• Endzeit: Straßburg 2022

    Dear readers of my blog,

    I was checking some files from the recently recovered backup of my old laptop and found this dystopian science-fiction story I wrote about six years ago in Chicoutimi. It includes the entire first part of forty-three pages from this unfinished novel. I read all of it again and only corrected a few typos here and there. I still like this story and wanted to share it with you. Who knows, maybe I could even finish this German novel one day. I hope you enjoy this one.

     

    Endzeit: Straßburg 2022

     

    TEIL 1:  Die Mission

     

    Berlin, Tagungssaal und Forschungszentrum des Neuen Deutschen Rates

     

    Fast ein wenig andächtig trat Marvin Brinkmann durch die offenstehende und sonst meterdicke, metallische Schleuse in einen der großen Kongresssäle des Hauptbunkers. Erstaunt nahm er die klare und frische Luft war, sah die helle Einrichtung, die großen, halbkreisförmigen Ränge, die den gewaltigen Raum einnahmen, der mit Flaggen, Bildern oder Statuen verziert war. Alle Sitze des gewaltigen Raumes konzentrierten sich auf einen Rednerpult vor einer großen Leinwand, hinter der sich einige enge und streng bewachte Gänge befanden. Aus Erzählungen wusste Marvin davon, dass der oberste Vorsitzende des Rates dort seinen Privatbunker haben musste, den er sich mit seiner Frau und seinen vier Kindern teilte. Diese Familie lebte sehr abgeschieden. Die Kinder nahmen nicht an den Unterrichtsstunden in den Westbunkern teil und nutzten nicht einmal die Möglichkeit sich in den kleineren Fitnessstudios körperlich zu ertüchtigen. Hin und wieder traf man eines der Familienmitglieder unter strengster Bewachung in der Bibliothek oder dem Archiv wieder, wo sie auch Zugänge zu den Bereichen hatten, die der Normalbürger gar nicht einsehen durfte. Man hörte eigentlich nur Gerüchte über die Familie des obersten Vorsitzenden. Die Kinder sollten besonders intelligent sein, speziell gefördert werden. Der Vorsitzende selbst sollte ein unglaublich gütiger, gerechter und diplomatisch ideal versierter Mensch sein.

    Jetzt sollte Marvin ihn persönlich treffen. Eine Sitzung höchster Geheimstufe war einberufen worden und er wusste nicht einmal genau, was man von ihm wollte. Ihm war nur aufgefallen, dass er in den letzten Wochen von den sogenannten Männern in Schwarz, den engsten Regierungsmitarbeitern, bestehend aus ehemaligen Mitgliedern des Bundeskriminalamtes oder des Bundestages, häufig observiert worden war. Die Männer hatten nie zu ihm gesprochen, ihm nie etwas erklärt, sondern waren ihm einfach nur auf Schritt und Tritt gefolgt. Sie beobachteten ihn in der Bibliothek, im Fitnessstudio, sogar beim Essen im großen Gemeinschaftsbunker. Viele Menschen fürchteten sich vor diesen düsteren Gestalten, die seltsam künstlich und mechanisch wirkten und auch Marvin hatte jetzt ein ungutes Gefühl, als drei von ihnen ihn langsam, aber zielstrebig durch die Schleuse drückten, nachdem sie ihn zuvor komplett desinfiziert und untersucht hatten. Marvin fühlte sich seltsam schmutzig und unwohl in seiner Haut und ihm fröstelte es bei den quälenden Gedanken daran, was nun mit ihm passieren würde.

    Fast zitternd ging er vorwärts und fühlte sich dabei wie ein Gefangener. In der Weite des riesigen Saales fühlte er sich seltsam verloren. Die tadellose Sauberkeit des Raumes stand im Gegensatz zu den dunklen und zum Teil recht dreckigen Bunkern, in denen er und seine Eltern lebten. Sie waren strengen Vorkehrungen unterworfen worden. Durch den Zusammenbruch der elektrischen Netzwerke im ganzen Land musste man mit dem Strom des Notstromaggregators sparsam umgehen. Da das Wasser außerhalb des Bunkers weitestgehend verseucht war, durfte man die Wassertanks in den Bunkern nur begrenzt nutzen, jede Person durfte einmal pro Woche baden und bekam ansonsten pro Woche eine größere Schüssel Wasser zum Waschen, sowie pro Tag eine Flasche Trinkwasser und eine Flasche Bier, beziehungsweise Milch für die Kleinkinder. Überhaupt war vieles rationiert worden. Die Anziehsachen hatte man schon früher abgeben müssen und sie waren später kollektiv verteilt worden, sodass jede Person im Bunker gleich viele Kleidungsstücke bekam. So wollte man Missgunst und Neid verhindern und das Gemeinschaftsgefühl stärken. So war dieses Verfahren auch auf andere Gegenstände übertragen worden.

    Marvin hatte es damals sehr verletzt, als man ihm seine Armbanduhr abgenommen hatte, ein Geschenk seiner Mutter, die er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte und die vermutlich schon längst tot war. Irgendwo in den Vereinigten Staaten von Amerika musste das große Unglück über sie hereingebrochen sein. Sein letztes und intimstes Erinnerungsstück gehörte nun irgendeinem Regierungsmitglied und alle Proteste hatten nichts genützt. Marvins Vater war noch viel entrüsteter gewesen, hatte die Regierungsbeauftragten grob beschimpft, sie dann angefleht, sie mögen doch seine eigene Armbanduhr nehmen. Sie hatten seine Bitte ignoriert und ihn stattdessen eine Woche in eine Arrestzelle gesteckt, wegen unsolidarischem Verhalten. Solche Vorgänge hatten den Zwiespalt zwischen der Regierung und ihren Beauftragten und dem Rest der Bunkerbevölkerung noch einmal drastisch vergrößert. Einem guten Freund von Marvin hatte man gar seine beiden Kaninchen abgenommen, um sie zu schlachten und für die Festessen zu Weihnachten zu verarbeiten. Man hatte ihm das Ganze so dargestellt, dass durch sein persönliches Opfer ein Vorteil für die gesamte Gemeinschaft entstehen würde, doch eine Wahl hatte er kaum gehabt. Die provisorische Regierung hatte hart durchgreifen müssen und es gab zu ihr keine Alternativen. Wahlen hatte es in den letzten zehn Jahren nicht mehr gegeben.

    Marvin erinnerte sich an einen Putschversuch einer kleinen Gruppe von Bunkermitgliedern. Sie kritisierten die radikalen Vorgehensweisen der Regierung und hetzten die anderen Bewohner dazu auf, sich gegen das neue Klassensystem zu wehren. Seitdem waren die Aufsässigen in irgendwelchen Zellen in Sicherheitstrakten verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Man munkelte gar, sie wären als Versuchskaninchen in den geheimen Forschungskatakomben missbraucht worden, wo man versuchen könnte bestimmte Schutzanzüge, Waffen oder Medikamente herzustellen.

    All diese Gründe führten nun dazu, dass Marvin am liebsten wieder zurück zu seinem Vater gerannt wäre. Er hatte damals in den Bunker gedurft, weil er einer der vorsitzenden Bauingenieure gewesen war, die den Bunkerbau vorangetrieben hatten. Er kannte sich noch mit am besten in dem unübersichtlichen System aus Gängen, Kammern und Schächten aus, doch er konnte diese Begabung nicht nutzen, da die wichtigsten Gänge ständig von den Regierungsmitarbeitern überwacht wurden. Er hatte oft betont, dass er sein Leben dafür gegeben hätte, um sich gegen das vorherrschende System aufzulehnen, doch er hatte Angst, dass die Regierungsbeauftragten das Verhalten des Vaters am Sohn auslassen könnten und deswegen hatte er irgendwann resigniert. Er war inzwischen ziemlich krank geworden, hatte Atemprobleme und verspürte ein ständiges rasselndes Atemgeräusch in seinen Bronchien oder Lungenflügeln. Doch er betonte, dass es ihm lieber war in seinem kleinen Bunkerabteil auszuharren und zu sterben, als sich freiwillig als Patient in das Forschungszentrum zu begeben, um als Gegenleistung für die spärlich vorhandenen Medikamente irgendwelche Experimente über sich ergehen zu lassen. Ein Bekannter von ihnen hatte dies einmal mit sich machen lassen, heute schrie er wie ein Irrer in seinem Bunkerabteil, litt unter Wahnvorstellung und war manchmal wie paralysiert und tagelang nicht ansprechbar. Marvins Vater hatte sich aus der Gesellschaft so weit es ging zurückgezogen, während sein Sohn versucht hatte den Kontakt mit Gleichaltrigen zu wahren.

    Inzwischen war er selbst vierundzwanzig Jahre alt geworden. Das frühere Leben außerhalb des Bunkers kam ihm meist wie verblasst vor, als ob er das Ganze immer nur geträumt hätte. Auch charakterlich hatte Marvin sich verändert. Er war misstrauischer, pessimistischer und ruhiger geworden, während er früher ein quicklebendiger, motivierter Jugendlicher gewesen war. Seit seinem Leben im Bunker war auch seine schöne Jugendzeit abrupt beendet gewesen. Er hatte seitdem seine Zeit hauptsächlich mit sportlichen Aktivitäten verbracht und auch viel gelesen. Seine Gesichtszüge waren bleicher geworden, sein Haar  gleichzeitig dunkel und ein wenig spröde. Er hatte es etwa schulterlang getragen, bis die Regierungsbeauftragten ihn dazu gezwungen hatten es kurz zu schneiden – angeblich aus hygienischen Gründen. Es gab sogar inzwischen strenge Vorgaben, was Haarlänge, Rasieren und solche Dinge anging, sodass beispielsweise auch Frauen nur unwesentlich längere Haare als Männer haben durften. Eines jedoch hatte man in Marvin niemals zerstören können, nämlich seinen unbändigen Lebenswillen und seinen rebellischen Charakter, den man auch in seinen starren, stahlblauen Augen erkennen konnte. Er wollte immer anders sein als die restlichen Mitglieder der Bunkerzivilisation. Er war zufällig in den Besitz einer Akustikgitarre gekommen, auf der er sich täglich den Wut und die Frust von der Seele spielte. Ein älterer Kerl aus dem Lager der Ausgestoßenen, die in den südlichsten Bunkern zusammengepfercht lebten und sich zur Zeit der großen Katastrophen von den Straßen Berlins zufällig in die Bunker geflüchtet hatten, hatte ihm sogar einige Tätowierungen verpasst. Auf seinem linken Schulterblatt trug er das Bildnis eines schwarzen, gefallenen Engels, auf seiner Brust die kunstvolle Zeichnung einer Gitarre und auf seinem rechten Oberarm hatte er sich den Namen seiner Mutter tätowieren lassen. Da die Tätowierungen nicht unter den besten Umständen angefertigt worden waren, hatten sie anfangs sehr geschmerzt, doch mit der Zeit war Marvin abgehärteter geworden und verspürte diese Qualen längst nicht mehr.

    Mittlerweile hatten die Männer in Schwarz ihn über die äußersten Ränge in den untersten Bereich der Halle geführt. Hier warf Marvin auch einen Blick auf die runde, gigantische Kuppel über seinem Kopf. Die Abbilder berühmter deutscher Wissenschaftler, Politiker oder Schriftsteller waren dort eingraviert worden. Manche ihrer Werke existierten noch auf den Zentralrechnern der Bunkerkolonien und teilweise in den Archiven, aber große Teile waren auf ewig zerstört und verloren.

    Marvin wurde zu einem von vier relativ klapprigen Holzstühlen geführt, die sich vor dem erhöhten Rednerpult befanden. Die Stühle passten gar nicht zur ansonsten edlen Einrichtung und sollten wohl nur symbolisch darstellen, dass er gar nicht würdig war, überhaupt an diesem fast schon heiligen Ort zu sein. Zudem musste Marvin, als er sich nun auf den knarrenden Stuhl setzte und von zwei Männern in Schwarz flankiert wurde, seinen Kopf stark in den Nacken legen, um überhaupt das Rednerpult fixieren zu können. Marvin war diese Demütigungen und Unterwerfungsprozeduren inzwischen längst gewohnt.

    Nachdenklich blickte der junge Deutsche auf die drei Stühle zu seiner rechten Seite. Trotz seiner sonstigen Beherrschung schossen ihm nun quälende und hektische Gedanken durch den Kopf und das klinische Schweigen um ihn herum trieb ihn fast in den Wahnsinn. Ihm brach der Schweiß aus, der in klebrigen Strömen über sein Gesicht rann, in seinen Augenwinkeln brannte, sodass seine Lider schmerzhaft zucken, doch zu einer weiteren Rührung war er nicht fähig. Er wollte einfach steif und stumm verweilen, den Männern in Schwarz in keinem Fall zeigen, dass er sich unwohl in seiner Haut fühlte oder gar Angst vor ihnen haben könnte.

    Auch als sie ihn heute Morgen, am Tag 3413 der Bunkerzivilisation, aus seinem kleinen Bunker geholt hatten und ihn wortlos dazu aufgefordert hatten ihn zu begleiten, die ängstlichen Nachfragen des Vaters ignorierend, hatte Marvin kein Wort gesprochen. Es wäre ohnehin sinnlos gewesen, denn die Männer in Schwarz ließen sich grundsätzlich nicht auf Diskussionen mit der normalen Bevölkerung ein. Falls sie überhaupt sprechen konnten.

    Marvin fragte sich bitter und mit einem revoltierenden Zittern in seinen Gliedern, wie es innerhalb von nur etwas mehr als neun Jahren zu solch einer düsteren, menschenfeindlichen Atmosphäre hatte kommen können. Die Jahre der Ungewissheit, der Eingesperrtheit, die Monate des künstlichen Lichts und der beschäftigungslosen, quälend langsam vorbeiziehenden Tage hatten die Gemüter der Menschen verändert. Auch die sinnlosen Zwangsarbeiten, die jeder Bürger quasi als Beschäftigungstherapie und zum Beitrag der allgemeinen Solidarität verrichten sollte, konnten niemand von den depressiven Gedanken abbringen. Marvin hat solche Tätigkeiten auch schon verrichten müssen. Das Staubwischen in den Archiven und der Bibliothek oder das Spülen in der Gemeinschaftsküche waren da noch die sinnvollsten Aufgaben gewesen. Der Bau eines kleinen Zusatzbunkers für eine immer weiter zusammenschrumpfende Bevölkerungsdichte war ebenso sinnfrei wie das Auszählen und Verteilen von Geldscheinen an die Bevölkerung, zumal es keinerlei wirtschaftliche Abläufe gab und Geld längst jegliche Bedeutung verloren hatte. Mit wem hätte man denn auch Handeln können, wo die meisten Besitzgüter allesamt beschlagnahmt und danach verteilt worden waren und es außerhalb der Bunkerkomplexe einhundert Meter unter der Erde nichts gab als leblose Gesteinsschichten?

    Marvin Brinkmann war so sehr in seinen düsteren Gedanken versunken, dass das plötzliche Geräusch einer sich öffnenden Tür ihn erschrocken hochfahren ließ. Sofort spürte er die eisige, starke Hand einer der Männer in Schwarz auf seiner Schulter, die ihn wieder grob herunterdrückte. Marvin bekam eine frostige Gänsehaut und schielte schluckend auf die Klaue, die in einem kalten, schwarzen Lederhandschuh steckte und sich endlich von ihm löste.

    Rechts von ihm war eine Tür aufgegangen, die genau der gegenüberlag, durch die Marvin in den Saal getreten war. Überhaupt war der gesamte Saal sehr symmetrisch aufgebaut worden. Er wagte es nicht seinen Kopf weiter zu drehen, da sonst einer seiner Bewacher wieder eingegriffen hätte.

