchlesen. Er war vollkommen auf das brisante Schriftstück konzentriert und vergaß mit einem Mal seine Vorsicht und die eigentliche Umgebung.

    Er bemerkte nicht den Schatten, der sich ihm von hinten näherte und sah auch nicht den Reflex in dem Zahnputzglas, als sich das Licht in diesem spiegelte. Mit einer heftigen Bewegung traf die zweckentfremdete Waffe den Hinterkopf des Schotten, der noch erstaunt aufstöhnte, während der Brief aus seinen Händen glitt. Mühsam zwinkernd wollte Thomas sich zur Seite wenden, als ihn der zweite Schlag im Nacken traf. Noch während er gegen den Nachttisch prallte und anschließend mit diesem unter großem Krach zur Seite stürzte, wurde dem schottischen Polizist mit einem dritten Schlag gegen die Schläfe der Rest gegeben. Er sah noch eine dunkel gekleidete Gestalt vor ihm, deren umrisse rasch verschwammen und sich wie ein tödlicher Tornado drehten. Ein Gefühl der Übelkeit stieg in dem benebelten Schotten auf, bevor er entgültig ins Reich der Schatten und Träume geschickt wurde, wo ihn eine kalte und undurchdringliche Schwärze umgab.

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    Kapitel 20: Mittwoch, 22 Uhr 53, Malcolms Zimmer


    Das Nächste, was Thomas mitbekam, war wie ihm jemand an seiner Schulter rüttelte und zu ihm sprach. Wie durch einen Schleier hindurch sah er einen dunklen Schatten, der sich über ihn legte. Er wusste zunächst nicht mehr, wo er war und vor allem nicht, was überhaupt geschehen war. Sein Kopf schmerzte gewaltig, alles um ihn herum drehte sich in monotonen Spiralen und er hatte das Gefühl zu fallen. Ein plötzliches Übelkeitsgefühl stieg in ihm auf und er musste laut aufstöhnen. Immerhin hatte das seltsame Drehen aufgehört und die Kopfschmerzen waren geringer geworden. Stattdessen fühlte er eine gewisse Müdigkeit und erinnerte sich bruchstückhaft an die Dinge, die vor seiner Bewusstlosigkeit geschehen waren. Er sah sich auf dem Boden knien, mit einem Brief in der Hand, er sah wie sich eine Gestalt näherte und auf ihn einschlug. Er erinnerte sich an das Becherglas, das ihn an der Schläfe getroffen hatte und an den schwarzen Umhang, den die Person getragen hatte. Das Gesicht des Phantoms war in seiner Erinnerung nichts als eine formlose und unendliche Schwärze. Wer konnte diese Person bloß gewesen sein?

    Thomas konzentrierte sich auf die Person, die ihm nun die Wangen tätschelte und auf ihn einredete. Er brauchte einen Moment, bis er wieder genau wusste, wo er sich exakt befand und nach einiger Zeit des Überlegens fiel ihm sogar der Name der Person ein, die sich besorgt um ihn kümmerte. Mit schwacher und brüchiger Stimme hauchte er den Namen seines Gegenübers.

    „Mamadou Kharissimi?“

    Der Afrikaner lächelte erleichtert und hielt Thomas seine Hand hin. Vorsichtig und behutsam half er diesem beim Aufstehen, als das Schwindelgefühl des Schotten wieder einsetzte. Erschöpft ließ er sich auf das Bett fallen und schloss für eine Minute die Augen. Mamadou ließ ihn gewähren und Thomas hatte sich nach der dringlichst benötigten Ruhepause wieder ein wenig gefangen.

    Er öffnete die Augen und der Schleier war endgültig verschwunden. Er betastete missmutig seinen Kopf und fand dort zwei Beulen, eine relativ große am oberen Hinterkopf, die andere an der Schläfe, knapp oberhalb seines linken Auges. Die Blessuren schmerzten, doch er schien wohl noch unter einer Mischung aus Schock und Adrenalinschub zu stehen, sodass er die Schmerzen kaum merkte. Somit konnte der brutale Überfall auch nicht sehr lange zurückliegen. Thomas blickte bestätigend auf seine Armbanduhr und bemerkte, dass er gerade einmal zehn Minuten bewusstlos gewesen war.

