• Kapitel 25

    Kapitel 25: Donnerstag, 10 Uhr 29, Speisesaal

    „Du lässt dich generell viel zu leicht von irgendwelchen illusorischen Gefühlen leiten. Ein wenig mehr Realismus und Besonnenheit täten dir ganz gut, dann würdest du auch ganz klar erkennen, wer für eine solche Taten Frage kommt, anstatt hier ideenlos zu argumentieren!“, kritisierte Doktor Wohlfahrt gerade seine eigene Gattin, die wie ein Raubtier in einem Käfig nervös durch den Speisesaal lief und dabei unbewusst an ihren Fingernägeln knabberte.


    Björn Ansgar Lykström wollte irgendetwas erwähnen, um seine Geliebte zu verteidigen, die sich in den letzten Minuten von ihrem Gatten in ein giftiges Streitgespräch hatte drängen lassen, und den finsteren Direktor in die Schranken zu weisen, doch in diesem Moment betraten Mamadou Kharissimi und Thomas Jason Smith aufgeregt den Speisesaal und traten zu ihnen.


    Thomas hatte inzwischen ein paar Handschuhe angezogen, die er eher zufällig mitgebracht hatte und hielt in ihnen ein edel erscheinendes Briefpapier. Wortlos entfaltete er den Brief und legte ihn in die Mitte des Tisches. Alle Anwesenden vergaßen die vorhergegangenen Streitereien und scharten sich neugierig und nervös um den grimmig blickenden Schotten. In einer Mischung aus Entsetzen und Unglauben lasen sie gemeinsam die eng verschnörkelte, aber durchaus lesbare Schrift. Thomas las den Inhalt noch einmal mit leicht zitternder Stimme vor, während die Anderen ihm mit gemischten Gefühlen dabei zusahen.


    „Liebe Jeanette, ich schicke dir diese kurze Nachricht, um mich noch einmal für mein ungestümes Vorgehen gestern Abend zu entschuldigen. Ich weiß, dass du viel durchmachen musstest. Ich versichere dir, dass ich alles daran setzen werde den Mörder von Malcolm zu finden. Als kleine Entschädigung für mein fehlerhaftes Verhalten, schicke ich dir diese Schachtel, mit den Pralinen, die du damals schon immer so sehr gemocht hast. Zudem habe ich mir erlaubt dir einen kleinen Strauß mit fünfzehn Rosen dazu zu geben. Ich hoffe, dass sie dir gefallen, ich habe sie heimlich aus dem Garten des Schlosses entwendet. Wie du siehst, mir ist nichts zu teuer und umständlich für dich. Trotz aller Gefahren und dem schlechten Wetter, habe ich die gestrige Nacht damit verbracht dir irgendwie eine Freude zu bieten. Du bist mein Sonnenschein, egal wie dunkel die Wolken des Schicksals auch sein mögen. Du bist meine ewige Liebe und tausend Worte könnten nicht genug sein, um das auszudrücken, was ich für dich seit jeher fühle. Allein für dich hat sich meine Teilnahme an diesem Ausflug gelohnt. Herzliche Grüße von deinem ewigen Verehrer – Thomas Jason Smith.“, schloss der schottische Polizist mit brüchiger Stimme.


    Die Anwesenden starrten sich schweigend und betreten an. Thomas erwartete wieder irgendeine negative Reaktion, doch die erfolgte zunächst nicht. Jeder schien auf seine Art und Weise im Stillen die neuen Erkenntnisse erst einmal zu verdauen. Thomas schluckte und blickte nervös seine Mitmenschen an. Der Schweiß lief ihm aus allen Poren, er bekam mit einem Mal viel schlechter Luft und schwankte leicht einen Schritt nach hinten. Mit einem drückenden Gefühl im Magen betrachtete er den Schuldirektor, der ihn mit unverhohlener Feindseligkeit anblickte und triumphierend und grimmig zugleich lächelte. Seine Frau blickte konsterniert weg vom Tisch und hatte ihre Arme auf die Tischplatte gestützt. Traurig schüttelte sie den Kopf. Neben ihr stand ihr schwedischer Liebhaber, der missmutig auf den Brief starrte, als ob er nur eine Sinnestäuschung wäre. Mamadou hatte sich neben die Tischplatte gekniet und kraulte sich nervös an seinem Kinn.


