by Sebastian Kluth
Kapitel 35: Donnerstag, 14 Uhr 06, Arbeitszimmer
Thomas Jason Smith brauchte nach diesem Verhör erst einmal eine Pause, die ihm von seinem Kollegen auch zugestanden wurde. Nachdenklich zündete er sich eine seiner russischen Zigaretten an und blies den Rauch in den Raum und starrte ihm verloren nach. Mamadou hatte den Raum leise verlassen und war zur Küche gegangen, wo es einen Kühlschrank gab, der nicht abgeschlossen war. Er holte zwei Flaschen Wasser und zwei Becher und kehrte zurück ins Arbeitszimmer. Er warf einen Blick auf die anwesenden Gäste, die jetzt ruhiger geworden waren, abseits voneinander saßen und ihren Gedanken nachhingen oder ihn erwartungsvoll anblickten. Lediglich der erzürnte österreichische Schlossherr meldete sich energisch zu Wort, was natürlich auch Thomas vernahm.
„Wer erlaubt Ihnen denn einfach so unbefugt über mein Schloss zu verfügen? Sie können sich doch nicht einfach dort etwas zu trinken herausholen!“, fuhr er ihn an und stand auf.
„Ich habe den Koch gestern danach gefragt. Er hat gesagt, dass wir jeder Zeit auf den unverschlossenen Kühlschrank Zugriff hätten.“, erwiderte Mamadou gelassen und wahrheitsgetreu.
„Eine Frechheit ist das. Erst blockieren Sie mein Arbeitszimmer und nun auch noch das! Sie sollten mich fragen und nicht diesen Koch, er ist nur ein dummer Angestellter und hat gar nichts zu bestimmen!“, gab der Schlossheer zurück und blickte den Afrikaner streng an.
„Das tut mir leid. Ich konnte nicht wissen, dass Sie beide so verschiedene Ansichten haben. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden!“, brach Mamadou das aufkommende Streitgespräch entnervt ab und trat zurück ins Arbeitszimmer.
Der Direktor blickte ihm erzürnt hinterher und wandte sich wieder zu den restlichen Gästen um und ließ sich demonstrativ in einen der Ledersessel fallen. Gwang-jo war auf das Streitgespräch aufmerksam geworden und witterte eine neue Mordtheorie. Lauernd trat er an den Direktor heran.
„Sagen Sie, wo befindet sich der Koch eigentlich?“
„Er hält seinen Mittagsschlaf. Das macht er immer, seitdem ich ihn kenne.“, erwähnte der Direktor knapp und unwirsch ohne sein Gegenüber auch nur anzusehen.
„Jedenfalls sagt er das. Vielleicht macht er ja etwas ganz Anderes. In jedem Fall ist er bislang nicht befragt worden.“, gab der Koreaner lauernd zurück.
„Sie meinen doch wohl nicht, dass der alte Mann dahinter stecken könnte?“, rief der Direktor mit einem unechten Lachen und drehte sich erstmals zu seinem Gesprächspartner um, der ihn böse lächelnd anblickte.
„Nach der Reaktion des Butlers möchte ich gar nichts mehr ausschließen. Vermutlich stecken die beiden unter einer Decke.“, entgegnete der Koreaner kalt.
„Das hätte ich gemerkt.“, gab der Direktor energisch zurück, als die Tür des Arbeitszimmers wieder aufschwang.
Die beiden Männer wurden in ihrer Diskussion unterbrochen, denn Thomas, der die letzten Gesprächsfetzen fast schon hilflos kopfschüttelnd mitbekommen hatte, bat mit lautstarker Stimme Marilou Gauthier zu sich, die langsam in Richtung des Arbeitszimmers trottete und niemanden dabei ansah. Der Direktor sah ihr aufmerksam hinterher und konnte sich ein süffisantes Lächeln nicht verkneifen.
„Sie gefällt Ihnen, nicht wahr?“ sprach der Koreaner, dem die versteckte Reaktion nicht entgangen war, ihn laut an. Der Direktor fuhr aus seinem Sessel hoch und packte den verduzten Provokateur an den Schultern.