    Mit großem Unbehagen dachte Thomas bereits an den nächsten Morgen und seine schmerzhaften Folgen.

    Langsam wandte der junge Schotte sich Mamadou zu, der nachdenklich neben ihm saß und ihn besorgt musterte. Thomas lächelte ihm zögerlich zu.

    „Was ist passiert?“, fragte der Schotte leise.

    „Ich schlafe im Nebenzimmer und habe einen großen Lärm gehört. Ich war gerade dabei einzuschlafen, bin hochgeschreckt und habe mich rasch angezogen. Als ich auf den Flur getreten bin, sah ich eine vermummte Gestalt, die auf die Treppen zulief und ich habe sie verfolgt.“, berichtete der eifrige Afrikaner.

    „Hast du dieses Phantom etwa erwischt?“, fragte Thomas, der mit einem Mal hellhörig geworden war und aus seiner Lethargie erwachte.

    „Leider nicht. Ich konnte die Person noch bis in das Kellergewölbe verfolgen. Dort habe ich sie dann verloren. Ich habe noch einige Minuten gesucht, aber es war erfolglos. Ich bin hierhin zurückgekehrt und habe dich auf dem Boden gefunden.“, erklärte Mamadou und schüttelte missmutig den Kopf.

    „Ich habe den getürkten Brief gefunden. Der Brief, der angeblich von Jeanette war. Malcolm hatte gesagt, dass er von Jeanette eine Art Brief bekommen habe, zusammen mit dem schottischen Nationaltrikot, beides als eine Art Versöhnungsgeschenk und Liebeserklärung. Ich habe mit Jeanette allerdings eben noch gesprochen und sie hat mir geschworen, dass die Sachen nicht von ihr stammen. Da ich mir dachte, dass der Brief ein wichtiges Beweisstück sein könnte, wollte ich das Zimmer des Toten untersuchten. Den Brief habe ich tatsächlich gefunden, bevor mich jemand niedergeschlagen hat.“, erklärte Thomas nun seinerseits.

    „Was stand darin?“, fragte Mamadou aufmerksam.

    „Ich konnte mir nicht alles durchlesen. Der Brief war mit Jeanettes Namen unterschrieben worden. Er war zudem mit einem Füller geschrieben und die Schrift sah ihrer sehr ähnlich. Ich könnte fast schwören, dass sie ihn selbst geschrieben hat.“, bemerkte Thomas nachdenklich.

    „Die Sache wird immer unheimlicher. Meinst du nicht, dass Jeanette den Brief tatsächlich selbst geschrieben haben könnte und dich eben niedergeschlagen hat?“, fragte Mamadou.

    „Unmöglich. Ich habe gesehen, wie sie auf ihr Zimmer gegangen ist. Sie war völlig fertig und aufgelöst und hätte es in den wenigen Minuten nicht geschafft sich unbemerkt in dieses Zimmer zu schleichen, eine Waffe zu besorgen und mich so brutal niederzuschlagen. Irgendjemand will ihr etwas in die Schuhe schieben und das Leben schwer machen.“, vermutete Thomas und ballte seine Hände entrüstet zu Fäusten zusammen.

    „Es hätte mich auch gewundert, wenn sie sich mit Malcolm vertragen hätte. Der Täter scheint aber ein sehr aufmerksamer Beobachter zu sein. Er wusste von den Streitereien, er kennt sich perfekt im Schloss aus und er verfügt über die nötige Kaltblütigkeit.“, resümierte Mamadou.

    Thomas nickte stumm. Ihm waren ähnliche Dinge aufgefallen, doch er fragte sich nach dem Motiv. Für ihn lag noch einiges im Unklaren.