    „Ihr sagt alle nichts.“, stellte Thomas nach einigen Momenten des Schweigens halb wütend, halb enttäuscht fest. Auch jetzt reagierte keiner der Anwesenden und Thomas ging kopfschüttelnd hin und her und ließ sich schließlich kraftlos auf einen Stuhl fallen. Nervös verbarg er sein Gesicht in den Händen und atmete tief durch.


    „Ich habe diesen Brief im Zimmer von Jeanette gefunden, direkt auf ihrem Bett, neben der angebrochenen Schachtel mit den Pralinen. Sie müssen heute Morgen vor ihrer Tür gelegen haben.“, erläuterte Thomas nach einiger Zeit.


    Die Anwesenden reagierten nicht, sondern wirkten immer noch überrascht. Nervös räusperte sich der Schlossherr und lächelte Thomas höhnisch entgegen. Seine Gattin blickte nur betreten zu Boden und unterdrückte ihre Tränen, während ihr Liebhaber nah bei ihr stand, geistesabwesend ihre Hand hielt und Thomas eingehend musterte.


    „Ich weiß, was ihr jetzt von mir denkt.“


    Thomas hob seinen Blick, doch niemand blickte ihn an. Diese Einsamkeit und Ignoranz schmerzte ihn viel mehr, als eine offene Kritik, mit der er zunächst gerechnet hatte. Ungehalten sprang er auf und ließ seinem Unmut endlich freien Lauf.


    „Es ist aber nicht so wie ihr denkt. Ich bin kein Mörder. Genauso wie gestern das Trikot und der Liebesbrief von Jeanette präpariert worden sind, so wurde ich heute das Opfer der Person, die hinter all diesen Ereignissen steckt. Ich hätte euch ja wohl unmöglich den Beweis zu meiner eigenen Schuld jetzt abgeliefert, das müsst ihr doch einsehen! Ich weiß nicht, warum dieser erbärmliche Mörder uns alle gegeneinander aufhetzen will, aber wir müssen genau das Gegenteil von dem tun, was er erwartet. Wir müssen zusammenhalten und die Sache aufklären.“, sprach der junge Schotte sie voller Elan und Verzweiflung an.


    „Er hat recht. Gestern ist er im Zimmer des Toten niedergeschlagen worden, nachdem er einen gefälschten Liebesbrief an Malcolm, signiert von Jeanette, dort gefunden hatte. Der Täter verteilt jedem Opfer ein Geschenk und sobald er oder sie dieses öffnet oder benutzt, ist das endgültige Todesurteil praktisch unterschrieben. Die Person, die all dies tut, muss uns alle sehr gut kennen, sowohl die Vorlieben, als auch Beziehung der Toten und Verdächtigen untereinander.“, pflichtete Mamadou ihm schließlich bei und blickte die drei anderen Anwesenden erwartungsvoll und beinahe sanft an.


    Unwirsch erhob sich der Schlossherr aus seiner starren Position und fuchtelte wild mit den Händen in der Luft.


    „Sie versuchen uns hier irgendetwas von einer Verschwörung einzureden und verdrehen die Tatsachen. Mich legt ihr nicht rein. Ich werde jetzt auf der Stelle meinen Butler rufen und er wird diesen Mörder fesseln und knebeln und in die Maschinenräume meiner Yacht verfrachten. Sobald wir die Küste erreicht haben, werden wir ihn der örtlichen Polizei überliefern.“, erklärte er mit vor Wut zitternder Stimme und wies anklagend auf Thomas Jason Smith, der verbittert den Kopf schüttelte.


    „Jetzt sind Sie verzweifelt und suchen nach dem erstmöglichen Sündenbock.“, warf Mamadou ihm vor und in diesem Moment rastete der alte Direktor völlig aus.


    Er eilte unwahrscheinlich behände auf den Afrikaner zu, näherte seinen drohenden Zeigefinger furchtlos ganz nah dessen Gesicht an und blickte ihn mit unbarmherziger Brutalität an. Sein Gesicht hatte sich rot gefärbt und er atmete geräuschvoll ein.