    Langsam wurde die zweite Person ebenso wie er selbst nach vorne eskortiert. Marvin dachte daran, dass auf der Seite des großen Saales, von der die Person gekommen war, der Trakt der weiblichen Bunkerbewohner war, die von den Männern getrennt lebten und diese nur bei den Mahlzeiten oder zu besonderen Anlässen sahen. Marvin dachte schmerzlich daran, dass er seit fast einem Jahr nicht mehr richtig mit einem weiblichen Wesen gesprochen hatte. Damals hatte es einen kurzen Austausch zwischen den Arbeitsgruppen für Frauen und den Arbeitsgruppen für Männer gegeben. Denn im Alltag trafen sich die Wege der beiden Geschlechter recht selten. Frauen waren allgemein damit beschäftigt die Speisen herzurichten oder auf den Nachwuchs aufzupassen, viele wurden auch zu persönlichen Dienerinnen des Parteivorsitzenden ausgebildet, wobei niemand so genau wusste, was diese Arbeiten beinhalteten. Wenn sich ein Mann und eine Frau zusammentun wollten, dann musste die Regierung dies speziell genehmigen. Oft machten auch Regierungsmitarbeiter Vorschläge, welche Frauen sich mit welchen Männern am besten paaren sollten und wie sie am besten harmonisieren würden, denn der Erhalt des deutschen Volkes musste gewahrt und dementsprechend auch kontrolliert werden.

    Gerade wegen diesen seltenen Kontakten hatte Marvin jedoch ein besonderes Interesse für das weibliche Geschlecht und dachte wehmütig an seine Jugendliebe zurück, mit der er fünf Monate vor der großen Katastrophe zusammengekommen war. Ayla dos Santos hatte sie geheißen und sie war eine brasilianische Immigrantin gewesen. Sie hatte bei ihrem Onkel in Berlin gelebt und war dort zur Schule gegangen, nachdem ihre Eltern zuvor nach Paris gezogen waren, um dort zu arbeiten. In den fünf Monaten waren Marvin und Ayla sich unglaublich nah gekommen, bis das Unglück über sie hereingebrochen war. Er wusste nur noch, dass Ayla nicht in Berlin bleiben und die letzten Tage ihres Lebens mit ihren Eltern in Paris verbringen wollte. Als Ausländerin hätte man sie ohnehin nie im Leben in einen der deutschen Bunker gelassen. Überhaupt hatten in den über das Land verteilten Bunkern höchstens eine Million Menschen Platz gefunden. Die restlichen Menschen waren den Elementen und der Gnade Gottes ausgesetzt worden, wie es in den neueren Geschichtsbüchern hieß.

    Marvin wagte nun, als die Schritte sich immer mehr seinem Platz genähert hatten, doch einen kurzen Seitenblick und sah seinen Verdacht bestätigt. Es war tatsächlich eine junge Frau, die von drei Männern in Schwarz eskortiert wurde. Ihr wurde nun mit einer groben Geste der Stuhl neben Marvin zugewiesen und die Dame nahm mit einem zerknirschten Ausdruck Platz und suchte sogar einen grimmigen Blickkontakt mit dem Mann in Schwarz, der ihr diesen Befehl wortlos erteilt hatte. Doch natürlich konnte sie hinter den dicken und dunklen Sonnengläsern nicht sehen, ob der versteinert wirkende Regierungsmitarbeiter überhaupt auf sie reagierte. Er schien sie einfach stumm zu ignorieren.

    Marvin warf einen langsamen, aber doch interessierten und fast schon gierigen Blick auf die Dame neben ihm. Sie hatte langes, lockiges, rotblondes Haar, das ein feines Gesicht mit einigen verblichenen Sommersprossen umschmiegte. Ihre blauen Augen waren klar und stechend, aber ihr durchaus hübsches Gesicht wirkte irgendwie verkniffen und müde. Auch die Figur der unbekannten Dame war durchaus ansehnlich. Sie hatte lange, durchtrainierte Beine, ein wohlgeformtes Gesäß und einen flachen, muskulösen Bauch, aber ihr ausdrucksstarkes Gesicht stach von allem am meisten hervor.

    Ihr Sitznachbar wirkte fast wie elektrisiert, als sich die schöne Dame grazil neben ihn setzte, doch sie hatte keine Augen für ihn, sondern nur für die Männer in Schwarz, denen sie verächtliche Blicke schenkte. Marvin schätzte die Dame ein wenig jünger als sich selbst ein, sie mochte vielleicht gerade einmal Anfang zwanzig sein, vielleicht sogar noch ein wenig jünger. Marvin kam der Gedanke, dass sie ihn an das erinnerte, was er sich als Amazone vorgestellt hatte, seitdem er in seiner frühen Kindheit schon regelmäßig Abenteuerromane verschlungen hatte. Er wusste instinktiv, dass diese Frau trotz ihrer Schönheit sehr wild und unnahbar sein würde. Man sah ihr förmlich an, dass sie eine Kämpfernatur war und sich nichts vordiktieren ließ. Manch ein Mann hätte dies als abschreckend empfunden, aber Marvin war sofort fasziniert von ihr und konnte den Blick nicht von ihr lassen.

    Irgendwann bemerkte dies auch seine Sitzpartnerin, die sich abrupt umwandte, ihren Leidensgenossen mit abfällig verzogenen Mundwinkeln spöttisch von Kopf bis Fuß musterte und ihm dann stechend in die Augen blickte.

    „Was starrst du mich so dämlich an? Hast wohl noch nie eine Frau gesehen, oder?“, fragte sie abfällig und warf dann ihren Kopf zurück, wobei ihre wilde Mähne wild durch die Lüfte flog.

    Marvin war von diesem Kommentar nicht einmal abgeschreckt, denn diese direkte Art passte zu dem Bild, was er im ersten Moment von der jungen Frau gehabt hatte. Er war froh, dass ihn seine ausgeprägte Menschenkenntnis auch dieses Mal nicht im Stich gelassen hatte und hörte über die höhnischen Worte einfach hinweg. Unverhohlen blickte er die junge Dame weiter an, die gerade noch etwas Provokantes erwidern wollte, als sich die eiserne Hand eines der Männer in Schwarz auf ihre Schulter legte.

    Angriffslustig wirbelte die wilde Schönheit herum und funkelte den regungslosen Aufpasser aggressiv an. Vehement schlug sie seine Hand von ihrer Schulter.

    „Was zur Hölle willst du von mir?“, herrschte sie ihn an, doch da legten sich plötzlich beide Hände des Mannes auf ihre Schultern und drückten sie energisch auf den ungemütlichen Holzschemel.

    Marvin kochte vor Wut und ballte die Hände zu Fäusten, als er die verachtungswürdige Art des Mannes in Schwarz bemerkte, doch seine eigenen Bewacher hatten seine Unruhe bemerkt und waren wie unter einem geheimen Kommando noch näher an seinen Stuhl herangetreten und fixierten ihn kalt und von oben herab.

    „Verdammt, was wollt ihr überhaupt von mir?“, wollte die junge Dame fluchend wissen und ließ sich auch weiterhin nicht einschüchtern.

    Mit einem flauen Gefühl im Magen dachte Marvin daran, dass Mut auch schnell in Leichtsinn umschwingen konnte und seine Begleiterin kurz davor war einen großen Fehler zu begehen und sich weitere Feinde zu machen. Doch er selbst war in einem Dilemma, denn er wollte sich zwar nichts zu Schulden kommen lassen und für Streit sorgen, aber seine Moral sagte ihm, dass er es nicht zulassen konnte, dass man versuchte eine Person zu demütigen, die nur wenige Zentimeter von ihm entfernt saß. Irgendwie fühlte der junge Deutsche plötzlich eine tiefe Verbundenheit mit der so widerspenstigen Dame.

    Bevor die Situation noch weiter eskalieren konnte, öffnete sich plötzlich hinter und über ihnen wieder eine Schleuse, aus der dumpfe Schritte klangen. Sofort verstummte auch die widerwillige junge Dame und die Männer in Schwarz erstarrten wieder in ihrer Haltung hinter den Stühlen, ohne ein einziges Wort mit ihnen gewechselt zu haben. Manchmal kam es Marvin so vor, als ob er es nur mit leblosen Maschinen zu tun hatte und nicht mit richtigen Menschen.

    Dieses Mal wagte Marvin es überhaupt nicht sich umzudrehen und lauschte nur aufmerksam den Schritten, die sich ihm von hinten näherten. Durch den mittleren Gang zwischen den Rängen kam nun der dritte von voraussichtlich vier Gästen, der auch von drei Männern in Schwarz eskortiert wurde. Die Person hatte einen eher wackligen, nervöseren Schritt und redete auch nervös vor sich her. Marvin erkannte eine leicht lispelnde Männerstimme.

    „Was habt ihr denn mit mir vor? So erklärt mir doch, was ich hier machen soll? Glaubt mir, ich lasse mich auf keines eurer Experimente ein! Ich werde mich hier auch nicht zwangsverheiraten lassen, um irgendeinen Nachwuchs zu zeugen. Kein menschliches Wesen hat es verdient, in so einem elendigen Bunker zu hausen, jawohl!“

    Inzwischen hatte man dem jungen Mann einige derbe Stöße in den Rücken verpasst, sodass er in den vorderen Bereich getaumelt war und empört nach Luft schnappte. Ungeduldig drängte man den Neuankömmling zu den beiden Anderen und er musste auf dem dritten Holzschemel Platz nehmen. Auch um ihn postierten sich einige Männer in Schwarz.

    Jetzt konnte Marvin doch einen Blick auf den jungen Mann werfen. Auch er war noch ein wenig jünger. Er hatte ein schmales Gesicht mit braunen Sommersprossen und wirkte sehr dünn, fast schon dürr. Er hatte kurzes, wirres braunes Haar und seine intelligent wirkenden Augen wurden von einer rundlichen, aber kleinen Brille eingerahmt. Marvin glaubte diesen jungen Mann schon einige Male in der Bibliothek beim Studieren gesehen zu haben, aber er vermochte sich nicht an seinen Namen zu erinnern. Er wusste nur noch, dass sein Vater wohl eine Art Wissenschaftler oder Philosoph gewesen war, bevor er vor einigen Jahren an einer Krankheit gestorben war. Das war jedenfalls die offizielle Begründung gewesen. Marvins Vater hatte eher vermutet, dass der Vater des dünnen Jungen sich gegen die Experimente in den Katakomben aufgelehnt hatte und deshalb eingesperrt und zum Schweigen gebracht worden war.

    Der Junge warf inzwischen einige Blicke auf Marvin und dann auf die junge Dame, die er ein wenig näher und eingehender betrachtete und dann nickte er nervös.

    „Nun, wenigstens bin ich nicht allein hier. Zum Glück gibt es hier auch ein paar normale Menschen, die nicht nur komplett in schwarz herumlaufen und sicher sogar sprechen können.“, warf er hektisch ein und schien sich selbst Mut zureden zu wollen, da er sehr nervös und fahrig wirkte.

    Daraufhin bekam der quirlige Jungspund einen groben Klaps auf den Rücken und wurde von einem der Männer in Schwarz grob gepackt und zurück gegen die Rückenlehne des Stuhls gedrückt. Erschrocken zuckte der Junge zusammen und riss ächzend die Arme in die Luft.

    „Gut Leute, kein Problem, ihr habt gewonnen.“, murmelte er schnell und drückte mit seinen feingliedrigen Händen einige Falten auf seinem karierten Holzfällerhemd weg und richtete auch seine dunkelbraune Krawatte wieder her.

    Marvin fragte sich, wie dieser junge Mann zu der wilden Frau und ihm selbst passte. Der dünne Kerl wirkte wie ein Intellektueller und übermäßig nervös und hektisch, während die anderen beiden Anwesenden eher die sportlicheren oder mutigeren Typen darstellten. Was hatte es mit dieser seltsamen Versammlung bloß auf sich?

    Marvin wartete gespannt darauf, dass sich irgendeine Schleuse noch einmal öffnen würde und ein vierter Gast zu ihnen stoßen würde. Dies war jedoch nicht der Fall, denn plötzlich ertönte aus irgendeiner Lautsprecherbox übermächtig laut und pompös eine heroische Hymne, die als „Bunkerhymne“ bekannt geworden war und die alte deutsche Nationalhymne inzwischen verdrängt hatte. Jeden Morgen wurde die Hymne über Lautsprecher im ganzen Bunkersystem abgespielt und alle Insassen wurden dazu aufgefordert sie mitzusingen. Laut der Regierung aus solidarischen und gemeinschaftsdienlichen Gründen.

    Dieses Mal jedoch musste keiner die überlaute Hymne, welche die Bunkerzivilisation, das alte Deutschland und den neuen Regierungsvorsitzenden in allen Tönen lobte, mitsingen, denn stattdessen öffnete sich vor ihnen eines der metallischen Tore in den schmalen, langen Gängen, die zu dem Regierungsbunker führten.

    Wie gebannt starrte Marvin auf das Spektakel, das sich ihnen nun darbot. Zunächst traten einige Männer in Schwarz in den Gang, doch sie bewegten sich rasch zur Seite und machten einem Fahnenträger Platz, der mit großen, soldatenähnlichen Stechschritten voranging, in Richtung des Podestes trat und die Flagge der Bunkerzivilisation Berlins in eine dafür vorgesehen Halterung brachte. Dann verbeugte er sich kurz und andächtig vor der Flagge und trat devot zur Seite, um der Person Platz zu machen, die hinter ihm aus dem Gang getreten war.

    Marvin kannte diese Person bislang nur von Bildern und aus Erzählungen und doch wusste er mit einhundertprozentiger Sicherheit sofort, wen er hier vor sich hatte. Sein Atem stockte und sein Herzschlag schien für einige Augenblicke auszusetzen. Der allmächtige Regierungsvorsitz war zu ihnen getreten, trat vor das Rednerpult und blickte die drei jungen Erwachsenen hämisch und arrogant von oben herab an. Theatralisch weitete er seine Arme aus und plötzlich erhielten sowohl Marvin, als auch seine zwei Begleiter einen heftigen Stoß in den Rücken, sodass sie von ihren klapprigen Stühlen grob auf den Boden fielen. Dabei schlug Marvin sich das Knie auf dem kalten und harten Marmorboden auf und beugte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ein wenig nach vorne. Mit einem Seitenblick bemerkte er, wie die Dame neben ihm starr auf ihren Knien hockte und versuchte jeden Blickkontakt mit dem Regierungsvorsitz zu meiden, während der nervöse Brillenträger sich eifrig verbeugte und dann hektisch auf seinen Sitzplatz zurückkehrte.

    Auch Marvin rappelte sich wieder auf und setzte sich mit rasendem Herzschlag und schweißüberströmten Gesicht wieder auf seinen angestammten Platz nieder, nachdem er die auffordernden Gesten der Männer in Schwarz gesehen hatte.

    Seine eigentliche Sitznachbarin schien diese Aufforderung jedoch übersehen zu haben und hockte auch weiterhin verbissen und regungslos auf ihren Knien und wirkte dabei dennoch stolz und geradezu elegant. Marvin empfand viel Bewunderung für den Mut der Frau, doch die Männer in Schwarz griffen hart durch, umkurvten die Sitzreihe und gingen von zwei Seiten auf die wilde Schönheit zu.

    Zu zweit ergriffen sie jeweils einen Arm der widerspenstigen Frau und zerrten sie grob in die Höhe, um sie dann grob auf ihren Sitzplatz zu stoßen. Im Gesicht der grob behandelten Dame zuckte es kurz, doch sie war viel zu stolz, als dass sie gegen dieses Vorgehen nun vehement protestiert hätte und ignorierte die für sie wertlosen Männer in Schwarz auch weiterhin. Stumm sank sie in ihrem Stuhl zurück und blickte das Regierungsoberhaupt böse an.

