• Kapitel 2

     

    Kapitel 2: Mittwoch, 10 Uhr 48, Küstendorf


    Thomas Jason Smith pfiff fröhlich eine Melodie mit, die aus seinem Autoradio erschallte und blickte auf eine Landkarte, die auf dem Beifahrersitz ausgebreitet lag. Mit viel Drall und quietschenden Reifen verließ er die typische, monotone Landstraße und bog auf eine holprigere Strecke ab, die ihn direkt zur Küste führte. Er warf einen Blick auf das Meer, welches sich ein wenig unruhig präsentierte. Über Nacht waren einige Wolken aufgezogen und im Radio hatte man in den Nachrichten bereits von einem gefährlichen Sturmtief namens Emma gesprochen, das ab den späten Abendstunden und möglicherweise auch in den kommenden Tagen noch für Unruhe sorgen sollte.

    Thomas Jason Smith war ein unkonventioneller Mensch. Sein Vater war sehr reich und war mit seiner Schuhfabrik im gesamten Vereinigten Königreich groß herausgekommen, für die sich auch schon sein Großvater ein Leben lang aufgeopfert hatte. Seine Mutter war eine erfolgreiche Jugendbuchautorin und zudem arbeitete sie seit langer Zeit in der örtlichen Pfarrgemeinde ihres Geburtsortes und war eine überzeugte und strenge Christin. Es war ihre Initiative gewesen, ihren einzigen Sohn auf eine private und christliche Eliteschule in die Einöde Schottlands zu schicken. Sein Vater, in seiner Firma für seinen Erfolgshunger und sein Engagement anerkannt, hatte in der Familie selbst wenig zu sagen und relativ schnell zugestimmt. So war es geschehen, dass Thomas Smith etwa sechs Jahre lang diese neu eröffnete und hochgepriesene Schule besucht hatte und dort von mehreren Privatlehrern ausgebildet worden war. Doch er war trotz all der strengen Erziehung stets ein Rebell geblieben. Er hatte mit fast jedem der anfangs eher zahlenmäßig unterlegenen Mitschülerinnen ein Verhältnis gehabt und sich mit seinem besten Kumpel an den langen Wochenendnächten oft vom Privatgelände gestohlen, um im einzigen Dorf im Umkreis der Schule, einem völlig heruntergekommenes Küstendorf, in dem nur wenige hundert Seelen lebten, nach einigen Abenteuern zu suchen. Die ein oder andere Nacht hatte er in der einzigen Kneipe des Ortes, dem „Old Hand Inn“, verbracht und dort mit den absonderlichsten Gestalten gepokert und Billard gespielt. Oft waren nach dem ein oder anderen Spiel auch die Fetzen geflogen. Hin und wieder hatte Thomas sogar seine aktuelle Geliebte mit in diese Kaschemme genommen, denn dort konnten sie wenigstens ungestört sein. Der Wirt Jimmy fand Thomas ausgesprochen sympathisch und stellte ihm oft ein Zimmer im zweiten Stock zur Verfügung, wo man seine ungestörte Zweisamkeit ausleben konnte, während in der Privatschule die einzelnen Trakte der Schlafgemächer voneinander getrennt lagen und von einigen älteren Nonnen gar überwacht wurden.