    „Noch bin ich der Herr in diesem Schloss und ich werde bestimmen, was zu tun ist. Mir ist völlig egal, was ihr redet. Dieser Mann ist für mich der Schuldige und ihr könnt mir nicht das Gegenteil beweisen oder gar einen anderen Sündenbock liefern.“, ereiferte er sich und wandte sich energisch Thomas zu, der verwundert nach hinten wich und um ein Haar über eine Teppichkante stolperte.


    „Du wirst gar nichts entscheiden. Nicht du bist der Herr des Hauses, sondern ich. Es ist das Schloss meiner Familie und noch bestimme ich hier, trotz deines arroganten Despotismus. Du wirst ihn nicht einsperren.“, mischte sich Magdalena Osario ein und wandte sich erstmals konkret gegen ihren abscheulichen Ehemann.


    Der Österreicher fuhr grob herum, blickte die junge Spanierin erst verdutzt, dann empört an und raste mit einem mal wie ein Irrer auf sie zu. Drohend ballte er seine rechte Hand zur Faust und herrschte sie an.


    „Du wagst es, das Wort gegen mich zu erheben, du undankbare Schlampe?“, schrie er außer sich und beschleunigte seine Schritte, als er völlig unerwartet von der Seite einen Hieb gegen die Schläfe erhielt und brutal zu Boden geschleudert wurde.


    Mit einem Schmerzensschrei fuhr der Direktor herum und blickte in die wütende Fratze des schwedischen Lehrers, der sich breitbeinig und drohend vor ihm aufbaute. Magdalena Osario rannte verschreckt auf ihn zu und klammerte sich ängstlich an seinen Arm.


    „Du hast sie lange genug so behandelt, damit ist jetzt Schluss.“, herrschte Björn Ansgar Lykström ihn an und sah mit Genugtuung, wie sich der Österreicher mühsam und stöhnend aufrappelte. Zunächst sah es so aus, als wolle sich der Schlossherr unmittelbar auf seinen Gegner stürzen, doch mit einem Mal wandte er sich wutschnaubend um und hastete ohne sich umzublicken auf die Tür zu seinem Arbeitszimmer hin, die er wuchtig hinter sich zuwarf.


    „Du hättest es nicht tun sollen, er wird sich furchtbar rächen.“, warf Magdalena Osario ein.


    „Er hat es nicht anders verdient. Unsere Zeit ist gekommen und auch er weiß es und wird es nicht verhindern können.“, antwortete der Schwede mit grimmiger Miene.


    Thomas und Mamadou blickten sich sprachlos an, als der Schwede zu ihnen trat.


    „Wir werden schon gemeinsam zu verhindern wissen, dass er irgendetwas Unüberlegtes tut. Ich denke, wir sollten so schnell wie möglich die Abreise vorbereiten.“, meinte er.


    „Sie glauben also an meine Unschuld?“, fragte Thomas Jason Smith geradeheraus.


    Sein Gegenüber überlegte kurz und fixierte ihn eindringlich, bevor er grimmig mit dem Kopf nickte und ihm die Hand auf die Schulter legte.


    „Sie sind gewiss kein Mörder. Der Typ sind Sie einfach nie gewesen, auch schon zu Schulzeiten nicht. Sie sind zwar emotional und nach außen hin hart, aber sie haben einen weichen und ehrlichen Kern“, erwiderte er einfühlsam.


    Beide blickten sich eindringlich an, bis Mamadou dazwischen trat.


    „Damit wäre das geklärt. Wir sollten uns aber nicht ausruhen. In diesem ominösen Brief war vom Garten die Rede. Irgendwer wird dort die Rosen gepflückt haben, denn wo sollte es sonst welche hier geben. Vielleicht finden wir dort ja irgendwelche Spuren.“, warf er mit neuem Optimismus und Tatendrang ein.


    „So ein Profi macht keine Fehler.“, entgegnete Thomas resigniert, doch Mamadou klopfte ihm auf die Schulter und lächelte tiefgründig.


    „Das gilt es herauszufinden. Jeder macht Fehler.“

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