    Dieser erwiderte ihren Blick mit einem widerwärtigen Lächeln und gab auch sonst keinen einzigen Kommentar zu dem Prozedere ab. Er tat geradezu so, als ob nichts geschehen wäre und sie alle nun einem ganz besonderen erfreulichen Ereignis beiwohnen dürften. In diesem Moment verklang auch die majestätische Hymne endlich, die Marvin schon in den Ohren geschmerzt hatte.

    So erhielt er immerhin nun eine Antwort auf seine unzähligen Fragen, mit denen er sich schon seit geraumer Zeit den Kopf zermartert hatte. Doch was er nun erfuhr, ließ ihn nicht nur ungläubig erstarren; er wünschte sich im Nachhinein sogar, dass er niemals eine Antwort auf seine nicht gestellten Fragen bekommen hätte.

     

                                                                            *

     

    „Meine lieben Damen und Herren, ich freue mich sehr, dass Sie allesamt erschienen sind um einem – sagen wir mal – geradezu historischen und ehrvollen Ereignis beiwohnen zu dürfen!“, begrüßte das Regierungsoberhaupt seine Gäste theatralisch und in unglaublich gekünstelter Sprache.

    Marvin empfand es als blanken Hohn, dass das Regierungsoberhaupt ihre grobe Eskortierung leichtfertig als einfaches und selbstverständliches Erscheinen darstellte.

    Er empfand den Sprecher vom ersten Moment an als unsympathisch und alle Vorurteile, die er zuvor gegen ihn gehegt hatte, schienen sich schon jetzt negativ zu bestätigen. Er musterte das, was er von dem Sprecher überhaupt sehen konnte sehr eindringlich und nahm es wie ein Schwamm in sein fotografisches Gedächtnis auf.

    Das sogenannte Regierungsüberhaupt war sehr klein gewachsen, hatte kurzes, graues Haar, trug eine dicke, lächerlich wirkende Hornbrille und hatte ein sehr rundliches und gerötetes Gesicht, das Marvin an ein fettes Ferkel erinnerte. Die Stimme des Mannes troff vor Hohn und Unehrlichkeit, seine Gesten waren überladen und theatralisch. Sein majestätisches Gehabe passte nicht so recht zu der düsteren Bunkerwelt und er wirkte irgendwie wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen. So wie ihn hatte sich Marvin früher immer überhebliche römische Kaiser vorgestellt. Es fehlten nur der Lorbeerkranz und die Toga.

    Ein kurzer Seitenblick zeigte Marvin, dass der dünne Junge mit offenem Mund ungläubig den Sprecher anstarrte, während seine Sitznachbarin weiterhin verächtlich dreinblickte.

    „Wie Sie sicherlich allesamt wissen, bin ich Adolf-Josef Glückberg, das Regierungsoberhaupt, der politische Führer und Koordinator des sozialen Alltags der Bunkersiedlung der ehrenvollen deutschen Bundeshauptsstadt Berlin. Seit nunmehr über neun Jahren leite ich die Geschicke dieses hochmodernen Bunkersystems, das unsere neue und sichere Heimat geworden ist nach den großen Katastrophen im Dezember 2012.“, fuhr das Oberhaupt mit stolzgeschwellter Brust fort.

    Marvin warf sich noch einmal die schrecklichen Vorkommnisse des angesprochenen Datums ins Gedächtnis. Insgesamt vier große Unglücke hatten zu einem radikalen Umsturz des Planeten und des bisherigen Lebens der Weltbevölkerung geführt. Es war in dem angesprochenen Monat zu einer entsetzlichen Kettenreaktion von Unglücken gekommen.

    Zunächst hatten sich die Vereinigten Staaten von Amerika nach vermehrten Drohgebärden aus Teheran gegenüber der westlichen Welt, aber vor allem auch Israel, dazu entschlossen, sich unter dem frisch gewählten Präsidenten über die Friedensbemühungen und diplomatischen Verhandlungen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union hinwegzusetzen und dem Land den Krieg zu erklären. Am vierten Dezember waren amerikanische Gruppen über die Grenzen des Iraks und Afghanistans im Iran einmarschiert und wurden nur einen Tag später mit Nuklearwaffen attackiert, die Millionen Menschenleben gekostet hatten. Die Amerikaner ließen diesen Angriff nicht auf sich sitzen und hatten nur zwei Tage später zwei hochmoderne Atombomben über dem Land des Kriegsgegners abgeworfen, die erste über Maschhad im Osten, die zweite nur wenige Stunden später über der Hauptstadt Teheran selbst. In wenigen Stunden waren mehrere Millionen Menschen gestorben und die Nuklearwaffen hatten ein desaströses Chaos angerichtet und einen gesamten Lebensraum zerstört und verseucht.

    Am elften Dezember war es dann an einem anderen Ort der Welt zum Eklat gekommen. Die ohnehin schon kritische Situation zwischen dem immer mehr schwächelnden Nordkorea auf der einen Seite, sowie Südkorea und Japan auf der anderen Seite, die eine Art Allianz gegen das stalinistische Regime geformt hatten, war dadurch eskaliert, dass die Vereinigten Staaten von Amerika sich auf einen anderen Gegner konzentrieren mussten und das unter Druck gesetzte nordkoreanische Regime darin seine einzige Befreiungsmöglichkeit sah, gleichzeitig nach dem radikalen Eingriff des westlichen Gegners im Iran aber auch von Furcht geleitet war. Sie feuerten nicht nur Langstreckenraketen bis nach Alaska ab, sondern griffen auch Tokio und Osaka, sowie mehrere Orte im Bruderstaat Südkorea an, der unter seiner konservativen Regierung nicht mehr bereit gewesen war überhaupt mehr ernsthafte diplomatische Verhandlungen mit Nordkorea zu führen. Da zudem der nordkoreanische Diktator gesundheitlich geschwächt war, hatte sich eine Militärjunta gebildet, die das Desaster zu verantworten und die politische Macht an sich gerissen hatte. Der Diktator selbst war nur zwei Tage nach diesen Angriffen verstorben. Die diversen Kriegshandlungen hatten sich auch dort hochgeschaukelt und am Ende war die gesamte koreanische Halbinsel geradezu dem Erdboden gleichgemacht worden. Sogar Russland und China hatten in den Konflikt, der sie als Nachbarländer natürlich auch nicht unwesentlich betraf, eingegriffen und Nuklearwaffen verwendet.

    Das Fass zum Überlaufen gebracht hatte dann aber ein erneuter Konflikt im Gaza-Streifen. Nach mehreren Drohungen und terroristischen Anschlägen hatte Israel am zwanzigsten Dezember die gesamten palästinensischen Autonomiegebiete mit nuklearer Waffengewalt eingenommen, woraufhin sich der Libanon und Syrien zusammengetan hatten, um Israel einzunehmen. Auch hier waren Nuklearwaffen verwendet worden, bis Israel in größter Existenzangst einen Tag später ebenfalls eine Atombombe gezündet hatte um Beirut anzugreifen. Dies war der atomare Todesstoß für die Welt gewesen, so wie man sie bis dahin noch gekannt hatte.

    Alle drei Kriege befanden sich in dem Moment in Pattsituationen, kein Land hatte wirklich einen Sieg erzwingen können, doch der Planet Erde hatte dem dritten großen Krieg innerhalb von nicht einmal drei Wochen nicht mehr Stand halten können.

    Es gab radikale Temperaturumstürze, die gesamte Nordhalbkugel und besonders der asiatische Raum waren nuklear verseucht, sodass sich innerhalb von nur wenigen Stunden die Regierungen und wenige auserwählte oder glückliche Bürger in Schutzbunker zurückziehen durften. Die Menschen hatten es entgültig geschafft die Problematik der Klimaerwärmung durch den Einsatz von Nuklearwaffen auf die Spitze zu treiben. Es gab schwere Naturkatastrophen, ganze Landstriche wurden vom Meer verschluckt, ganze Städte durch Erdbeben oder Tornados ausradiert, bevor der Prozess innerhalb von nur wenigen Stunden geradezu apokalyptische Formen angenommen hatte. Eine neue, rasante Eiszeit war über den gesamten Planten hereingestürzt und hatte das Antlitz der Erde komplett verändert. Es war eine Art natürliche Schutzreaktion der Natur auf die jahrzehntelange Misshandlung des Planeten durch den Menschen.

    Die überlebenden Experten hatten vorausgesagt, dass die Erde frühestens in fünfzig Jahren wieder besiedlungsfähig sei. Seit Dezember 2012 hatte sich öffentlich kein Mitglied der Bunkerzivilisation in Berlin mehr an die Erdoberfläche gewagt, denn selbst die besten Strahlenanzüge hatten den widrigen Bedingungen nicht Paroli bieten und den Menschen schützen können. Alle Stromnetze, Trinkwasserversorgungen und ähnliche Dinge waren völlig zerstört und verseucht worden. Die Bunkerzivilisationen lebten praktisch nur noch von den vorzeitig zusammengetragenen überlebenswichtigen Dingen, die jedoch in Deutschland beispielsweise nur für etwas mehr als einen Prozent der Gesamtbevölkerung reichten.

    Seit nunmehr zehn Jahren gab es in Deutschland drei Bunkerkolonien in Berlin, München und Köln, die allesamt nicht mehr das Tageslicht erblickt hatten. Man munkelte gar, dass sich eine dicke, graue Wolkenschicht um den Planeten gelegt hatte und die Sonne diese Schicht kaum durchdrang. Man vermutete, dass die schlimmste Zeit der rasantesten Eiszeit aller Zeiten bereits überstanden war, doch niemand konnte genau sagen, wie der Planet noch aussah.

    All diese bedrohlichen Tatsachen schossen Marvin durch den Kopf und als er an diesen Horror dachte, empfand er es als puren Sarkasmus, dass sein Gegenüber von einer neuen und glorreichen Zeit zu sprechen schien. Verbittert fragte sich Marvin wie jemand so stolz sein konnte der provisorische Herrscher einer heruntergekommenen und desolaten Bunkerkolonie zu sein.

    Ein Seitenblick auf seine Sitznachbarin bewies ihm, dass sie genauso dachte und verächtlich schnaubte. Scheinbar waren die beiden sich doch nicht so verschieden. Marvin konnte sich durch diesen Gedanken wenigstens ein wenig ablenken und lächelte zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder einmal, bevor die Rede des Regierungsoberhauptes ihn grob aus seiner schönen Illusion riss.

    „Auch wenn die Entwicklung unserer Bunkerkolonie planmäßig und vorbildlich verläuft und wir im Grunde nicht auf fremde Hilfe angewiesen sind, so wollen wir dennoch wieder diplomatische Verhandlungen mit anderen Kolonien aufnehmen, damit diese von unseren Fortschritten profitieren können und wir gemeinsam und unter unserer besonderen Führung natürlich eine neue Weltordnung und eine neue ruhmreiche Zivilisation aufbauen werden.“, verkündete Glückberg großspurig und im Brustton der Überzeugung.

    Jetzt wurde Marvin doch noch hellhörig. Was bedeutete der Hinweis auf die diplomatischen Verhandlungen und die neue Weltordnung? Hatte dieser Bunker etwa doch Kontakte zu anderen Bunkern oder Überlebenden des großen Katastrophenjahres? War die Erde mittlerweile möglicherweise wieder zivilisierbar? Gab es Anzeichen einer Besserung und eines Endes des schmachvollen und trostlosen Lebens unter der Erde? Was aber hatte er bloß damit zu tun?

    Adolf-Josef Glückberg genoss die erhöhte Aufmerksamkeit seiner drei Gäste sichtlich und blickte sich zufrieden nickend um. Er machte es besonders spannend, legte eine längere Kunstpause ein und verknotete seine dicken Wurstfinger zu absonderlichen Figuren und Spielereien. Sein dickes Doppelkinn reckte er stolz in die Lüfte und fuhr beifallheischend fort.

    „Ein solches Projekt, wie ich persönlich es entworfen habe, ist absolut revolutionär und wird die Geschehnisse auf diesem Planeten bis in alle Zukunft verändern. Ich habe mich dazu entschlossen vier Personen auszuwählen, die sich im Namen unserer Bunkerkolonie nach Straßburg zum Sitz der Europäischen Union aufmachen. Die dortigen Bunkeranlagen waren vor dem Unglück als Treffpunkt der wichtigsten europäischen Staaten für die Zeit nach der Apokalypse vereinbart worden. Von dort aus wird man versuchen die Geschicke des Kontinents und der ganzen Welt mit neuen Strukturen und Richtlinien zu leiten, um unseren Planeten neu zu gestalten und ihn wieder zivilisationsfähig zu machen. Je früher wir dort eintreffen, desto mehr können wir bereits grundlegend Einfluss auf die Zukunft nehmen und als Vorbilder für die anderen Bunkerkolonien auftreten. Man wird uns mit ewiger Dankbarkeit begegnen und wir werden in die Geschichtsbücher eingehen als neue Helden, die etwas Prachtvolles aus den Trümmern der Welt geformt haben!“, schwärmte der Regierungschef mit leuchtenden Augen und großen Gesten.

    So wahnsinnig und überspitzt Marvin diese Äußerungen auch fand, so betrachtete er die eigentliche Kernidee, die Zusammenarbeit der europäischen Bunkerkolonien nach dem Unglück, als eine sehr wertvolle. Doch ihm schwante plötzlich Übles und siedend heiß fiel es ihm wie Schuppen vor die Augen, warum gerade seine zwei Begleiter und er an dieser Stelle saßen und sich die heroische Rede anhören mussten.

    Plötzlich brach Marvin der Schweiß aus, er fing vor Erregung und Angst an zu zittern und schüttelte langsam und unwillig den Kopf. Krampfhaft griff er nach seiner Stuhllehne, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Bei seiner Sitznachbarin war der Groschen offenkundig noch nicht gefallen, denn sie blickte ihren nervösen Nachbarn verständnislos an und schüttelte mitleidig den Kopf.

    Der dünne und eifrige junge Erwachsene neben ihr hatte allerdings auch bereits erahnt, worauf ihr Regierungsoberhaupt hinauswollte und sein fiebriger Blick traf den von Marvin, der unruhig auf seiner Sitzfläche hin und her rutschte. Plötzlich trat ein Mann in Schwarz an seine Seite und drückte ihm grob den Ellbogen in die Rippen, sodass Marvin zusammenzuckte, vor Schmerz in der Seite das Gesicht verdrehte und plötzlich wieder kerzengerade saß und starr nach vorne blickte, wo Adolf-Josef Glückberg inzwischen schon ungeduldig mit seinen Fingern auf seinem Rednerpult getrommelt hatte und nun mit einem dämlichen Lächeln Marvin zunickte und mit seiner Rede nach der ungewollten Unterbrechung mit einem Räuspern fortfahren konnte.

    „Aus diesem Grunde habe ich vier Personen auserwählt, denen es obliegt als erste Vertreter dieses Bunkers wieder die Oberfläche des Planeten zu betreten und in meinem Namen die Interessen unserer Kolonie zu vertreten. Der Weg nach Straßburg ist weit und lang, aber wir werden die vier Erwählten mit den nötigen, hochentwickeltsten und revolutionärsten Gerätschaften ausstatten. Nun fragen Sie sich sicherlich, warum ich gerade Sie auserwählt habe.“; bemerkte Glückberg und grinste dabei selbstgefällig und zufrieden. Langsam wandte er sich zunächst Marvin zu und blickte ihn kurz über den Rand seiner übergroßen Brille hinweg an.