     „Die Person hat drei Mal zugeschlagen. Echte Profis hätten mich mit dem ersten Schlag ausgeschaltet und vermutlich auch für längere Zeit. Der Täter ist zwar stark, aber nicht sonderlich erfahren. Oder vielleicht auch erfahren, aber nicht sonderlich stark, um mich mit dem ersten Schlag niederzustrecken“, mutmaßte Thomas vorsichtig.

    „Das könnte unser Vorteil sein. Allerdings hält sich die Person oft im Hintergrund und ist somit vorerst unangreifbar. Die Frage ist, ob es sich bei Malcolm schon um das letzte Opfer gehandelt haben könnte.“, dachte Mamadou nun seinerseits laut nach.

    „Du denkst, dass wir es mit einem Serienkiller zu tun haben könnten?“, fragte Thomas ein wenig ungläubig nach, obwohl ihm der Gedanke auch schon gekommen war.

    „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Es könnte auch sein, dass irgendjemand aus Neid oder Liebeswahn alle Männer, die Jeanette nahe stehen, um die Ecke bringen möchte.“, gab der Afrikaner zu bedenken.

    „Dann wäre gerade ich primär in Gefahr.“, stellte Thomas nüchtern fest und versuchte das drückende Gefühl in seinem Magen zu ignorieren.

    „Vielleicht auch Hamit. Er springt zwar auf Jeanette nicht an, aber sie hat sich an ihm ja sehr interessiert gezeigt.“, stellte Mamadou weiterhin fest.

    „Wenn ich aber näher überlege, dann kann diese Theorie doch nicht stimmen.“, warf Thomas nach einer Weile kopfschüttelnd ein.

    „Wieso nicht?“, fragte Mamadou ein wenig erstaunt.

    „Der Täter hätte mich eben einfach töten können. Spätestens als ich bewusstlos war oder auch schon vorher. Er hätte statt dem Zahnputzbecher ein Messer nehmen können oder irgendetwas anderes. Somit hat man es wohl nicht auf alle Liebhaber von Jeanette abgesehen“, argumentierte Thomas.

    „Da muss ich dir wiederum widersprechen. Der Tod von Malcolm war perfekt bis ins kleinste Detail vorbereitet. Du bist unerwartet dazwischengeplatzt. Der Täter ist hier überrascht worden und hatte möglicherweise gar keine Waffe dabei. Außerdem hat er durch den Lärm Angst gehabt, dass er entdeckt werden könnte. Ich war ihm ja auch tatsächlich auf den Versen. Er stand unter Zeitdruck und wollte entkommen.“, vermutete Mamadou.

    „Dann habe ich deinem Erscheinen praktisch mein Leben zu verdanken.“, stellte Thomas schaudernd fest und sah betreten zu Boden.

    „Das kann sein. Das ganze Raten hilft uns aber überhaupt nicht weiter. Wir sollten diese Nacht unsere Türen vorsorglich abschließen und am nächsten Morgen müssen wir die Wahrheit verkünden. Es ist einfach inzwischen zu viel geschehen. Wir werden die Polizei über das Funkgerät der Yacht verständigen und Befragungen anstellen.“, gab sich Mamadou entschlossen und energisch.

    „Die Befragungen werden allerdings kaum helfen. Die Anwesenden werden sich gegenseitig zerfleischen. Das Alibi wird auch immer dasselbe sein. Alle waren brav und allein auf ihren Zimmern.“, stellte Thomas mit einem weitaus pessimistischeren Tonfall fest.

    „Das Problem ist, dass solche Aussagen absolut kein vernünftiges Alibi darstellen. Jede Person hätte sich eben aus ihrem Zimmer schleichen können. Wir sollten aber darauf hoffen, dass der Täter oder die Täterin bei dem Verhör nervös wird und irgendeinen Fehler macht oder sich einfach verplappert.“, wandte Mamadou mit einer positiveren Nuance ein.

              Plötzlich torkelte eine dunkle Gestalt durch die leicht offenstehende Zimmertür und starrte die beiden Anwesenden mit großem Erstaunen an. Es handelte sich um Fatmir, der sichtbar betrunken war und sich lallend umwandte. Thomas erinnerte sich daran, dass er vorher noch als Letzter im Speisesaal gewesen war.