    Einmal hatte Thomas auch sehr viel Glück bei einem seiner zahlreichen nächtlichen Ausflüge gehabt, obwohl das Erlebnis in auf entsetzliche Weise und sehr tief geprägt hatte. Er erinnerte sich noch mit Schrecken an eine verregnete Herbstnacht, in der er und sein bester Kumpel in der Kneipe auf einige Mafiosi getroffen waren, die sich auf der Durchreise befunden hatten. Zunächst war alles geradezu freundschaftlich zugegangen, Thomas und sein Freund hatten von den Mafiosi in einem Hinterzimmer kostenlos ein wenig Kokain abbekommen und eingewilligt eine wilde Party zu starten. Von den Drogen und dem Alkohol benebelt, hatte er die zwei Anführer der Bande zu einem Pokerduell überredet, bei dem der Gewinner mit der Freundin des anderen eine Nacht verbringen und zudem zweihundert Gramm Kokain erhalten sollte. Die Mafiosi, ebenfalls durch den Drogenkonsum betäubt, hatten diesem verrückten Vorschlag zugestimmt, während Thomas Kumpel sich aus der Sache zunächst heraushielt. Thomas hatte seine beiden Kontrahenten gut im Griff und die entscheidenden Partien für sich verbuchen können, bis es zu einem letzten Duell mit dem verbliebenen Mafiaboss kam, welches er mit unwahrscheinlich viel Glück gewann. Sein Gegenüber war allerdings ein sehr schlechter Verlierer und hatte ihn plötzlich mit einem Messer bedroht. Thomas Kumpel wollte eingreifen, es kam erst zu verbalen Auseinandersetzungen und im Anschluss daran zu einem heftigen Handgemenge. Der Wirt Jimmy hatte bereits die Polizei verständigt, als er von dem Streit mitbekam und wollte selbst eingreifen, wurde aber brutal zusammengeschlagen. Thomas selbst hatte die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens bezogen und wusste selbst heute nicht genau, wie er sich damals aus dieser brisanten Situation befreit hatte. Irgendwie war er kopfüber durch ein Fenster im ersten Stock der Kneipe gesprungen und von einem Mafiosi bis in den angrenzenden Sumpf verfolgt worden. Wie durch ein Wunder war ihm nichts passiert und er konnte den Gegner abschütteln, bevor er einen steinigen Hang hinunterstürzte und das Bewusstsein verlor. Als er am nächsten Morgen in aller Frühe erwachte, fand er den Weg zurück zur Kneipe. Dort hatten jede Menge Streifenwagen und sogar eine Ambulanz gestanden und Thomas wurde Zeuge, wie der Wirt Jimmy mit schlimmsten Stechwunden in die Notklinik gefahren wurde, während für seinen besten Freund bereits jede Hilfe zu spät gekommen war. Einer der Mafiosi hatte ihm einen tödlichen Stich in die Niere versetzt und der treue Halbstarke war elendig und qualvoll verblutet. Die Mafiosi waren bis auf zwei unwichtige Handlanger entkommen. Thomas hatte sich der Polizei gestellt und ihnen alles berichtet, mit der unbedingten Bitte, dass sie der Privatschule und seinen Eltern nichts darüber mitteilen sollten. Die Polizisten hatten sich daran gehalten und Thomas war für ein letztes Vierteljahr nach zweiwöchiger Erholungspause in die Privatschule zurückgekehrt. Dieser Vorfall hatte ihn sehr verändert. Anstatt, wie viele seiner Mitschüler, irgendeinen hochtrabenden Beruf anstreben zu wollen, hatte Thomas nur noch das Ziel selbst Polizist zu werden und eines Tages die Mörder seines Freundes zur Strecke zu bringen. Der Hass und die Schuldgefühle hatten ihn fast zunichte gemacht, Thomas hatte einige Zeit lang Alkoholprobleme gehabt und sich nach Abschluss der Privatschuljahre über vier Monate in die Einöde der Highlands in ein Kloster zurückgezogen. Dort war er wieder genesen und gestärkt in das reale Leben zurückgekehrt. Er war nicht mehr so verbittert wie zuvor, aber er war auch nie wieder der alte Draufgänger und Frauenheld geworden und befand sich noch am heutigen Tag in einer Art Selbstfindungsphase. Seine Ausbildung als Polizist hatte er im Sommer erfolgreich abgeschlossen gehabt und sein Lehrer hatte ihm eine große Zukunft prophezeit.

    Seine Eltern hatten nie von den Vorfällen erfahren und waren schwer enttäuscht, dass er nicht die Firma seines Vaters übernehmen wollte. Seine Mutter sah ihn als verlorenen Sohn an und während er zu seinem Vater immerhin gelegentlichen Kontakt hielt, so war selbiger zu seiner Mutter fast gänzlich abgebrochen. Sie wussten, dass er ihnen etwas verheimlichte, doch Thomas hatte sich zu lange isoliert und wollte niemandem mehr vertrauen. Erst in diesem Jahr hatte er sich gesagt, dass er seine Eltern im Winter, anlässlich ihrer Silberhochzeit, besuchen und ihnen alles beichten wollte. Er brauchte ihre Unterstützung und wollte sich nicht mehr länger einsam und verbittert fühlen, denn er war in den vergangenen fünf Jahren in seinem Frust mehr gealtert, als in den fast zwanzig Lebensjahren zuvor.