    „Herr Marvin Brinkmann, Sie habe ich schon lange beobachten lassen und Sie waren meine erste Wahl. Ich hoffe Sie wissen mit dieser Ehre und Verantwortung umzugehen und ich erwarte zudem, dass Sie meinen Erwartungen voll und ganz entsprechen.“, bemerkte Glückberg in feierlichem Ton, doch sein böser und warnender Unterton blieb Marvin nicht verborgen und jagte ihm eiskalte und schreckliche Schauer über den Rücken. Er nickte hastig und atmete tief durch und bemühte sich verkrampft seine Fassung zu wahren und emotionslos zu wirken.

    Glückberg lächelte ihm vieldeutig zu, bevor er nach einer quälend langen Kunstpause endlich fortfuhr.

    „Ich habe Sie auserwählt, weil Sie zum Einen eine sehr athletische Figur haben und zu den stärksten Männern der Kolonie gehören und weil Sie, wie auch ihr Vater, ein kritischer und energischer Mensch sind. Diese Qualitäten werden Ihrer Gruppe und Ihnen selbst draußen in der anarchischen Wildnis das Überleben sichern.“, betonte Glückberg mit einem energischen Nicken und lächelte den Angesprochenen überheblich an, sodass Marvin sofort wieder Zweifel an der Ehrlichkeit dieser Worte kamen.

    Marvin vermutete viel eher, dass der Regierungschef seine Kandidaten aus anderen Gründen auserwählt hatte – er wollte die drei unliebsamen Bürger loswerden und sie ins kalte Wasser werfen. Marvin vermutete, dass Glückberg ihn auf Grund seines Vaters als gefährlich einstufte und eine Entfernung des Sohnes aus der Gesellschaft würde diese Gefahr und auch den Willen und Einfluss des Vaters enorm mindern.

    Marvin warf einen unsicheren Seitenblick auf seine beiden Begleiter, die dem Braten ebenfalls nicht zu trauen schienen. Die junge Dame neben ihm war offensichtlich sehr rebellisch, hitzig und ließ sich von niemandem einschränken und unterwerfen und war somit in dem System der Bunkerregierung ebenfalls ein ständiger Gefahrenherd.

    Was den dürren jungen Mann mit der Brille anging, so vermutete Marvin, dass dieser sehr belesen und intelligent war und die geistigen Fähigkeiten besitzen konnte, um die restliche Bevölkerung gegen die Männer in Schwarz und den Regierungschef aufzuwiegeln.

    In diesen Momenten leuchtete Marvin der hinterhältige Plan seines Gegenübers ein und ihm war bereits klar, dass er alles versuchen würde, um diese als Mission getarnte Verbannung abzulehnen. Er wollte definitiv nicht das Versuchskaninchen für die neue Regierung spielen, egal wie sehr man ihm nun auch zusprach und ihn rühmte. Vielleicht hatte er zwar an der zerstörten Erdoberfläche eine geringfügige Überlebenschance, doch niemand wusste, was ihn erwarten würde und er war nicht bereit sein Leben für das angebliche Wohl der Kolonie zu geben.

    Marvin versteifte sich und blickte dem gestenreichen Sprecher starr entgegen, doch dieser erwartete keinen Kommentar oder Widerspruch, sondern hatte sich bereits an die zweite Person gewandt, die er nun ebenfalls in fast schon großväterlichem Ton ansprach.

    „Sie, Frau Valeria Hagen, habe ich auserwählt, weil sie eine Kämpfernatur sind. Wenn Sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, dann kann nichts und niemand Sie stoppen. Sie sind ein generell misstrauischer und kritischer Zeitgeist und lassen sich nichts vormachen. Solche Leute brauchen wir unbedingt für solch wichtige Missionen wie diese. Auch Sie werden Geschichte schreiben.“, verkündete Glückberg mit fiebrigem Blick und großen Worten und wartete auch hier nicht auf die Reaktion der angesprochenen wilden Schönheit.

    Marvin betrachtete das starre und emotionslose Gesicht seiner Sitznachbarin. Immerhin wusste er schon einmal ihren Namen. Er wiederholte ihn gedanklich einige Male und ertappte sich dabei, dass er ihn schön und wohlklingend fand. Die rassige, aber kalte Dame warf ihm einen vernichtenden Seitenblick aus zusammengekniffenen Augenschlitzen zu und Marvin blickte mit einem leichten Lächeln vor sich auf den edlen Boden, der doch irgendwie trostlos wirkte.

    In diesem Moment hatte sich Adolf-Josef Glückberg auch schon der dritten Person im Bunde zugewandt, die viel nervöser wirkte und unruhig an ihren Fingernägeln kaute. Ihre flache Brust hob und senkte sich unter tiefen und keuchenden Atemstößen.

    „Sie, Herr Justus von Karpfingen, habe ich ausgewählt, weil Sie ein unglaublich fleißiger und intellektueller Mensch sind. Sie sprechen immerhin sieben verschiedene Sprachen und haben mit ihren Eltern in ihrer Jugend ungemein viele Länder besichtigt. Sie werden für die Kommunikation zwischen unserer Bunkerkolonie und den Vertretern der anderen Kolonien verantwortlich sein. Ihre Diplomatie ist in solch einer zerstörten und feindlichen Welt von größerer Bedeutung denn je.“, begründete Glückberg mit schmieriger Stimme und falschem Lächeln auch seine dritte Wahl, während Justus sich hektisch verbeugte, nervös mit den Augen zwinkerte und sich schließlich seine Brille zurechtschob.

    Der kleine, korpulente Mann am Rednerpult war verstummt und ließ die Worte wirken, während er die drei Auserwählten unter ihm kritisch musterte und jede Bewegung von ihnen mit seinen wachen Augen sofort zu registrieren schien.

    Marvin rauschte der Kopf. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, doch er spürte, dass er sich noch unwohler und ängstlicher in seiner Haut fühlte, als noch kurz zuvor, wo er ohne Begründung in den gigantischen Tagungssaal geführt worden war. Er fragte sich mit nagender Nervosität, wer von ihnen nun das drückende Schweigen brechen sollte.

    Marvin hatte fast schon seinen Respekt und seine innere Angst überwunden und sich dazu entschlossen mit festen Worten die Mission dankend abzulehnen, als sich das Regierungsoberhaupt plötzlich wieder selbst laut und unvermittelt zu Wort meldete.

    „Sehr schön! Sie werden sich nun sicherlich fragen, wer auf dem verbliebenen, letzten Stuhl Platz nehmen und an der Mission teilnehmen wird. Aber auch diese Frage wird nun geklärt.“, erläuterte Glückberg selbstgefällig und wedelte wild mit seiner linken Hand, woraufhin sich mit einem mechanischen Surren eine weitere Tür in einem der langen Gänge hinter ihm öffnete.

    In einem diffusen Licht sah Marvin die Konturen eines kleinen, muskulösen Mannes, der kurz verharrte und auf das dumpfe Einrasten der Türflügel wartete, bevor er sich fast provozierend langsam in Bewegung setzte. Jedoch steuerte die Person nicht etwa den letzten Stuhl an, sondern nahm den Weg auf das kleine Podium, wo Glückberg feixend wartete, die langsam herantrottenden Person stürmisch in Empfang nahm, sie auf das Podium zerrte und grob auf ihre Schulter klopfte.

    Marvin betrachtete das unwillig verzogene Gesicht des Neuankömmlings eingehend. Der junge Mann, der wohl etwa in seinem eigenen Alter war, hatte ein rundliches, leicht gerötetes Gesicht und wirkte vom ganzen Körperbau her sehr grob und kräftig. Seine dunklen Augen wirkten kalt und abschätzig, wie auch seine ganze Körperhaltung. Sein Haar war kurz und zackig geschnitten und wirkte ebenso überkorrekt hergerichtet wie der schwarze Anzug, den er trug. Damit stand er im ziemlichen Gegensatz zu dem Erscheinungsbild der anderen drei Missionsmitglieder, die den Umständen entsprechend relativ ungepflegt wirkten und ältere Kleidungsstücke tragen mussten.

    Marvin hatte sofort einen Verdacht, als er diese Person vor sich sah und dieser bestätigte sich auch schon, als Adolf-Josef Glückberg den vierten Teilnehmer mit stolzgeschwellter Brust vorstellte.

    „Dies, meine Damen und Herren, ist mein jüngster Sohn, Nikolas Friedrich Ephraim Glückberg. Er ist der älteste Teilnehmer von euch und wird diese Mission leiten und anführen. Er verfügt über alle nötigen Pläne und ist bereits im Voraus für diese Mission geschult worden. Ich rate Ihnen dazu mit ihm zu kooperieren und seinen Anweisungen nicht zu widersprechen, denn er wird ständigen Kontakt mit unserem Bunker halten und als meine rechte Hand fungieren. Wer also die Leichtfertigkeit wagen sollte die Mission zu boykottieren oder sich unerlaubt abzusetzen, kommt automatisch auf die Abschussliste und wird zum Staatsfeind Nummer eins deklariert. Haben wir uns da verstanden?“, fragte Glückberg mit bebender Stimme und drohendem Unterton.

    Marvin reagierte ebenso wenig wie Valeria, aber Justus nickte stumm und devot, sodass der Sprecher eine zufriedene Miene machte. Glückberg wollte gerade seine Erläuterungen fortführen, als Valeria plötzlich blitzschnell von ihrem Stuhl sprang, sodass die Männer in Schwarz erschrocken und geschäftig zu ihr eilten und ihre Arme packten. Davon ließ die wilde Schönheit sich aber nicht einschüchtern, sondern richtete ihre Worte direkt gegen das verduzte Regierungsüberhaupt, das sich allerdings nur kurz überrascht zeigte und danach wieder mitleidig und überheblich lächelte.

    „Was passiert, wenn wir diese Mission ablehnen? Ich habe nicht vor meinen Kopf für Ihren pseudodiplomatischen Schachzüge hinhalten zu müssen!“, begehrte Valeria auf und bekam von einem der Männer in Schwarz einen groben Tritt in die Kniekehle, sodass die junge Dame fluchend in die Knie ging und das Gesicht vor Schmerz verzog, ohne dass jedoch ein Laut der Klage über ihre Lippen drang.

    „Eine Ablehnung dieser Mission würde ich Ihnen gewiss nicht ans Herz legen. Sagen wir es einmal so: In Folge gewisser Entscheidungen könnten wir für die Sicherheit gewisser Mitglieder Ihres Freundes- oder Familienkreises nicht mehr garantieren.“, gab Glückberg mit kalter und triumphierender Stimme zurück.

    „Das kann doch nicht sein! Sie bluffen!“, meldete sich plötzlich auch Justus nervös stotternd zu Wort, doch Marvin wusste direkt mit untrüglicher Sicherheit, dass Glückberg sie nicht angelogen hatte und zu jedem Schritt bereit wäre, um seine Ziele durchzusetzen.

    Höhnisch wandte der Regierungschef sich auch prompt zu Justus um und wies theatralisch auf die übergroße Leinwand in seinem Rücken.

    „Sie glauben mir nicht? Dann erfreut es mich sehr Sie vom Gegenteil zu überzeugen, bitte schön!“, höhnte Glückberg und wie auf ein unsichtbares Signal wurde das künstliche Licht im Saal plötzlich gedämmt und drei hochkant gestellte Videoaufnahmen wurden auf die Leinwand projiziert.

    Marvin zuckte zusammen, als er realisierte, was ihm dort gezeigt wurde. Die drei Aufnahmen wurden vermutlich von Überwachungskameras gedreht und zeigten drei verschiedene enge und dreckige Zellen, die allesamt einen Insassen hatten.

    Ganz rechts erkante Marvin einen hageren, hochgewachsenen Mann mit Brille, den er als einen der Bibliothekare identifizierte. Er konnte sich grob daran erinnern, dass dies der Onkel von Justus war, der dort verloren und ängstlich in einer Ecke hockte und sich nervös umblickte. Die Aufnahmen in der Mitte der Leinwand zeigten eine knapp bekleidete und durchaus attraktive Frau, die mit aller Wucht gegen die Zellentür schlug und offensichtlich ihre Wut aus sich herausschrie. Marvin brauchte nicht lange, um die offenkundigen Ähnlichkeiten mit Valeria Hagen zu identifizieren.

    Am meisten erschreckte Marvin aber die Aufnahme auf der linken Seite der Leinwand. Dort hockte regungslos und mit geschlossenen Augen eine hochgewachsene Person auf dem Boden, die er nur zu gut kannte. Der leicht ergraute Bart, die langen, grauen Haare und die kräftige Statur waren ihm nur allzu vertraut. Der Gefangene dort war sein eigener Vater!

     

                                                                            *

     

    Die Männer in Schwarz hatten Valeria, Justus und Marvin grob und erbarmungslos in einen der langen, dunklen Gänge geführt, während Adolf-Josef Glückberg und sein Sohn den Abschluss der Gruppe bildeten und zuletzt in den Gang getreten waren. Das böse, triumphierende Lächeln wirkte wie in das Gesicht des erbarmungslosen Regierungsoberhauptes gemeißelt.

    Marvin beobachtete die Reaktionen seiner Schicksalsgefährten. Er selbst fühlte sich leer und von stiller Wut gepackt, während Justus seine Tränen nicht hatte zurückhalten können und müde und gebeugt mit flachen Schritten über den Boden schlurfte und mehr als einmal einen groben Stoß der Männer in Schwarz in den Rücken bekam.

    Valeria reagierte jedoch völlig anders. Zu viert hatte man sie gepackt und stieß sie ruckartig vorwärts, während die kämpferische Dame immer wieder versuchte sich aus den Umklammerungen zu lösen und wild um sich trat und schlug. Abgesehen von einem weitaus langsameren Bewegungsablauf erzielte sie damit jedoch überhaupt kein Ergebnis, denn die Männer in Schwarz steckten die Schläge und Tritte wortlos ein und ließen niemals locker.

    „Ihr dreckigen Bastarde! Ich schwöre euch bei Gott, dass ich eines Tages Mittel und Wege finden werde, um mich für diese Schmach zu rächen. Irgendwann wird meine Stunde kommen, das könnt ihr mir glauben, ihr hirnlosen Maschinen! Zu viert müsst ihr mich bändigen. Memmen seid ihr, keine Männer mehr!“, schrie sie vor Wut und Speichel sprühte von ihren Lippen.

    Inzwischen waren Marvin und seine Begleiter an ein solides, metallisches Tor gekommen, dass durch einen Zahlencode gesichert war, den man in einem kleinen Computer in der Wand eingeben musste. Zusätzlich musste einer der Männer in Schwarz sich durch einen Retinascanner prüfen lassen und dann mussten sie zu zweit zeitgleich jeweils einen Knopf an der linken und an der rechten Seite der Tür drücken, bevor der Zugang mit einem zischenden Geräusch aufsprang und die Türhälften in die Wände glitten und fast spurlos verschwanden.

    Marvin und seine Leidgenossen kamen in einen langen Gang, der von allen Seiten mit Spiegeln umgeben war und in dem es irgendwie klinisch roch. Marvin packte ein leichtes Schwindelgefühl, als er seine vielen Spiegelbilder sah, die sich alle gleichzeitig anders zu bewegen schienen und er schloss verkrampft die Augen, während er einen derben Stoß in den Rücken bekam.

    Hinter ihm folgten seine beiden Mitstreiter, sowie das Regierungsoberhaupt und sein Sohn,. Hinter ihnen schloss sich der Durchgang wieder automatisch. Vermutlich wurde hier mit Kameras gearbeitet. Marvin hatte sich schon immer gefragt, wo in dem großen Bunkernetz sich die gigantische Überwachungszentrale befinden könnte.