    „Das... ist ... ja ... gar nicht... mein Zimmer, w-w-wo bin ich.... denn gelala....nach links... da...da...wird mein Zimmer sein...ja...“, brabbelte der bemitleidenswerte Albaner und verschwand wieder auf dem Flur.

    „Ihn können wir als Täter wohl auch ausschließen.“, kommentierte Mamadou trocken das Erscheinen des Alkoholsüchtigen.

    Thomas und er erhoben sich und blickten sich noch einmal in dem chaotischen Zimmer um. Der junge Schotte machte sich keine falschen Hoffnungen, denn sowohl der Brief, als auch das Glas, mit dem er attackiert worden war, befanden sich nicht mehr in dem Zimmer.

    Schließlich traten Thomas und Mamadou auf den Flur, der jetzt verlassen vor ihnen lag. Von draußen drang immer noch der Lärm des heftigen Unwetters in das düstere Schloss.

    „Ich schlage vor, dass wir uns morgen um neun Uhr in der Eingangshalle treffen. Wir werden zuerst durch den Keller gehen und nach Spuren suchen. Danach werden wir mit dem Direktor auf das Schiff gehen.“, schlug Mamadou vor.

    Thomas stimmte mit einem müden Nicken zu und die beiden verabschiedeten sich. Thomas ging zu seinem Zimmer, schloss die Tür gleich doppelt ab und wühlte in seiner Sporttasche nach einem Aspirin, da die Kopfschmerzen immer drückender wurde. Das Blut pochte gegen seine Schläfen und sein Kopf schien zerspringen zu wollen. Aus seiner Willensstärke und Entschlossenheit war eine resignierte Niedergeschlagenheit geworden. Innerhalb weniger Momente hatte sich das Blatt gewendet und Thomas hatte sich selbst enttäuscht und amateurhaft überrumpeln lassen. Was wohl sein Kollege Mamadou von ihm denken musste?

    Erschöpft legte er sich auf sein Bett und schloss die Augen. Der Schmerz ließ langsam nach und noch bevor er sich überhaupt umgezogen hatte, war Thomas bereits mitten auf dem Bett in einen unruhigen Schlaf gesunken.

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  • Kapitel 21: Donnerstag, 8 Uhr 55, Kellergewölbe

     


    Thomas hatte eine unangenehme Nacht verbracht und war mehrere Male unsanft aufgewacht. Entweder hatten ihn die Kopfschmerzen aus seinen wirren Träumen gerissen oder der gewaltige Sturm, der selbst am Morgen kaum abgeflaut war, hatte ihn geweckt. Mal war es ein lautes Grollen gewesen, mal eine aus der Verankerung gerissenen Fensterlade, mal der pfeifende Wind, der unter dem Portal der Eingangshalle durchpfiff und dessen Lärm im ganzen vorderen Schlossbereich zu hören war.


    Der Wecker hatte seine letzte Hoffnung auf ein wenig Erholung zerstört und ihn erbarmungslos aus dem Schlaf gerissen. Mühsam hatte Thomas sich hochgequält und kam nun im Halbschlaf die Treppe in die Eingangshalle herunter. Außer Mamadou, der ihn bereits erwartete und sich nach seinem Gesundheitszustand erkundigte, befand sich niemand in der Eingangshalle, zumal es auch erst eine Stunde später das erste Frühstück gab.


    „Wie war deine Nacht?“, fragte Mamadou besorgt.


    „Beschissen. Lass uns anfangen.“, gab Thomas ungehalten zurück.


    Er wandte sich der dunklen und schmalen Treppe zu, die in die Kellergewölbe führte. Der schottische Polizist betätigte einen Schalter, sodass der Gang in ein unnatürlich grelles Neonlicht getaucht wurde. Langsam ging Thomas die Treppe hinab, die nach einiger Zeit einen scharfen Knick machte und noch tiefer führte. Bald erreichte er einen schmalen und niedrigen Gang, der sehr feucht und muffig war. Von irgendwo hörte man das Plätschern des Wassers. Die Beleuchtung war an einigen Stellen kaputt. So prächtig der Rest des Schlosses auch hergerichtet war, die Kellergewölbe wirkten sehr ungepflegt.