    Deswegen hatte er auch auf die Einladung des ehemaligen Schuldirektors, der im vergangenen Semester in Rente gegangen war, positiv reagiert. Er wollte die Absolventen des ersten erfolgreichen Jahrgangs seiner nunmehr international erfolgreichen Privatschule zu einer Art Kurstreffen zu sich einladen. Die Schule war selbst zu Gründungszeiten schon sehr international ausgerichtet gewesen und auch der Direktor selbst war kein gebürtiger Schotte, sondern ein Österreicher, der den Namen Dr. Marcel Wohlfahrt trug. Er war seit etwa vier Jahren mit der wesentlich jüngeren Lehrerin und stellvertretenden Direktorin Magdalena Osario verheiratet. Sie stammte aus Spanien, lebte aber seit frühen Kindheitsjahren in Schottland. Ihr Urgroßvater war ein erfolgreicher Winzer gewesen, der in Schottland mit seiner erfolgreichen Exportfirma reich geworden war und der örtlichen Whiskey- und Skotchproduktion ein Dorn im Auge geworden war. Er hatte damals eine der nahe liegenden Inseln gekauft und sich den Traum erfüllt dort ein Schloss zu bauen, das ganz nach seinem Geschmack im neogotischen Stil erbaut worden war. Bei dem Bau des Schlosses war es zu mehreren Unglücksfällen gekommen, es hatte schwere Stürme gegeben, bei dem zwei Arbeiter ums Leben gekommen waren und auch als ein Teil des Westflügels bei einem Seebeben in sich zusammengestürzt war, hatten sechs Menschen ihr Leben lassen müssen. Die abergläubigen und alteingesessenen Bewohner der Küstendörfer munkelten seitdem immer wieder von der sogenannten Todesinsel und mieden den Kontakt mit deren bewohnern und Besuchern.

    Der Urgroßvater von Magdalena Osario hatte sich noch kurz vor seinem Lebensende seinen Traum erfüllt und das Schloss fertig gestellt bekommen. Verhängnisvollerweise war er in eben jenem Schloss durch einen Sturz von der Kellertreppe, bei dem er sich das Genick brach, aus dem Leben geschieden. Die Osarios, streng religiös und mitunter auch abergläubig, hatten seitdem ebenfalls das unheilvolle Schloss gemieden und waren über mehrere Generationen hinweg immer wider zwischen Spanien und Schottland hinundhergependelt. Erst Magdalena Osarios Eltern waren vor nunmehr dreißig Jahren wieder nach Schottland umgezogen und dort auch geblieben. Sie hatten überlegt das Schloss zu verkaufen, doch bevor es dazu kam, waren beide Elternteile bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als Magdalena Osario gerade erst fünfzehn Jahre alt gewesen war. Ihr anschließendes Leben im Heim und in Internaten hatte sie geprägt und dazu beeinflusst, die neue Privatschule zu eröffnen und war auf Dr. Marcel Wohlfahrt gestoßen. Sie sah in ihm viel mehr ihren verstorbenen Vater wieder, doch er verliebte sich in sie und so wurde sie mit seiner Heiratsofferte geradezu überrascht, hatte aber verwirrt zugestimmt. Sie hatte die Hochzeit einige Zeit lang immer wieder verschoben und wirkte mit der gesamten Situation unzufrieden, manche ehemaligen Schüler und Lehrer behaupteten gar, sie würde sich nur aus Angst und Schuldgefühlen nicht von ihrem jetzigen Mann trennen wollen. Gerüchte besagten gar, Wohlfahrt würde seine fast dreißig Jahre jüngere Frau wegen ihrer Unentschlossenheit und Zwiespältigkeit gelegentlich misshandeln. Es war auch er gewesen, der bestimmt hatte, dass sie beide in das Schloss ziehen würden und er hatte viel Geld darin investiert, es neu herzurichten und zu renovieren, zudem hatte er einen persönlichen Butler, der sich um alle kümmerte vom Management bis hin zur Gartenarbeit, sowie auch einen alten Koch engagiert. Wohlfahrt hatte sogar den großen Traum das Schloss eines Tages zu einem Abenteuerhotel umzugestalten, wo reiche Leute vor dem tristen Alltag Schutz suchen konnten.