    Wo aber wurde er selbst nun hingeführt? Was hatte man mit ihnen vor? Wollte man sie jetzt auch einsperren oder führte man sie bereits zu einer Schleuse, um sie ungeschützt auf die Erdoberfläche zu drängen?

    Die Antwort auf seine Fragen lag hinter einem scharfen Linksknick des Ganges, wo endlich auch keine Spiegel mehr vorhanden waren. Hier befand sich nur noch ein durchsichtiger Durchgang aus Plexiglas, den zwei Männer in Schwarz öffnen mussten, indem sie zeitgleich jeweils einen längeren Zahlencode in zwei kleine Computer eingeben mussten. Surrend schwang der Durchgang auf und Marvin erkannte jetzt detaillierter, was er zuvor schon erahnt hatte.

    Er befand sich offensichtlich im Forschungszentrum der Bunkerkolonie!

    Mit großem Erstaunen blickte sich Marvin in diesem riesigen Komplex um. Der Raum war rund und besaß gut und gerne einen Durchmesser von zehn Metern. An jedem neunzigsten Grad befand sich ein abzweigender Gang, der dem, aus dem er gerade selbst kam, aufs Haar glich. Viel erstaunlicher war aber die Höhe der Forschungszentrum, das sich ringartig über drei Etagen verteilte und gut und gerne fünfzehn Meter hoch war, bevor es durch eine milchige Kuppel begrenzt wurde.

    In der Mitte des Raumes, wo sich einige Tische voller Gefäße, Handschuhe und technischer Apparaturen befanden, liefen einige Männer mit weißen Kitteln und Schutzbrillen geschäftig umher. Einer von ihnen hatte eine Liste unter seinen Arm geklemmt und bemerkte die Ankömmlinge zuerst. Im schnellen Stechschritt bewegte er sich auf sie zu.

    Marvin beobachtete auch diesen Mann genauer. Er war hoch gewachsen, hatte ein hartes, knochiges Gesicht und starre, grüne Augen. Er war ordentlich rasiert, hatte sehr kurz geschnittenes Haar und trug eine eckige Schutzbrille, die er mit einer heftigen Bewegung abnahm.

    Marvin, Valeria und Justus beachtete er überhaupt nicht, sondern schritt wortlos an ihnen vorbei, um das Regierungsüberhaupt mit einem herzhaften, aber kurzen Händedruck zu begrüßen. Dabei präsentierte der Mann sich nicht unterwürfig und verlor auch keine Zeit mit irgendwelchen Formalitäten.

    Stattdessen wandte er sich steif um und wies knapp auf Marvin und seine Begleiter.

    „Das sind die Auserwählten von denen Sie gesprochen haben?“, fragte er knapp und musterte die Angesprochenen dabei überaus abschätzig.

    „In der Tat, Herr Doktor Liebrecht. Zeigen Sie den Herrschaften doch bitte sehr, was Sie an Ausrüstungsmaterialien für Sie bereit gestellt haben.“, forderte Glückberg sein Gegenüber auf und gab seinen Worten einen übertrieben feierlichen Klang.

    „Hoffentlich sind diese Halbwüchsigen die ganze Arbeit wert gewesen.“, knurrte Doktor Liebrecht und drehte sich zackig um. Mit einer herrischen Handbewegung forderte er die hinter ihm stehenden Personen auf ihm zu folgen.

    Einer der Männer in Schwarz verpasste Marvin einen kräftigen Stoß in den Rücken, um die grobe Aufforderung des Doktors zu unterstreichen. Mit zusammengekniffenen Lippen und zornesrotem Gesicht setzte sich Marvin notgedrungen in Bewegung. Er wusste längst, dass jeder Widerstand zwecklos war. Dies schien sogar Valeria mittlerweile eingesehen zu haben, denn sie verhielt sich mittlerweile ruhig, auch wenn in ihrem Gesicht mehr als deutlich geschrieben stand, wie sehr sie sich gegen die aktuellen Vorgänge sträubte. Justus hingegen trottete niedergeschlagen vorneweg.

    Der Doktor führte die Anwesenden hinter eine aufklappbare Trennwand zur linken Seite des Raumes, wo sich ein großer Spind befand. Darin befanden sich vier weiße, klinisch saubere Ganzkörperanzüge mit schwarzen Atemmasken und kleinen Helmen. Daneben standen auf einer kleineren Ablage mehrere Sauerstoffflaschen. Marvin erinnerte die Ausrüstung am ehesten noch an die Ausstattung von Astronauten.

    Abrupt blieb der Doktor stehen und erläuterte in knappen und hart gesprochenen Sätzen die Funktion der Anzüge.

    „Diese Anzüge haben wir innerhalb der letzten sechs Monate minutiös für die bevorstehende Mission entwickelt. Sie sind gegen äußere Einwirkungen resistent, enorm belastungsfähig und stabil. Sie dienen dazu ihre Träger vor den widrigen klimatischen Umständen auf der Erdoberfläche effizient zu schützen, solange man pfleglich mit ihnen umgeht. Die Sauerstoffflaschen wirken zwar nicht sehr groß, doch mit ihnen kann man bei guter Dosierung über drei bis vier Wochen hinweg mit frischer und klarer Luft versorgt werden, da die verstrahlte und verseuchte Luft auf der Erdoberfläche jedem erhebliche Schäden zufügen würde. Über die Mikrofone in den Helmen kann man durch einen einfachen Stimmbefehl mit den anderen Trägern und der Bunkerzentrale kommunizieren. Gehen Sie sorgsam damit um. Wenn Sie diese wunderbaren Anzüge fahrlässig beschädigen würden, könnte dies ernsthafte Konsequenzen haben.“, betonte Doktor Liebrecht und blickte schon jetzt grimmig auf die drei Auserwählten wider Willen, so als ob sie bereits eine solche Schandtat begangen hätten. Lediglich dem privilegierten Sohn des Regierungschefs nickte er streng, aber wohlgesonnen zu.

    „Sehr schön. Was haben Sie sonst noch für uns?“, fragte Glückberg senior mit süffisantem Lächeln und geheucheltem Interesse.

    Der Doktor warf ihm einen leicht grimmigen Blick zu, da er den ironischen Unterton bemerkt hatte, doch er wandte sich stumm um. Er bewegte sich auf einen langen Tisch zu, der quer an der Seite stand. Darauf befanden sich vier übergroße Rucksäcke, von denen er einen demonstrativ ergriff.

    „Hier befindet sich die Ausrüstung für den Außeneinsatz. Jeder bekommt einen Kanister mit fünfzehn Litern Wasser. Das wird natürlich viel wiegen, doch wir gehen davon aus, dass die Flüsse und Bäche dort draußen verstrahlt sind und es sehr ungesund wäre das Wasser von dort zu nehmen. Auch Regenwasser ist mit Vorsicht zu genießen, denn es hat sich eine gigantische, kreisförmige Wolke aus Staubpartikeln und Abgasen um unsere Ozonschicht gelegt und jedes Mal, wenn es regnet, enthält das Wasser Teile dieser giftigen Stoffe. Sie sollten daher äußerst sparsam und vorsichtig mit den Ressourcen umgehen.“, bemerkte der Doktor mit ernster und grimmiger Miene.

    „Es wird Ihnen also gar nichts Anderes übrig bleiben, als so schnell wie möglich den Kontakt mit anderen Bunkerkolonien und vor allem der europäischen Kolonie in Straßburg zu suchen. Sollten Sie sich absetzen oder fliehen wollen, so werden Sie mit den Vorräten vermutlich nicht weit kommen und einen qualvollen Tod sterben. Das wollen Sie sich und uns doch sicherlich ersparen, nicht wahr?“, fragte das Regierungsüberhaupt mit gespielter Freundlichkeit und gab seiner Stimme einen herabwürdigenden Klang, so als ob er mit kleinen, dummen Kindern reden würde. Um diese Provokation noch zu unterstreichen näherte er sich Valeria und tätschelte väterlich ihre Wange. Die junge Deutsche verzog angewidert ihr Gesicht und wich rasch mit einigen schnellen Schritten zur Seite.

    Auch Marvin ballte bevor Wut die Hände zu Fäusten und seine Wut auf den Regierungschef wuchs von Sekunde zu Sekunde. Wie hatte es ein solch misanthropischer und arroganter Mensch bloß ganz allein an die Spitze der Bunkerkolonie geschafft?

    Marvin erinnerte sich dunkel daran, dass die Kanzlerin es damals zur Zeit der großen Katastrophen nicht mehr rechtzeitig in den Bunker geschafft hatte, da sie vorher auf Staatsbesuch gewesen war. Der Bundespräsident hatte hingegen die Bedrohung bis zum Ende unterschätzt und am Ende den Freitod gewählt, da er die Welt so in Erinnerung behalten wollte, wie sie zu seinen Lebzeiten und vor der Apokalypse gewesen war. Somit waren nur relativ wenige ranghohe Politiker in die Bunkerkolonie gekommen. In den ersten Monaten hatte der stellvertretende Bundeskanzler die Rolle des Regierungsoberhauptes übernommen, doch hatte er dem Druck der Veränderung und dem ergebnislosen Ausharren unter der Erde nach anfänglichem kämpferischen Optimismus nicht mehr Stand halten können und sich nach vier Regierungsmonaten umgebracht. Danach war um die Spitze der Macht ein interner Kampf ausgebrochen und niemand wusste so genau, wie Glückberg es letztendlich bis ganz nach oben geschafft hatte, doch er hatte den internen Zwist für sich entscheiden können und politische Gegner mundtot gemacht. Niemand hatte ihn zuvor gekannt und es war nicht einmal bekannt, ob er vorher festes Mitglied in irgendeiner deutschen Partei gewesen war. Er hatte die Bevölkerung mit zwielichtigen, optimistischen Parolen animiert und mit unrealisierbaren Projekten verblendet, während er intern deutlich härter agiert hatte. Nach einigen Monaten war seine Macht gefestigt und bis heute hatte er sie sich nicht mehr nehmen lassen.

    Marvin atmete tief durch und fragte sich bange, ob solch ein grausames Schicksal sich in allen anderen Bunkerkolonien auch so oder ähnlich abgespielt haben könnte. Gab es für ihre Mission überhaupt noch Hoffnung? Würde sie in Straßburg derselbe Horror und dieselbe Perspektivlosigkeit erwarten? Marvin ertappte sich überrascht dabei, dass er sich mit der Mission doch langsam anfreunden konnte. Alles war für ihn besser, als weiterhin ängstlich und unterdrückt unter der Erde zu hausen. Die Menschen hatten auch nach der Katastrophe scheinbar nichts aus ihrer Machtgier und ihrem Größenwahn gelernt und Menschen wie Adolf-Josef Glückberg schienen sogar aufzuzeigen, dass es noch schlimmer werden konnte als zuvor. Marvin schwor sich verbissen, dass er alles versuchen würde, um die Menschen aus diesem Bunker eines Tages von ihrer Schmach zu befreien. Er malte sich bereits gedanklich die blutigsten Szenarien aus, in denen vor allem der widerwärtige Glückberg eine nicht unbeträchtliche Rolle spielte und erschrak vor seiner eigenen Courage und Skrupellosigkeit. Sollte er nicht gerade mit einem besseren Beispiel vorangehen und sich für den Frieden stark machen? Waren demokratische Werte jetzt nicht sogar mehr denn je von Nöten?

    Marvin dachte angestrengt nach, auch wenn sich dies kaum auf seinem Gesicht widerspiegelte und er der Gruppe weiterhin automatisch hinterher trottete. Er hatte es in den Jahren der Isolation gelernt seine Emotionen zu bändigen und nach außen hin völlig kalt und unnahbar zu wirken, doch in seinem Inneren sah es anders aus und seine ureigene Leidenschaft und sein gewaltiger Lebenswille ließen sich von nichts und niemandem kontrollieren. Marvin war auf beides gleichermaßen stolz.

    Er hörte den weiteren Ausführungen des Doktors nur halbherzig zu, doch seine Augen nahmen dafür die ihm präsentierten Gegenstände auf und speicherten sie präzise in seinem Gehirn ab. Marvin gefiel diese Rolle als stiller und aufmerksamer Beobachter, denn so konnte er sich von dem Gerede des Regierungschefs oder den unfreundlichen Seitenhieben des Doktors ein wenig erholen.

    „Wenn ich nun weiter machen dürfte, wäre ich Ihnen sehr verbunden.“, brummte Doktor Liebrecht gerade ungeduldig und wartete gar keine Antwort mehr ab, sondern förderte jetzt ein kleines, schwarzes Gerät mit flachem Display aus einem der Rucksäcke zu Tage.

    „Sie haben unsere vollste Aufmerksamkeit.“, flötete Glückberg fröhlich und warf Valeria einen unverschämten Blick zu.

    „Dieses Gerät ist ein hochfunktioneller Computer mit einem Akku, der über Jahre hinweg hält und sich durch Solarenergie problemlos wieder auflädt, ohne dass man ihn dafür aus dem Gehäuse entfernen muss. Hierin befindet sich beispielsweise ein GPS-System, das sich immer wieder erneuert und ihnen unterwegs sehr hilfreich sein wird. Sie können damit aber auch Texte aufzeichnen, die sie sich dann in Sekundenschnelle in eine beliebige Sprache übersetzen lassen. Ebenso können Sie per Mikrofon auf das Gerät sprechen und ein Computer wird in Sekundenschnelle ihre Worte in eine andere Sprache transferieren und den Text sogar mit Ihrer eigenen Stimme wiedergeben können. Zudem können Sie in der Suchfunktion jederzeit einen Begriff ins Mikrofon sprechen und der Computer wird Ihnen die wichtigsten Informationen dazu in Sekundenschnelle heraussuchen. Das sind die wichtigsten Funktionen, alles Andere können sie auf der systemintegrierten und interaktiven Bedienungsanleitung nachvollziehen.“, erläuterte Doktor Liebrecht und zum ersten Mal sah man in seinem harten Gesicht so etwas wie ein stolzes oder zufriedenes Lächeln.

    „Außerdem wurden auf dem Speicherchip des Gerätes wichtige Dokumente abgespeichert, die Sie in meinem Auftrag und im Namen unserer gesamten glorreichen unserer Kolonie, den Korrespondenten und Kollegen in Straßburg überspielen sollen.“, warf Glückberg noch schnell und mit mahnendem Zeigefinger ein.

    Doktor Liebrecht hatte inzwischen bereits ein weiteres Mal in einen der Rucksäcke gegriffen und förderte eine zylinderförmige Box zutage, die er mit einem einfachen Drehmechanismus öffnete. Das Innenleben bestand aus mehreren feinen Sensoren und kleinere Lampen und Drähten und sah ein wenig kompliziert aus.

    „Des weiteren finden Sie in ihrem Rucksack auch dieses nützliche Gerät. Wenn Sie einen Ihnen unbekannten Gegenstand finden, beispielsweise eine unbekannte Pflanzenart, eine Frucht oder irgendwelche Steine oder auch kleinere Tiere, dann können Sie diese Gegenstände hiermit durchleuchten und mehr über sie erfahren. So finden Sie beispielsweise heraus, ob eine Frucht giftig ist oder nicht oder ob eine bestimmte Flüssigkeit verseucht oder trinkbar ist. Gehen Sie davon aus, dass sich die Vegetation auf der Erdoberfläche innerhalb der letzten neun Jahre rasant verändert hat und Sie auf viele unbekannte Dinge stoßen werden.“, lehrte der Doktor sie und warf danach einen weiteren Blick in den Rucksack.