    Nach wenigen Minuten kamen die beiden Ermittler an eine Art Kreuzung. Der linke Gang führte zu einer verschlossenen Tür, in deren nähe es nach Chlor roch. Der rechte Gang führte zu der Vorratskammer und dem Weinkeller, während ein anderer Gang weiter geradeaus in die bedrückende Düsternis führte.


    Mamadou wies stumm in die Richtung der Vorratskammer und des Weinkellers. Thomas verfolgte den dunklen Gang weiter und beobachtete aufmerksam seine Umgebung. Als er einen runden, torbogenartigen Durchgang erreichte, der in die Vorratskammer führte, stockte er. Über dem Tor hing ganz offensichtlich eine kleine, fast kaum erkennbare Kamera. Der junge Schotte wies den erstaunten Afrikaner darauf hin, der die Vorrichtung aufmerksam untersuchte. Nachdenklich wandte er sich ab und blickte Thomas an.


    „Das könnte des Rätsels Lösung sein. Die Kamera ist offensichtlich unbeschädigt. Ich schätze, dass der Schlossherr diesen Bereich aus irgendeinem Grund überwachen lässt und sicher auch Aufzeichnungen von gestern Abend hat. Damit könnten wir mit viel Glück den Täter identifizieren.“, stellte Mamadou mit überhitztem Optimismus fest.

     
    Thomas trat nachdenklich in die Vorratskammer. Er konnte sich auf die erstaunliche Entdeckung keinen Reim machen. Aus welchem Grund sollte der Schlossherr ausgerechnet eine Vorratskammer per Kamera überwachen lassen? Hatte er Angst davor, dass jemand heimlich Tiefkühlpizzas oder Kartoffelsäcke stehlen würde?

     
    Der junge Schotte blickte sich aufmerksam um. Er sah mehrere parallel laufende Regale und einige Tiefkühlschränke. In einer anderen Ecke standen volle Getränkekisten, im hinteren Bereich des großen Raumes sah er dann die leeren Kästen. Nachdenklich ging Thomas durch den Raum und zwischen den Regalen hin und her, als er mit einem Mal ein größeres Fass entdeckte, dass im unteren Bereich eines Regals stand. Er überlegte kurz und rief dann Mamadou zu sich, der eine Hintertür gefunden hatte, die sich von innen öffnen ließ und sich unweit des Dickichts und der Vogelhäuser befand. Der Sturm peitschte ihm ins Gesicht und durchnässte ihn in Sekundenschnelle. Fluchend hatte er die Umgebung auf Spuren hin untersucht, doch er war nicht fündig geworden. Mürrisch folgte er nun dem Befehl seines Kollegen und traf diesen zwischen den Regalen wieder.

     
    „Du hast mich gerufen?“, fragte er neugierig.

     
    „Schau dir mal genau das Fass da unten an.“, riet Thomas ihm.

     
    Mamadou duckte sich und untersuchte das große Fass. Mit seinen Fingern glitt er vorsichtig darüber und wunderte sich.

     
    „Da ist kaum Staub dran. Die anderen Gegenstände hier sind völlig zugestaubt, abgesehen von einigen Gefrierschränken.“, stellte Mamadou erregt fest und hievte das schwere Fass aus dem Regal. Nachdenklich drehte er es von einer Seite auf die andere.

     
    „Nicht nur das. Es handelt sich offenkundig um ein Weinfass, es steht sogar „Bordeaux“ darauf. Warum ist das Ding hier, wenn es extra einen Weinkeller dafür gibt?“, fragte Thomas laut und sah, dass sein Begleiter anerkennend nickte.