    Wohlfahrt hatte sich zu seiner ersten Absolventenklasse immer besonders hingezogen gefühlt, da sie der erste und wichtigste Schritt zur Realisierung seines Lebenswerkes gewesen war und er zudem seine scheinbar große Liebe dort in dieser Zeit näher kennen gelernt hatte. Daher hatte er vor wenigen Wochen an alle Absolventen, deren Adressen er über einige seiner zahlreichen Bekannten ausfindig gemacht hatte, eine Einladung zu einem verlängerten, fünftägigen Wochenende auf eben diesem Schloss geschickt. Gemeinsam mit ihnen wollte er sich über ihren Werdegang und Zukunft unterhalten und zudem die Seele baumeln lassen.

    Thomas Jason Smith hatte seinen Direktor nie wirklich gemocht und auch die Schulzeit oft als Qual empfunden, doch er hatte kurzfristig zugesagt, da er sich nach Menschen in seiner Umgebung und ein wenig Abwechslung sehnte. Vielleicht würde ihm das Treffen mit alten Bekannten dabei helfen wieder ganz der Alte zu werden. Zudem führte ihn auch die Neugier zu dem Treffen, da er sich ein Bild von den anderen Absolventen machen wollte, die damals alle hochtrabende Ziele angestrebt hatten.

    So war es dazu gekommen, dass er nun in einem klapprigen Leihwagen saß und bereits das Ortseingangsschild eines größeren Küstendorfes passierte. „Bridetown“ lautete der Name des verschlafenen wirkenden Ortes, der in blättrigen Lettern auf ein verwaschen wirkendes, grünes Schild gemalt worden war. Hier sollten bis elf Uhr alle Eingeladenen in einem kleinen Hotelrestaurant eintreffen und mit dem ehemaligen Direktor und seiner Gattin auf der privaten Yacht zur Schlossinsel übersetzen.

    Thomas Smith kurbelte das Fenster seines Leihwagens herunter und zündete sich eine Zigarette an, die er genüsslich paffte. Er dachte an all seine ehemaligen Mitschüler, die er nun wiedertreffen sollte. Lediglich zwei Schotten und eine Chinesin hatten abgesagt, alle anderen würden anwesend sein, wie Wohlfahrt in einem weiteren Brief mitgeteilt hatte. Diejenigen, die nicht kamen, waren beruflich am anderen Ende der Welt mit irgendwelchen Projekten beschäftigt und scheinbar groß herausgekommen. Thomas Smith hatte mit keinem der ehemaligen Schüler Kontakt gehalten.

    Er ließ seine Erinnerungen an diese Menschen Revue passieren, als er endlich den Treffpunkt gefunden hatte und auf einem relativ großen, mit kleinen Kieselsteinen ausgelegten Parkplatz einfuhr, seinen Wagen verließ und seine große Sporttasche aus dem Kofferraum nahm. Er betrachtete kurz sein Spiegelbild in dem dunkel getönten Autofenster.

    Thomas Jason Smith war 24 Jahre alt, aber er wirkte bereits fast zehn Jahre älter, was ihn aber nicht unbedingt unattraktiver machte. Er hatte kurzes, blond meliertes Haar und haselnussbraune Augen. Seine Wangen wirkten ein wenig eingefallen,, unter seinen Augen bemerkte man bei näherem Hinsehen dunkle Ringe, die von seinem Schlafmangel zeugten, da ihn seit den schrecklichen Ereignissen hin und wieder Alpträume quälten. Er war ein drahtiger und muskulöser Mann und mit 1,73 Metern relativ klein gewachsen. Er trug wie auch jetzt sehr häufig dunkle Sonnenbrillen und dunkelblaue Jeans. Er hatte ein Faible für Schlangenlederschuhe und Cowboyhüte, doch er hatte beide Kleidungsstücke zurück in seiner Wohnung gelassen und nur das Nötigste mitgenommen. Nicht verzichten wollte er auf seine russischen Importzigaretten, die er vor einigen Jahren durch einen russischstämmigen Polizisten bei der Ausbildung kennen und schätzen gelernt hatte, sowie seine Bibel, die er praktisch überall mit hin nahm, da dieses Buch ihm in schweren Zeiten Mut und Zuversicht gespendet hatte.

    Langsam wandte er sich von seinem Leihwagen ab, atmete die frische Meeresluft ein und steuerte den Eingang des relativ modernen, aber gemütlichen Hotelgebäudes an.

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