    „Sie sehen, meine Damen und Herren, dass unsere Bunkerkolonie in jeder Hinsicht fortschrittlich und den Herausforderungen der Zukunft gewappnet ist.“, warf Glückberg rühmend ein.

    Valeria verdrehte die Augen und konnte sich inzwischen wieder nur mit großer Mühe beherrschen. Justus hatte sich inzwischen jedoch ein wenig von seinen inneren Qualen und seiner devoten Niedergeschlagenheit erholt und nahm die Informationen des Doktors wohl als Einziger wissbegierig auf und musterte die angesprochenen Gegenstände sogar eingehend. Marvin fiel jedoch auf, dass die vierte Person im Bunde, Nikolas Friedrich Ephraim Glückberg, ein wenig abseits der gesamten Gruppe stand und weder sonderlich an den Erläuterungen des Doktors, noch an den überspitzten Parolen seines Vaters interessiert zu sein schien. Irgendwann bemerkte letzterer dies und winkte seinen Sohn mit herrischen Bewegungen näher an die Gruppe heran und flüsterte ihm mit strengem Blick irgendetwas harsch ins Ohr. Sein Sohn blickte seltsam ausdruckslos zu Boden und ließ den Sermon über sich ergehen. Nach einer Weile aber blickte er auf seine drei Mitstreiter und schien sich besonders für die einzige weibliche Begleiterin zu interessieren. Marvin spürte ein dumpfes Stechen in seiner Brust, als er den gierigen Blick des arroganten Jünglings bemerkte, als dieser die schöne Wilde mit seinen Blicken förmlich auszog. Sein Vater schien dies jedoch nicht zu merken und knuffte seinem Sohn gerade ungeduldig in die Seite, bevor er sich wieder steif dem nun ebenfalls ungeduldig blickenden Doktor zuwandte.

    In diesem Moment begegnete Marvin dem Blick des vierten Missionsmitgliedes. Aus dem Blick seines Gegenübers sprach Verachtung und Hohn und Nikolas nickte gar in Richtung der begehrenswerten Valeria. Hatte er Marvin, der sich sonst so sehr unter Kontrolle hatte, etwa auf Anhieb durchschaut?

    Marvin fühlte sich noch gereizter und blickte mit feuerrotem Kopf angestrengt zu Boden, um nicht das wissende Lächeln seines Gegenübers ertragen zu müssen. Er fragte sich voll grimmiger Wut, wie Nikolas und er überhaupt einen einzigen Tag gemeinsam überstehen sollten, ohne sich gegenseitig bis aufs Blut zu bekämpfen. Marvin hatte eine sehr gute Menschenkenntnis und noch nie war ihm ein Mensch so unsympathisch erschienen wie dieser Nikolas. Sogar den respektlose und kalten Vater fand er noch erträglicher, da er durch seine ausufernde Reden und seine übertriebene Gestik wenigstens noch etwas Menschliches an sich hatte, während sein Sohn immerfort stumm und grausam wirkte.

    Die Stimme des Doktors riss ihn gnädigerweise aus seinen düstren bis depressiven Gedanken und er konnte seinen Blick erleichtert auf etwas Neues fokussieren.

    „Außerdem finden Sie Ihnen bekannte Gegenstände in diesem Rucksack. Ein sehr kleines, aufklappbares Zelt ist dort ebenso vorahnden wie ein Schweizer Taschenmesser mit einigen zusätzlich Funktionen, sowie einige Packungen Trockenobst und gepökeltes Fleisch, sowie ein wenig Brot, was Sie für die ersten Tage ernähren sollte. Ich möchte Ihnen nun aber noch zwei andere, wichtige Ausrüstungsgegenstände präsentieren, wenn Sie mir folgen würden.“, griff der geschäftige Doktor den Faden wieder auf und wirbelte auch gleich geschwind herum, wobei er beinahe mit einen Laborassistenten kollidiert wäre, der gedankenverloren aus einem der langen Gänge getreten war und eine trübe Flüssigkeit in einem Erlenmeyerkolben nachdenklich betrachtete. Erschrocken fuhr der Assistent zusammen und konnte das Gefäß so gerade noch festhalten. Doktor Liebrecht warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

    In dem Moment bemerkte der Assistent auch Adolf-Josef Glückberg und verbeugte sich stammelnd vor ihm, was dieser geflissentlich übersah und stattdessen versuchte mit dem schnellen Doktor Schritt zu halten. Verdutzt starrte der Assistent der Gruppe hinterher, bevor er zu einem hermetisch abgeriegelten Lüftungsschacht an der linken Wandseite ging.

    Doktor Liebrecht hatte inzwischen einen Glastisch erreicht, auf dem in kleinen Schatullen vier Armbanduhren in den Farben der alten deutschen Flagge lagen. Liebrecht ergriff eine der Schatullen und hielt sie demonstrativ hoch.

    „Diese Armbanduhren dienen nicht nur dazu Ihnen die Uhrzeit oder das Datum anzuzeigen, sondern Sie können noch einiges mehr. Sie können Temperatur und Luftfeuchtigkeit messen, können kurze Wetterprognosen geben, indem sie die Luftveränderungen messen und analysieren, sie besitzen ebenfalls eine kleine, aber äußerst präzise und effizient eingebaute Miniaturtaschenlampe, mit der sie sogar infrarote bis zu ultraviolette Lichtsignale senden können. Sie können damit sogar Schallwellen aussenden, falls Sie beispielsweise von Tieren wie Fledermäusen angegriffen werden sollten.“, berichtete Doktor Liebrecht knapp und legte die Schatulle wieder vorsichtig an ihren angestammten Platz.

    Marvin ließ sich trotz der eindrucksvollen technischen Errungenschaften, die ihnen hier präsentiert wurden, nicht auf den falschen Pfad führen. Er wusste ganz genau, dass in einer unzivilisierten, feindlichen Welt nur der pure Überlebenskampf zählen würde. Selbst mit den modernsten Gerätschaften konnte man aus einem Feigling keinen Mann machen. Marvin blickte verlegen auf Valeria, die grimmig ins Leere starrte und musste seine Aussage gedanklich revidieren. Diese energische junge Frau hatte vermutlich mehr Kraft und Willensstärke als der Großteil der Männer, die Marvin im Laufe der letzten Jahre unter Tage kennen gelernt hatte. Ihr Wille, ihr Freiheitsdrang und ihr rebellischer Charakter waren den meisten Menschen abhanden gekommen, denn sie waren von dem neuen Regime desillusioniert, obwohl es für sie keine Alternativen gab. Viele sagten gar, dass ein Leben ohne Rechte unter der aktuellen Regierung besser sei, als pure Anarchie. Viele gaben sich schon damit zufrieden, dass sie einigermaßen gesund und halbwegs versorgt waren. Mental waren viele angeschlagen, aber immerhin waren die meisten gut bei Kräften. Doch Marvin fragte sich grimmig, ob es nicht besser wäre krank und arm, aber wenigstens in Freiheit zu leben und notfalls zu sterben. Doch in seinem Kopf war da eine pessimistische Stimme, dass diese Epoche nicht die Zeit der Helden war. Helden hatte es ohnehin nie gegeben. Die Menschen hatten es sich nur über die Jahre hinweg vorgegaukelt, um sich ein schönes, aber irreales Weltbild zu erstellen, damit sie nicht völlig ohne Hoffnung waren. Die von den Menschen selbst verursachten großen Katastrophen, von denen das apokalyptische Jahr 2012 nur die Spitze des Eisbergs gewesen war, hatten gezeigt, dass es keine Helden gab, die sie gerettet hatten oder heute noch retten könnten, denn alle Chancen waren verspielt. Die sogenannten Helden waren bestenfalls Menschen gewesen, die auch nur aus eigenem Antrieb gegen Menschen gekämpft hatten, die noch schlimmer gewesen waren als sie selbst.

    Selbst das aktuelle Regime der Bunkerkolonie Berlin sah sich gerne als Heldenstaat an, um mit propagandistischen Mitteln die Leute irgendwie bei Laune zu halten und einen kleinen Staat aus Lug und Trug zu kreieren. Aber war diese Illusion vielleicht nicht doch besser, als die bittere und hoffnungslose Wahrheit? Würde das wirklich jeder verkraften können?

    Marvin fühlte sich plötzlich seltsam gespalten, doch aus seinem misanthropischen Pessimismus erwachte mit einem Mal ein flammender Überlebenswillen, seine ureigene Stimme, die gegen alles in ihm selbst anschrie und Veränderung forderte. Mit einem Mal wirkte Marvin wie elektrisiert und schien aus einem tagelangen Schlaf zu erwachen. Mit einem Mal sah er die Realität deutlich wie selten zuvor vor seinen Augen.

    Er würde die Bunkerkolonie verlassen. Er würde die Erdoberfläche neu erkunden. Wenn jemand eine Chance zur Veränderung und Aufklärung hatte, dann waren es er und seine drei Begleiter. Mit einem Mal dachte Marvin an seinen Vater, dem schweigsamen, zurückgezogen lebenden Pessimisten. Aus einem einst starken und lauten Mann war ein selbstmitleidiger Greis geworden. So wollte Marvin selbst niemals enden! Und er stand in der Schuld aller Menschen, dass er vielleicht die Macht hatte ihre düstere Zukunft umzugestalten.

    Und in all diese Gedanken mischte sich noch ein anderer Aspekt klammheimlich ein, der Marvin zutiefst berührte und ihn erschaudern ließ. Er dachte an Ayla dos Santos, die schöne Brasilianerin mit den haselnussbraunen Augen, dem feinen, seidigen, schwarzen Haar, dem zierlichen, aber durchaus femininen Körper. Er sah ihr sanftes Lächeln, ihre zarten, feingliedrigen Hände förmlich vor sich und schloss die Augen. Für einen Moment gab er sich der überwältigende Illusion hin, dass diese Schönheit vor ihm stand, ihr Gesicht sanft dem seinen näherte und ihm sinnige Worte in die Ohren flüsterte.

    Er hatte lange nicht mehr an sie gedacht, aber sie dennoch nie vergessen. Weit über neun Jahre lang war Marvin enthaltsam gewesen, war seelisch vereinsamt und hatte keinerlei körperliche Nähe empfangen können. Er wunderte sich, dass er gerade jetzt an die Brasilianerin dachte. Konnte er eine Person nach so langer Zeit überhaupt noch lieben? War diese Person überhaupt noch real oder war sie in seiner Phantasiewelt zu einer idealisierten Traumgestalt ohne Seele geworden? Konnte eine Jugendliebe nach neun Jahren Trennungsschmerz überhaupt noch bestehen? Wie würde sie heute aussehen? Wäre sie ihm über all die Jahre auch treu geblieben? Was mochte aus ihr wohl geworden sein?

    Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte Marvin so etwas wie Optimismus, leicht aufkeimende Hoffnung, ein Gefühl der unbändigen Sehnsucht, ja sogar noch mehr als nur das. Er fühlte, dass er lebte, er spürte wieder, dass er überhaupt menschlich war.

    Diese Gewissheit ließ ihn erzittern, ließ ihm die Tränen in die Augen steigen, die er mühsam unterdrücke musste. Er hob seine Hände an, näherte sie seinem Gesicht, berührte sich selbst, als ob seine Seele in einem völlig fremden Körper gefangen sei, den er noch nie bewusst wahrgenommen hatte. Es war ein großes Erwachen der Gefühle für ihn.

    Und mitten in diese schöne Illusion hinein kam der schmerzende Realismus, der ihn wie ein Giftpfeil traf. Ein Pfeil, hinterhältig abgeschossen, der seine mühsam aufgebaute Deckung auf einen Schlag wieder zerbrach und ihn angreifbar und verletzlich machte. Ein stechender Schmerz wühlte in seiner Brust. Seine wirren Gedanken überschlugen sich rasend. Er wollte den Gedanken, die Angst verdrängen, doch es war zu spät. Der Giftpfeil hatte ihn einmal getroffen und selbst wenn er ihn aus seiner Wunde herausriss und entzweibrach, so würde das Gift doch in seinem Körper bleiben. Und so schwirrte in seinem Kopf die quälende Frage, ob Ayla dos Santos überhaupt noch am Leben sein könnte. Und die Antwort wusste er ebenfalls und konnte sie kaum verdrängen. Er wusste, dass so ziemlich alles dagegen sprach.

    Die Freudentränen in seinen Augen wurden zu bitteren, ernüchterten Tränen und er versuchte das zitternde Schluchzen, das krampfhafte konvulsivische Zucken seines Körpers zu unterdrücken. Und durch diese bewusste Kontrollmaßnahme, nahm er auch seine Umgebung wieder war und plötzlich brach er unter all den Eindrücken und Einflüssen zusammen. Der starke Mann hatte Schwäche gezeigt. Der Schwindel ergriff ihn und hüllte ihn in mysteriöse Schwärze, aus der er sich aber rasch herauskämpfte und mit verdrehten Gefühlen wie aus einem dunklen See wieder zurück in die Realität auftauchte.

    Wie durch einen Schleier hindurch sah er plötzlich wieder die klaren Gesichter vor sich, die sich weniger besorgt, als ungeduldig um ihn gruppierten und auf ihn herabblickten. Er erkannte den Regierungschef Glückberg, der ihn falsch anlächelte und penetrant mit seinen Wurstfingern vor den Augen des zu Boden gegangenen Mannes herumwedelte.

    „Ist alles in Ordnung bei Ihnen, Herr Marvin Brinkmann?“, fragte er mit gespielter Besorgnis und wartete erst gar keine Antwort ab, sondern gab den Männern in Schwarz durch ein einfaches Klatschen seiner fettigen Hände ein Zeichen.

    Abrupt griffen sie Marvin unter die Arme, zerrten ihn auf die Beine und ein Gefühl des rasenden Schwindels überfiel den jungen Mann. Immerhin konnte er das Gefühl der Übelkeit, das kurz in ihm aufwallte, gerade noch unterdrücken und atmete mit offenem Mund, während der Schweiß klebrig über sein Gesicht perlte. Krampfhaft schloss er seine zuckenden Augenlider, während die Männer in Schwarz ihn weiterhin grob festhielten, aber ihm so wenigstens auf den zittrigen Beinen hielten.

    Marvin war ein junger, durchtrainierter Typ und konnte sich, nachdem sich der Nebel um seinen Geist verflüchtigt hatte, rasch von dem Schwächeanfall erholen, löste sich aus der Umklammerung der Männer in Schwarz und öffnete langsam und in gebückter, krampfhafter Körperhaltung die Augen. Das dumpfe Nachzittern des Schwindels verschwand schon nach wenigen Sekunden. Marvin atmete tief und gequält durch.

    Vor sich sah er noch leicht verschwommen den unruhig und distanziert wirkenden Doktor, den abfällig grinsenden Sohn Glückbergs, den ängstlich dreinschauenden Justus, der aber wohl mehr Angst hatte, dass es ihm bald ähnlich ergehen könnte, sowie Valeria, die ihn starr und emotionslos anstarrte. Marvin ballte die Hände zu Fäusten, als er realisieret, dass er von all diesen Leuten keinerlei Mitgefühl, Rücksicht oder gar Solidarität zu erwarten hatte.

    „Was war denn bloß mit Ihnen los, Herr Brinkmann?“, fragte Glückberg senior in seinem Rücken wieder mit geheucheltem Interesse.

    „Nichts, nur ein kurzer Schwächenanfall.“, presste Marvin mühsam durch seine Zähne und blickte sich fahrig um.

    Der Doktor knetete bereits ungeduldig seine Hände und räusperte sich vernehmlich.

    „Gut. Dann kann ich ja endlich zum vorerst letzten Teil meiner Präsentation kommen.“, stellte er mürrisch fest und wandte sich bereits ungefragt herum, um auf eine gläserne Säule mit einem kleinen, eingebauten Computer zuzutreten, die sich mittig an der nördlichen Seite des kreisrunden Raumes befand und bis zur Decke des ersten Stockwerkes empor reichte.