     
    Mamadou fand in der Nähe des Regals einen spitzen Hammer und bearbeitete mit diesem das große Holzfass. Thomas unterstützte ihn, indem er das Fass ein wenig schräg hielt und nach einigen Schlägen hatte Mamadou bereits den Fassboden durchbrochen. Eifrig machte er weiter und hatte bald ein mehr als faustgroßes Loch in den Fassboden geschlagen. Splitternd flog das Holz durch die Luft. Mamadou bemerkte sofort, dass sich keinerlei Flüssigkeit in dem Fass befand und griff mühsam mit seinem Arm in das Holzgefäß hinein. Thomas hielt dieses ein wenig schräg und bald darauf hatte der Afrikaner eine Art Beutel ergriffen, den er aus dem Fass zog. Beide erstarrten, als Mamadou seinen Fund gegen das diffuse Licht der Neonröhren hielt. Der Beutel war ein prall gefülltes Päckchen mit einem weißen Stoff darin. Mamadou nickte grimmig.

     
    „Das ist mit Sicherheit Kokain. Zudem gibt es noch andere Päckchen in diesem Fass. Irgendwer leistet sich hier im Schloss kriminelle und lukrative Geschäfte.“, stellte der Afrikaner fest.

     
    „Du glaubst, dass der Direktor ein Drogendealer ist?“, fragte Thomas ungläubig.

     
    „Nicht unbedingt er. Vielleicht ist es sein Koch, der hat auch immer Zugang hierhin. Möglicherweise aber auch der Butler oder Magdalena Osario, wer kann das schon wissen.“, mutmaßte Mamadou.

     
    „Was machen wir jetzt damit?“, fragte Thomas ratlos.

     
    „Ein Päckchen werde ich mitgehen lassen, als Beweis sozusagen. Das Fass können wir nicht mehr reparieren, wir sollten es am besten von hier wegschaffen.“, schlug Mamadou entschlossen vor.

     
    „Wohin denn?“, fragte Thomas verdutzt.

     
    „Das ist die große Frage. Am besten verstecken wir das Zeug in dem Dickicht, da wird es kaum jemand finden. Später wird einer von uns das Zeug holen, nachdem wir die Polizei verständigt haben.“, führte Mamadou seine Idee weiter aus.

     
    „Das hört sich riskant an.“, gab Thomas zu bedenken.

     
    „Das ist es auch. Aber hast du einen besseren Vorschlag?“, fragte Mamadou provozierend.

     
    „Nein, das nicht. Glaubst du, dass die Morde etwas mit den Drogen zu tun haben? Vielleicht hatte Malcolm diese zufällig entdeckt oder davon gehört. Der Täter hat Malcolm auf den Kameraaufnahmen gesehen und dafür gesorgt, dass er schweigt.“, mutmaßte Thomas.

     
    „Unwahrscheinlich. Das Fass hat niemand vorher angerührt oder aufgebrochen. Wie hätte Malcolm wissen sollen, was sich darin befindet? Er könnte höchstens irgendwie davon gehört haben, aber auch das ist nicht sicher. Hilf mir lieber das Fass nach draußen zu schleppen.“, forderte Mamadou ihn auf.


    Gemeinsam packten sie das Fass an und hievten es hoch. Sie bewegten sich damit langsam in Richtung der Hintertür. Zum Glück für sie war das Fass im Grunde fast leer und dadurch nur geringfügig schwer. Bald hatten sie die Tür erreicht, die Mamadou mit einem Sack Kartoffeln blockierte, sodass sie nicht hinter ihnen zufiel. Mühsam quälten sie sich durch den Sturm und waren in Sekundenschnelle wieder durchnässt. Sie steuerten an den Vogelhäusern vorbei und auf das Dickicht zu.

     
    Thomas musste unwillkürlich an den unheimlichen Wolf denken, der sich irgendwo in dem Wald befinden musste. Aus dem Grund für dessen Anwesenheit wurde er auch noch nicht schlau.