    Der Doktor gab mit flinken Griffen eine Kombination ein und plötzlich öffnete sich neben der Säule zischend eine Bodenklappe, die danach fast geräuschlos zur Seite fuhr und einem kleinen, ebenfalls durchsichtigen Tisch Platz machte, der aus den Tiefen des Erdbodens mechanisch und dabei fast geräuschlos in die Höhe geschoben wurde und mit einem metallischen Klicken endlich verharrte.

    Auf der Oberfläche des seltsamen Glastisches lagen vier, in Schaumstoff eingebettete Waffen, die Marvin noch nie zuvor in solcher Form gesehen hatte.

    „Das sind wohl die modernsten Handfeuerwaffen, die in unserem Land jemals in der Form entwickelt worden sind. Eigentlich sind diese Meisterwerke der Waffentechnologie viel zu schade für eine solche Mission. Man stelle sich nur einmal vor, diese Prototypen würden zerstört werden oder verloren gehen. Daher appelliere ich an Sie alle, dass Sie besonders vorsichtig damit umgehen. Diese Waffen sind so etwas wie Ihre Lebensversicherung!“, betonte der Doktor eindringlich und seine kalten, starren Augen musterten jeden der vier Auserwählten mit einer Mischung aus Abfälligkeit und Strenge.

    Marvin achtete kaum mehr auf die erniedrigenden und arroganten Worte des übellaunigen Doktors, sondern blickte stattdessen wie gebannt auf dessen Hände, mit denen er gerade eines der vier Exemplare aus dem Schaumstoff gelöst hatte.

    Marvin hatte wenig Ahnung von Waffen, denn er kannte sie nur aus Büchern und Erzählungen seines Vaters. Diese Waffe schien aus dunklem, silbrigen Edelstahl zu bestehen und unglaublich robust zu sein. Das Gerät erinnerte an ein schwereres Sturmgewehr, das allerdings zwei Läufe und ein kleines, aber hochpräzises Zielfernrohr auf dem obersten Lauf besaß. Der unterste Lauf diente offenkundig der umschaltbaren Abzugseinheit, für Einzel – oder vollautomatische Schussfolgen, während der obere Lauf feiner und auch zerbrechlicher wirkte und eine Laserfunktion zu haben schien. Die Munition wirkte keinesfalls klobig und hat eher eine viereckige, kompakte Form, die man unterhalb des Laufes in das Gewehr einschieben musste.

    Marvin hörte kaum auf die rühmenden Worte des Doktors, der nun berichtete, wie man genau zwischen den Schussfolgen und den beiden Läufen wechseln konnte und der hervorhob, wie wenig Rückstoßkraft bei diesem Gewehr vorahnden war, wie leicht es für seine Verhältnisse war und wie präzise es arbeiten konnte. Der Doktor hob hervor, dass man selbst bei widrigsten Bedingungen, die möglicherweise an der Erdoberfläche herrschten, die Waffe problemlose und ohne Stocken verwenden konnte. Selbst Wasser und Sand machten dieser angeblichen Wunderwaffe nichts aus.

    Behutsam packte der Doktor sein Exemplar wieder in den Schaumstoff ein und ließ den gläsernen Tisch mit einer schnell eingetippten Kombination in den Computer wieder im Boden verschwinden. Fast sehnsüchtig starrte Marvin den vier Waffen hinterher, während Justus neben ihm unruhig von einem Bein auf das andere hüpfte und die Waffen mit großem Misstrauen betrachtet hatte. Valeria wirkte hingegen immer noch völlig starr und emotionslos, während der Sohn des Regierungsoberhauptes gleichermaßen aufmerksam die Waffentechnologie und seine schöne Begleiterin musterte. Marvin konnte in seinem Gesicht förmlich schon die perversen Fantasien ablesen und wandte sich angewidert und wütend ab.

    Ohne ein Wort des Abschieds salutierte der Doktor kurz und trat nun ebenfalls geschäftig zur Seite, wo er mit einem Assistenten in Schutzanzug irgendwelche Versuchsergebnisse besprach und mit ihm auf eine silbrige Platte trat, die im Boden eingelassen war, dann eine einen in der Wand eingelassenen Retinascanner benutzte, um von der Plattform, die plötzlich sanft aus dem Boden in die Höhe glitt, auf die nächste Etage transportiert zu werden, wo sich über dem Kopf des Doktors eine kleine Schleuse öffnete, in welche die Plattform exakt hineinpasste. Kurz darauf war er auch schon wieder verschwunden.

    „Wie Sie sehen, bekommen Sie von uns nur die allerbeste Ausrüstung. Ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen.“, bemerkte Adolf-Josef Glückberg mit leicht drohendem Unterton und blickte sich mit sichtbarem Stolz in dem Forschungszentrum um, bevor er dann entschlossen eine Tür ansteuerte, die sich schmatzend öffnete, sobald der Regierungschef seinen eigenen Namen aufgesagt hatte. Der Gang dahinter war ebenso lang wie der, durch den sie alle in das Forschungszentrum gekommen waren, führte jedoch eher in westliche Richtung, bevor er an einem grauen, alten Tor endete, das mehrere Meter dick und sehr stabil zu sein schien.

    Die Männer in Schwarz drängten Marvin in diesen Gang, doch der jungen Mann hatte mit einem Mal ein flaues Gefühl im Magen, denn der Gang wirkte irgendwie unheilvoll und sehr bedrohlich auf ihn. Seinem Begleiter Justus erging es nicht anders, er zitterte wie Espenlaub und wischte sich verstohlen den Schweiß von der Stirn, was Glückbergs Sohn mit einem hämischen Lachen kommentierte. Sein Gesicht wirkte grausam und wissend, denn ihm war wohl bewusst, was jetzt auf sie zukommen würde.

    Da drehte sich sein Vater noch einmal um und lächelte seine Begleiter kalt an. Er zögerte noch kurz, um das Gefühl der Macht und Aufmerksamkeit voll auszukosten und seine jungen Begleiter weiterhin leiden zu lassen, bevor er sich erbarmte die Anwesenden über sein weiteres Vorhaben aufzuklären.

    „Die Mission soll noch heute Abend beginnen. Wir werden Sie in exakt drei Stunden abholen. In dieser Zeit können Sie sich noch ein letztes Mal duschen und mit ihren Vertrauten sprechen, die hier weiterhin bei uns residieren werden – als Pfand sozusagen, damit Sie sich bei dieser Mission besonders anstrengen. Ich werde Sie nun zu den besagten Aufenthaltsräumen führen.“, verkündete Adolf-Josef Glückberg und betonte seine Worte mit viel Häme und einem sarkastischen Unterton, der Marvin vor Wut beben ließ, denn er wusste, dass die sogenannten Aufenthaltsräume, in denen auch sein Vater eingesperrt worden war, schlimmer als jedes Gefängnis waren. Er hatte in so mancher Schauergeschichte seiner Kameraden gar von einer Folterkammer gehört, in der Regierungsgegner mundtot gemacht und bis zum Äußersten gequält wurden.

    Marvin erschauderte, als er daran denken musste, dass sein Vater nun ebenso behandelt werden würde, wenn sein Sohn versagte und fühlte sich panisch hilflos. Wie betäubt taumelte er in den dunklen Weg und es kam ihm vor wie der letzte Gang zum Schafott. Vielleicht war dies nun gar das letzte Mal, dass er seinen einzigen überlebenden Verwandten noch einmal lebend sehen würde.

    Mit Tränen in seinen Augen ließ er den Kopf hängen und fügte sich verkrampft seinem grausamen Schicksal und seiner auferlegten Bürde, die ihn bereits jetzt zu erdrücken schien.

     

    *

     

    Mit einem Quietschen, das ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte, schloss sich die schwere Zellentür hinter Marvin. Die einzige Lichtquelle war eine flackernde, brummende und arg verstaubte alte Glühbirne mitten im Raum, welche die unangenehme Atmosphäre noch verstärkte. Ansonsten war der Raum, bis auf ein stinkendes Loch im Boden, das als Toilette diente, sowie einem alten, brüchigen Waschbecken, in das permanent die monoton fallenden Tropfen aus dem Wasserhahn trommelten, komplett leer.

    Marvin war durch den dunklen Gang in ein stinkendes Verließ gekommen, wo seine Begleiter und er getrennt worden waren. Sie alle waren von den Männern in Schwarz zu verschiedenen Zellen geführt worden, lediglich Glückberg und sein Sohn hatten sich am Eingang des Verlieses verabschiedet.

    Der Auserwählte der Regierung warf einen Blick auf die beiden Männer in Schwarz, die innerhalb der Zelle die Tür flankierten. Auf der anderen Seite befanden sich noch einmal zwei Aufpasser. Sie hatten die ganze Zeit über kein Wort mit Marvin gewechselt, der sich fragte, ob diese unheimlichen Gestalten überhaupt menschliche Wesen und zu sprechen fähig waren.

    Sein Vater, der benommen in einer Ecke der Zelle hockte, bot ein Bild des Schreckens. Seine Kleidung war völlig zerrissen, er roch nach Schweiß und altem Dreck und sein Hand hatte sich lahm zum Gruß erhoben, seine geflüsterten Worte klangen niedergeschlagen und waren kaum zu hören. Selbst die lebendigen Augen, die Marvin so sehr an seinem Vater schätzte, wirkten jetzt trüb und müde. Betroffen und den Tränen nahe lief er auf seinen Vater zu und fiel vor ihm auf den Staub. Entsetzt griff er nach der Hand des einst noch kämpferischen Mannes.

    „Vater, was haben sie dir angetan? Vater, so sprich doch!“, redete Marvin hektisch auf den alten Mann ein, der nur müde lächelte, um seinen Sohn zu beruhigen, damit aber eher das Gegenteil erwirkte.

    „Es geht mir gut. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin so etwas gewohnt, ich bin alt und krank und lange werde ich es in dieser verdammten Bunkerkolonie nicht mehr durchhalten. Aber dir bietet sich endlich eine Chance, um von hier fort zu kommen. Man hat mir von dieser Mission sogar schon erzählt.“, murmelte der alte Vater und versuchte dabei hoffnungsvoll zu klingen. Seine Stimme klang seltsam brüchig und weich und nicht so hart und entschlossen, wie Marvin sie immer gekannt hatte. Nur die äußere Hülle erinnerte Marvin noch an das, was sein Vater einst für ihn gewesen war.

    Erschrocken taumelte er vor dem Greis zurück und eine dunkle Faust schien sich um sein Herz zu klammern, das unaufhörlich raste. 

    „Vater, was ist los mit dir? Wie kannst du bei diesem Himmelfahrtskommando von einer Chance sprechen? Wir werden alle dabei draufgehen und werden zudem ständig kontrolliert!“, begehrte Marvin auf und hörte, wie hinter sich die Männer in Schwarz unruhig mit ihren Waffen spielten und auf und ab gingen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er von ihnen überwacht und kontrolliert wurde und sie jedes seiner Worte verstanden, selbst wenn sie nicht direkt mit ihm sprachen.

    „Hier unten werden wir doch auch kontrolliert. Hier unten kannst du nirgendwohin. Wir alle werden hier elendig verrecken, wenn nicht bald ein Wunder geschieht.“, murmelte der alte Mann müde und Marvin war erneut zutiefst über die Resignation seines Vaters erschrocken.

    „Du glaubst tatsächlich, an das, was die Regierung die erzählt hat. Du glaubst ernsthaft, dass ich mich dort oben durchschlagen kann und überleben werde oder dass ich es gar bis nach Straßburg schaffe?“, fragte Marvin laut in einer Mischung aus Unglaube und Wut.

    „Ich glaube schon lange nichts mehr, mein Sohn. Die Monster von dort oben können jedoch kaum grausamer sein, als die Monster von hier unten.“, erwiderte der Mann, dessen Gesicht grau und faltig geworden war und dessen grauschwarzes Haar sein rundliches Gesicht wirr einrahmte und erst durch den großen und geschwungenen Schnauzbart begrenzt wurde.

    „Johannes, wir werden uns vielleicht nie wieder sehen!“, flüsterte Marvin mit bebender Stimme und wandte sich abrupt ab, um den Anblick seines Vaters nicht mehr länger ertragen zu müssen. Es kam selten vor, dass er ihn mit Vornamen ansprach und wenn er es einmal tat, dann war er meistens sehr erzürnt und aufgebracht oder wollte ihm etwas immens wichtiges mitteilen. Marvin wusste gar nicht, wie er mit dem Verhalten des gebrochenen Mannes umgehen sollte.

    „Ich wusste, dass du das irgendwann sagen würdest. Es ist vielleicht besser so.“, erwiderte der Angesprochene leise und rutschte unruhig auf dem dreckigen Boden hin und her.

    Mit einem Aufschrei der Verzweiflung wirbelte Marvin herum, der sich in diesen Momenten nicht mehr kontrollieren konnte. Die Ereignisse der letzten Stunden forderten ihren Tribut und entluden sich nun in einer wütenden und verzweifelten Ansprache. Er erschrak beinahe vor sich selbst, denn so stark war er schon über Jahre hinweg nicht mehr ausgerastet. Wozu auch, an die fade Monotonie des Bunkerlebens hatte auch er sich gewöhnt und sich nicht mehr gegen die Tage der Leere gestemmt. Jetzt, da diese Monotonie unerwartet zerstört worden war, spürte Marvin wieder, dass er ein Wesen war, das zu menschlichen Emotionen fähig war. Er war noch nicht so abgestumpft wie sein Vater, der kraftlos in der schattigsten Ecke des Verlieses hockte und seinem Sohn während dessen flammender Rede kein einziges Mal widersprach. Gerade diese stille Zustimmung, dieses träge Zuhören trieben Marvin entgültig zur Weißglut, doch nach seinem Ausbruch fühlte er sich kaum besser und bereute fast schon, mit seinem Vater so hart ins Gericht gegangen zu sein.

    „Wie kannst du so reden? Ich erkenne dich nicht mehr wieder! Ich werde mein Leben für ein wahnsinniges Himmelfahrtskommando lassen müssen, dein Leben wird vom Erfolg meiner Mission abhängen und wir sind beide den übelsten Drangsalierungen ausgesetzt! Und da redest du irgendetwas von einer Hoffnung, von einer besseren Welt und bist froh, wenn ich fort bin mit der Angst zu versagen und nicht nur mein eigenes, sondern auch dein Leben zu riskieren? Bist du völlig wahnsinnig geworden? Wo ist dein Wille geblieben? Was haben sie nur mit dir angestellt, bevor sie dich hier eingesperrt haben? Du bist nicht mehr du selbst!“

    Dumpf klangen die geschrienen Worte Marvins nach und sein Herzschlag raste und sein Blut rauschte schmerzhaft laut in seinen Ohren. Sein flacher Atem kam ihm röchelnd über die Lippen, sein Brustkorb hob und senkte sich wie unter einer unvorstellbaren Last.

    Traurig blickte sein Vater ihn an, doch kurz darauf wurde sein Blick wieder trüb und starr und er schüttelte entsetzlich langsam den Kopf, als ob irgendetwas seine Regungen lähmte. Marvin kam der schauerliche Verdacht, dass man im Namen der Regierungen seinem Vater Medikamente verabreicht haben könnte, um seinen Willen und seinen Widerstand zu lähmen. Paranoide, panische Gedanken schossen dem jungen Mann ungeordnet durch den dröhnenden Schädel. Die stinkende Zelle wirkte auf ihn erdrückend und erstickend, so als ob sich die kahlen Wände um ihn herum unaufhörlich zusammenziehen und ihn zerquetschen würden. Er verspürte plötzlich panische Angst und wollte einfach nur noch davonrennen.