     
    Dieses Mal betraten sie einen anderen Pfad als am vergangenen Tag, der allerdings ebenso unzugänglich war. Mühsam kämpften sie sich an umgestürzten Bäumen vorbei und Dornenranken schlugen ihnen gegen die Beine. Einmal rutschte Mamadou auf dem glitschigen Laub aus und stürzte gegen einen Baumstumpf. Er ruderte wild mit den Armen und fiel unangenehm nach hinten und auch Thomas hatte vor Schreck das Fass fallen lassen. Mit einem dumpfen Krachen zerbarst der Seitenteil des Gefäßes, nachdem es auf einen spitzen Stein gefallen war, der aus dem Untergrund ragte. Mamadou rappelte sich mühsam auf, nachdem er die helfende Hand seines Kollegen ergriffen hatte.

     
    „Ich schlage vor, dass wir das Fass ins Dickicht werfen und stattdessen die Beutel mit dem Kokain einzeln verstecken.“, schlug Thomas vor und Mamadou stimmte nach kurzem Überlegen zu.

     
    Gemeinsam nahmen sie alle Beutel aus dem halb zerstörten Fass, das sie gemeinsam irgendwo ins Dickicht schleuderten. Es handelte sich insgesamt um acht Päckchen. Mamadou schüttelte grimmig den Kopf.

     
    „Das sind fast zwei Kilogramm, schätze ich mal. Diese Menge ist nahezu ein Vermögen wert“, rief er Thomas zu.

     
    Beide bewegten sich auch weiterhin durch das nasse und schwer zugängliche Dickicht, bis sie eine Stelle erreichten, an der es kaum einen weiteren Durchgang mehr gab. Die Sicht zum Schloss war längst durch die ganzen Sträucher versperrt worden und sie hatten fast das Gefühl mitten in irgendeinem abstrakten Urwald zu stehen. Rings umher wuchsen mehrere Dornenbüsche und zudem sahen sie viele zerstörte und zerborstene Baumstämme, die windschief in den Himmel ragten. Hinter der undurchdringlichen Stelle schien sich zudem eine kleine Lichtung zu befinden. Thomas vermutete, als er an einigen weggeknickten Baumstümpfen Ruß sah, dass hier in der stürmischen Nacht ein Blitz eingeschlagen war.

     
    Mamadou machte sich bereits daran, die Umgebung nach einer passenden Stelle für ein Versteck zu untersuchen und wurde rasch fündig. Unweit von ihnen befand sich ein halb umgestürzter Baum, dessen Wurzeln ebenfalls aus dem Boden ragten und den Blick auf den zum Teil ausgehöhlten Stamm freigaben. Einige Käfer und eine Spinne huschten verschreckt aus dem Unterschlupf hervor, als Mamadou seine Hand dem Versteck näherte. Erschrocken zuckte er zurück und warf einen misstrauischen blick auf den Baumstamm. Schließlich legte er zitternd das erste Päckchen Kokain in den halb ausgehöhlten Stamm hinein und verstaute auch die anderen Pakete. Thomas tat es ihm gleich und Mamadou hievte einen größeren Stein aus dem Dickicht hervor, den er mit Hilfe des jungen Schotten vor den Baumstumpf legte. Die Tarnung schien vorerst perfekt zu sein. Zufrieden nickend wandten sich die beiden ab und kehrten zurück in Richtung des Schlosses. Dort zogen sie es mit Blick auf die Uhr eher vor nicht durch den Keller zurückzugehen, da sich möglicherweise schon andere Gäste im Eingangsbereich befanden und sie niemandem offenbaren wollten, wo sie herkamen und was sie möglicherweise entdeckt hatten.

     
    Somit entfernte Thomas den Kartoffelsack, schlug die Hintertür zu und hetzte mit seinem afrikanischen Partner zur Vorderseite des düsteren Schlosses. Durchnässt bis auf die Knochen traten sie dort ein und fanden bereits einen verwunderten Schlossherrn dort vor.