    „Geh bitte. Ich möchte, dass du mich so in Erinnerung behältst, wie ich früher einmal war. Du sollst nicht mit ansehen müssen, wie aus deinem Vater ein Schatten seiner selbst wird.“, antwortete Johannes Brinkmann mit gesenktem Haupt und sein Sohn starrte ihn lang und traurig an.

    Im selben Moment rührte sich einer der Männer in Schwarz und öffnete die Zellentür von innen. Dann verharrte er wieder neben der Tür und bohrte seinen Blick in den Rücken des jungen Berliners, der vor einem der schwersten Momente seines Lebens stand.

    „Wenn dies dein letzter Wunsch ist, dann soll es so sein.“, gab Marvin nach unendlich langen Sekunden monoton zurück und erkannte sich selbst kaum wieder. Es kam ihm vor, als habe ein Fremder durch ihn gesprochen, denn die Worte waren ohne Nachdenken über seine Lippen gekommen.

    Ein letztes Mal richtete sich Johannes Brinkmann auf und ein müdes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als er sich mit letzter Kraft hochstemmte und seinem Sohn mit müdem und gebrechlichem Schritt entgegentrat. Lange schaute er den starren Marvin an, bevor er ihn mit seinen einst kräftigen Händen umarmte, die ihn jetzt nur noch lasch und kraftlos umklammerten. Tränen rollten über das gealterte Gesicht des Mannes, der seinem Sohn noch einmal fest in die Augen blickte. In dem Spiegelbild der Tränen erkannte sich Marvin selbst und dachte bei sich, dass er eines Tages vielleicht genauso aussehen und enden würde wie sein Vater, denn sie hatten viele Gemeinsamkeiten und das bedrückende Leben im Bunker hatte sie untrennbar zusammengeschweißt.

    „Danke, mein Sohn. Pass auf dich auf. Möge Gott mit dir sein.“, flüsterte Johannes Brinkmann leise und ließ seine Arme dann schlaff nach unten fallen.

    Marvin dachte über diese Worte noch nach, als er stumm aus der Zelle getreten war, welche die beiden Männer in Schwarz behutsam, aber emotionslos hinter ihm wieder mechanisch verriegelt hatten. Ihnen war scheinbar nicht bewusst, dass sich zwei nahe stehende Menschen hier zum letzten Mal gesehen haben könnten.

    Als er den langen, spärlich erleuchtenden Gang entlang schritt, durch den man ihn gezielt führte, damit er keine geheimen Kammern zu Gesicht bekam, dachte Marvin darüber nach, dass sein Vater von der Unterstützung Gottes geredet hatte. Sein Vater war immer überzeugter Agnostiker gewesen. Marvin erschauderte bei dem Gedanken daran, dass selbst sein Vater sich nun in seiner letzten Verzweiflung an übersinnliche Dinge klammerte, an die er niemals zuvor geglaubt hatte. Er hatte das Bild eines kämpferischen, engagierten Mannes in Erinnerung behalten wollen. Doch seit dem heutigen Tag hatte sich das Bild eines resignierten Greises unwiderruflich in sein Gehirn eingebrannt.

     

    *

     

    Marvin hatte nur die Zeit gehabt kurz zu duschen und einige Habseligkeiten zusammenzupacken. Dazu gehörte ein Schweizer Messer, das er früher zu seinem zwölften Geburtstag von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, sowie einige Familienbilder, wie auch das Bild seiner Freundin Ayla, das er lange gemustert hatte und sich dabei ständig fragen musste, ob es diese bezaubernde Person noch gab und wie sie heute aussehen würde.

    Die Männer in Schwarz hatten ihn dann aus seinem erbäarmlichen Privatbunker abgeholt und durch ein Wirrwarr von Gängen und Schleusen geführt und in die Nähe des Forschungszentrum gebracht. Dort gab man ihm zehn Minuten um seinen Schutzanzug anzuziehen und all seine Besitztümer und gar die neue Wunderwaffe, die allesamt sorgfältig bereit gelegt worden waren, in einem robusten und wetterfesten Rucksack zu verstauen. Dabei war er von den Männern in Schwarz zu keiner Sekunde aus den Augen gelassen worden, doch er verspürte keine Scham und fühlte sich seit dem Gespräch mit seinem Vater seltsam leer und abgestumpft.

    Endlich hatte man Marvin in einen tunnelähnlichen, dreckigen Gang geführt, der langsam, aber stetig anstieg und kilometerlang zu sein schien, bevor er zu einer robusten Tür führte, hinter der ein kreisrunder Raum war, in dem sich neben zahlreichen Überwachungskameras und einem kleinen Überwachungsstützpunkt auch noch vier weitere Gestalten befanden.

    Marvin erkannte seine drei Begleiter in ihren Schutzanzügen und dazu noch Adolf-Josef Glückberg in zivil, der es sich nehmen ließ seine vier auserwählten Schützlinge persönlich zu verabschieden.

    Mit ein paar Griffen hatten die Männer in Schwarz den Mechanismus der robusten Tür aktiviert und diese öffnete sich schmatzend. Durch die betäubende Wärme und Stille des Helmes seines Schutzanzuges musterte Marvin seine drei Begleiter, die ebenfalls schon völlig eingekleidet und ausgerüstet waren. In den Gesichtern von Valeria und Justus erkannte er dieselbe Leere, die sich in seinem Gesicht abzeichnen musste. Das Gefühl, dass wenigstens nicht nur er als Einziger einen schweren Abschied hinter sich gebracht hatte und mit seinem Leiden allein war, ließ ihm sein Schicksal jedoch fast schon ein wenig rosiger erscheinen. Gleichzeitig empfand er bei diesem egoistischen Gedanken ein rasch aufkommendes Schamgefühl. Marvin sagte sich verbittert, dass niemand einen solches Abschiedsritual verdient hätte.

    Lediglich das Gesicht von Glückbergs Sohn zeigte eine nervöse und dennoch irgendwie unbeschwerte Vorfreude auf die Dinge, die nun folgen würden. Sein Blick und der Marvins trafen sich voller gegenseitiger Verachtung.

    Schmatzend schloss sich der Durchgang hinter ihm wieder und die Männern in Schwarz waren am Ende des langen Traktes zurückgeblieben, Außer dem Regierungschef befanden sich nur noch zwei Wachposten in dem kreisrunden und sehr hohen Raum, an dessen rechter Seite sich ein Aufzug befand, der praktisch mit dem felsigen Gestein über dem Raum verschmolz und irgendwo in die Höhe führte. Die Türen zu dem silbrigen, kapselförmigen Aufzug waren bereits geöffnet. Die Wachposten blickten neugierig zu den Ankömmlingen. Marvin war fast erleichtert zu sehen, dass es sich bei ihnen nicht um Männer in Schwarz handelte, sondern um zwei Männer in seinem Alter. Ihre Standortpositionierung war bestimmt eine der unaufregendsten und monotonsten im ganzen Bunkersystem, denn seit Jahren schon hatte sich niemand mehr von hier aus an die Oberwelt getraut. Marvin hatte einmal die Legende gehört, dass ein Jugendlicher aus dem Bunkersystem durchgedreht und zufällig in Waffenbesitz gekommen sei und dann versucht hätte sich den Weg an die Oberfläche bis hierhin zu dem mysteriösen Aufzug in die andere Welt freizuschießen. Niemand wusste so genau, was aus dem mutigen Verrückten geworden war. Vielleicht hatten die Wachposten ihn überwältigen und bis an sein Lebensende einsperren können, sodass er jetzt halb wahnsinnig irgendwo in dem Verlieskomplex vor sich hin vegetierte, in dem auch Marvins Vater saß. Vielleicht war der Junge auch einfach erschossen und in einen der dunklen Schächte des Bunkersystems geworfen worden, da es so etwas wie Beerdigungen schon lange nicht mehr gab. Möglicherweise hatte er es auch bis nach ganz oben geschafft, allerdings ohne Schutzanzug. Marvin zweifelte daran, dass der bemitleidenswerte Rebell noch am Leben war. 

    Adolf-Josef Glückberg wirkte nun selbst ausnahmsweise einmal nicht überheblich und souverän, sondern vor dem Beginn dieser großen Mission einigermaßen nervös und erregt, was ihn aber nicht davon abhielt wieder einmal eine kurze Rede zu halten.

    „Ich danke Ihnen für Ihr rasches Erscheinen und Ihre Kooperation. Bevor Sie das Privileg haben zu Ihrer ehrenhaften Mission aufzubrechen, möchte ich Ihnen gerne den letzten, aber vielleicht wichtigsten Teil Ihrer Ausrüstung präsentieren. Wenn Sie mir bitte zum Aufzug folgen möchten.“, forderte der Regierungschef sie auf und wandte sich ohne eine Rückmeldung abzuwarten schon flankiert von den beiden Wachmännern dem ungewöhnlichen Aufzug zu.

    Sobald Valeria, Justus, Nikolas und Marvin selbst in den Aufzug getreten waren, gab einer der beiden Wachposten eine lange Zahlenkombination in einen kleinen Computer ein, während der andere mit einer Chipkarte den Aufzugsmechanismus auf der anderen Seite aktivierte. Surrend setzte sich die Mechanik in Gange und über ihnen glitt eine metallisch spiegelnde Versenkung geräuschlos zur Seite.

    Langsam glitt der Aufzug höher und hielt in einer kleinen, dunklen und steril abgeriegelten Raum an. Der Regierungschef trat selbstinszinierend vor und eine Art Hochdruckreiniger sowie ein komplexes Laserbatastsystem wurden umgehend aktiviert. Nach etwa einer halben Minute flaute der unerträgliche Lärm langsam ab und eine mechanische Frauenstimme verkündete: „Dekontaminationsphase erfolgreich abgeschlossen.“

     Nun öffnete sich eine Schleuse, hinter der ein zu allen vier Seiten durchsichtiger Gang mit diversen Metallstreben bis in eine weitläufige Garage führte, in der ein dunkel und metallisch schimmernder Geländewagen mit einem feinen und geometrisch abgehackt aussehendem Schutzpanzer stand. Adolf-Josef Glückberg trat mit theatralischer Gestik in den Gang und winkte seinen unfreiwilligen Begleitern übertrieben zu, bevor sich die Schleuse zwischen ihnen wieder verschloss.

    Die beiden Wachmänner nickten Marvin grimmig zu und dieser fügte sich der wortlosen Aufforderung. Er trat aus dem Aufzug und musste die unangenehme Dekontaminationsphase über sich ergehen lassen, bei welcher der Luftdruck und die Laserstrahlen ein unangenehmes warmes Prickeln auf seiner Haut verursachten, bevor er durch die sich schmatzend öffnende Schleuse trat und von einem übertrieben grinsenden Adolf-Josef Glückberg in Empfang genommen wurde.

    Fünf Minuten später waren auch Marvins drei unfreiwilligen Begleiter und die beiden stummen Wachmänner durch die Schleuse getreten und das Septett steuerte nun den beeindruckenden Geländewagen an. Der Regierungschef ließ es sich nicht nehmen ein letztes Mal eine Rede zu halten.

    „Meine Damen und Herren, ab hier werden sich unsere Wege zumindest in physischer Form trennen. Seien Sie allerdings unbesorgt, denn wir sind durch die komplexe Bordtechnik Ihres speziell für diese Mission konfigurierten Geländewagens stets mit Ihnen in Kontakt und können Sie zudem mit Hilfe diverser GPS-Installationen und Kameras jederzeit ununterbrochen orten. Außerdem werden einige Regierungsdrohnen außerhalb Ihres Gefährts Sie auf dem langen Weg nach Straßburg begleiten und Ihnen nützlichen Informationen kommunizieren. Was Sie hier sehen, ist das modernste Fahrzeug, das je von Menschenhand entwickelt worden ist. Es ist allen Witterungsverhältnissen gewachsen, wird mit der Kraft der Elemente wie Wind und Sonne angetrieben, ist extrem robust und mit Außenbordwaffen bestückt und verfügt innen über einen hochentwickelten Bordcomputer, der Ihnen in jeder Situation nützlich erscheinen wird. Sie verfügen über die besten und modernsten Gerätschaften, um diese für die gesamte Bunkerkolonie immens wichtige Mission erfolgreich abzuschließen. Ich wünsche Ihnen bei Ihrem Auftrag alles Gute. Bitte enttäuschen Sie uns nicht“, beendete der Regierungschef seine Rede und obwohl er mit einem überschwänglichen Emotionen und einem fast festgefrorenen Lächeln sprach, klang eine kalte Drohung in seinem letzten Satz mit, dem keinen der Anwesenden entgang.

    Der Sohn des Regierungschefs war offenbar bereits mit dem Geländewagen vertraut und öffnete wie von Geisterhand mit dem leichten Druck seines Handballens einen in das Schutzgehäuse eingelassenen Touchscreen, auf den er einen längeren Zahlencode eingab, bevor sich surrend eine Klappe aktivierte, die eine kurze Treppe freigab, die in das bauchartige Innere des Gefährts führte. Nikolas grinste ob seiner Kenntnisse und forderte seine drei Begleiter mit überheblicher Gestik dazu auf in den Wagen zu steigen.

    Marvin trat in das weitläufige Innere des Wagens und sah einen gewaltigen Bordcomputer mit zahlreichen Bildschirmen, Joysticks, Lichtern, Schaltern, Tastaturen und Touchscreens unterhalb einer getönten und um einhundertachtzig Grad gedehnten Frontscheibe. Im hinteren Bereich des Wagens gab es mehrere Sitzgelegenheiten und das Gefährt mündete in einen imposanten Wohnbereich mit einem Behandlungszimmer mit Erste-Hilfe-Versorgung, einem kleinen Fitnessraum, vier engen Kojen, einer klinisch sauberen Küche, einem kleinen Labor mit allerlei technischen Gerätschaften und einen kleinen Waschraum. Der Geländewagen war eine Art Wohnung auf vier Rädern und streckenweise luxuriöser als viele Behausungen in der Bunkerkolonie ausgestattet.

    Obwohl er der Mission kritisch gegenüber stand, konnte sich Marvin an all den neuen Eindrücken kaum satt sehen. Er schreckte aus seiner stummen Bewunderung hervor, als sich die Eingangsklappe surrend schloss und der Sohn des Regierungschef bereits am Bordcomputer Platz genommen und das gewaltige Automobil in Gang gesetzt hatte. Marvin erkannte, dass der Regierungschef Ihnen noch einmal flankiert von den beiden gehorsamen Wachmännern flankiert von außen zuwinkte, bevor der Geländewagen an ihm vorbei und auf ein Tor zusteuerte. In den gewaltigen Rückspiegeln konnte Marvin erkennen, wie der Regierungschef und seine Bewacher zurück in die Schleuse mit der Dekontaminationskammer traten. Erst danach öffnete sich wie von Geisterhand das Tor, das zu einer dunklen Rampe führte und sich hinter ihnen wieder schloss, bevor sie nach mehreren Minuten Fahrt ein letztes und ungewöhnlich massives Tor erreichten, vor dem der Geländewagen kurz hielt.

    Langsam wurde das Tor mechanisch hochgefahren und Marvin hielt den Atem an, als grelles Tageslicht ihre empfindlichen Augen blendeten. Neben ihm lachte Nikolas heiser auf. 

     „Herzlich willkommen in der Außenwelt!“

    « Der Klan der CaloniMetro 2033: Der lange Weg nach Ottawa »
    Partager via Gmail Delicious Technorati Yahoo! Google Bookmarks Blogmarks