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  • Kapitel 22: Donnerstag, 9 Uhr 19, Yacht

    Doktor Wohlfahrt machte einen ungesunden Eindruck. Sein Gesicht war relativ bleich und unter seinen Augen zeichneten sich schwarze Ringe ab. Seine Wangen wirkten noch eingefallener als sonst und nicht einmal sein gekünsteltes Lächeln wollte auf dem Gesicht erscheinen. Er schien erstaunlicherweise nicht einmal mehr die Kraft zu haben, um zu fragen, wo Mamadou und Thomas gewesen waren. Stumm wies er nach draußen und trat ohne ein einziges Wort der Begrüßung an den beiden erstaunten Ankömmlingen vorbei. Die beiden sahen sich tiefgründig an und Thomas zuckte mit den Schultern. Schließlich folgten sie dem energisch voranschreitenden Schlossherrn, der noch seinen Morgenmantel anhatte und sich lediglich ein Paar ausrangierter Gummistiefel angezogen hatte.


    Nach wenigen Minuten hatten sie die Yacht erreicht und dieses Mal sprang Mamadou über die Reling und fuhr den schmalen Steg aus. Der Schlossherr marschierte eiligen Schrittes darüber und steuerte stumm den nächsten Aufgang an. Behände nahm er die Treppenstufen und ging auf die offen stehende Tür zu, hinter der sich die kleine Kabine mit dem Steuerrad und dem Funkgerät befand. Entschlossen stürmte der österreichische Direktor in die enge Kabine und riss das Funkgerät aus seiner Verankerung. Er wollte bereits zum Funkspruch ansetzen, als er stockte und das Gerät eingehender betrachtete.


    Thomas und Mamadou standen ebenfalls in der Tür und sahen wie der Direktor das Funkgerät fluchend zur Seite schleuderte. Die hinteren Kabel waren fast allesamt durchgetrennt worden, das Gerät nutzlos. Betreten tauschten Mamadou und Thomas ihre Blicke aus, während der Direktor sich auf dem einzigen Stuhl des kleinen Raumes niederließ. Er verschränkte seine hageren Arme auf dem Armaturenbrett und vergrub sein Gesicht zwischen ihnen. Die Emotionen der letzten Stunden fanden nun ihren Weg und brachen aus ihm hervor. Aus dem arroganten, distanziert wirkenden Menschen war mit einem Mal eine unsichere, verzweifelte Person geworden.


    Thomas wusste nicht, wie er auf den Gefühlsausbruch des Direktors überhaupt reagieren sollte. Nervös und unentschlossen blieb er ihm Türrahmen stehen, während sich Mamadou vorwagte und die Schulter des Direktors ergriff. Dieser schlug barsch um sich, fluchte wieder und sank schluchzend in sich zusammen. Mamadou wandte sich resigniert ab und kaute nervös an seinen Fingernägeln, während Thomas ins Leere starrte.


    Nach einigen Augenblicken hatte der Direktor seine Krise überwunden, drehte sich zu den beiden um und fühlte sich peinlich berührt. Es war eine Schande für ihn, dass er seine Emotionen so offen gezeigt hatte. Mit bebenden Lippen stand er auf, wies mit dem Zeigefinger zuerst auf Thomas, dann auf Mamadou und schüttelte fluchend den Kopf. Grob drängte er sich an den beiden vorbei und trat nach draußen in den Sturm.


    „Was wollen Sie jetzt machen?“, rief Mamadou ihm fragend hinterher.


    Zunächst schien der mürrische Direktor nicht antworten zu wollen, doch kurz vor der Treppe hielt er in seinem energischen Schritt inne und wandte sich grimmig um.


    „Niemand wird es wagen dieses Spiel mit mir fortzuführen. Wer immer mich in die Irre führen will, mich legt er nicht mehr herein. Wir werden heute Nachmittag mit der Yacht diese Insel verlassen. Mir ist egal, wie stark dabei der Sturm sein wird.“, antwortete er und wandte sich wieder um.


    Thomas und Mamadou sahen sich besorgt an und Thomas untersuchte die kleine Kabine nach irgendwelchen Spuren. Sie betrachteten den Boden, sahen im Mülleimer nach, doch es gab nichts Nennenswertes zu entdecken. Enttäuscht verließen sie die Kabine, schlugen die quietschende Tür hinter sich zu und kämpften sich durch den erbarmungslosen Sturm zurück in die Eingangshalle des Schlosses.

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