„Passen Sie ja auf, was Sie sagen!“, herrschte er ihn an und sah aus den Augenwinkeln wie Marilou Gauthier sich langsam zu den beiden umwandte, grimmig den Kopf schüttelte und wieder umdrehte.
Mamadou blickte grimmig in Richtung der beiden Streithähne, die dies bemerkten, voneinander abließen und sich weit von einander entfernt hinsetzten, aber noch einige Male feindlich anblickten. Abdullah Gadua hatte das kurze Streitgespräch mit Verwirrung verfolgt und schüttelte nachdenklich und unbehaglich den Kopf.
Mit einem energischen Knall schloss sich die Tür des Arbeitszimmers wieder hinter der Kanadierin. Es kehrte eine unbehagliche Ruhe im Speisesaal ein.
Marilou Gauthier wirkte beinahe erschreckend emotionslos und kalt, als sie in das Arbeitszimmer trat. Sie sah die beiden Ermittler gar nicht an und setzte sich fast mechanisch auf den Ledersessel. Nachdenklich blickte sie nach vorne, doch sie sah durch die Gesichter der beiden Ermittler hindurch.
Mamadou sah Thomas nachdenklich an und schickte ihm mit hochgezogen Augenbrauen ein nachdenkliches Kopfschütteln entgegen. Auch Thomas sah die Frankokanadierin mit nachdenklicher Miene an. Ihm war bewusst, dass die junge Frau in den letzten Jahren einige Schicksalsschläge erlitten hatte und gelegentliche Depressionen hatte, von denen auch ihr Mann gesprochen hatte. Thomas bemerkte, dass die unheimliche Dame sich grundsätzlich aus allen Gesprächen heraushielt, selbst die Anwesenheit ihres Mannes zu meiden schien und einen unglücklichen und deplazierten Eindruck bei diesem Treffen machte. Der schottische Polizist war unsicher, wie er das Verhör überhaupt beginnen sollte und stellte sich die begründete Frage, ob die Ehefrau Gaduas überhaupt mit ihnen reden würde. Er wusste nicht so recht, wie er die Frau einschätzen sollte.
Mamadou wirkte ebenfalls ratlos und kratzte sich nachdenklich an der Stirn. Schließlich versuchte er auf eine einfühlsame, interessierte und freundliche Gesprächsweise mit der mysteriösen Kanadierin ins Gespräch zu kommen. Er räusperte sich leicht um die Aufmerksamkeit der starren Frau zu erhalten, doch diese blickte weiter trist und unbeirrt ins Leere. Der Ghanaer geriet kurz ins Stocken, gab sich aber einen Ruck und fuhr dann doch entschlossen fort.
„Frau Gauthier. Sie wirken auf uns sehr distanziert und seit dem Beginn dieses Treffens sehr unglücklich. Sie scheinen etwas auf dem Herzen zu haben.“, begann Mamadou vorsichtig und versuchte sich vergeblicherweise in das Blickfeld der Anwesenden zu stellen.
Die Kanadierin starrte starr an ihm vorbei und zuckte mit den Schultern. Zu einem Gespräch schien sie vorerst nicht bereit zu sein. Mamadou wollte so schnell jedoch nicht aufgeben.
„Haben Sie ein Problem mit ihrem Mann oder fürchten Sie sich vor einer bestimmten Person, die hier anwesend ist?“, fragte der Afrikaner weiter und war erstaunt, dass er eine unerwartete Antwort enthielt.
„Ich habe meine Furcht inzwischen abgelegt.“, antwortete sie kalt und mit kratziger Stimme. Mamadou und Thomas schauten sich erstaunt an.
„Hatten Sie denn schon einmal vor jemandem der Anwesenden Angst?“, wollte Thomas wissen und die Zeugin begegnete ihm mit einem Blick, der ihn frösteln ließ. Ihr Blick wirkte starr und kalt und fast grausam. Der Schotte bekam eine unangenehme Gänsehaut, aber keine Antwort auf seine Frage.
„Haben Sie vielleicht gestern Nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt? Wo haben Sie sich überhaupt aufgehalten?“, fragte Mamadou weiter, obwohl ihm die Situation immer unangenehmer wurde.
„Nein. Ich schlief. Mir ging es nicht gut.“, gab sie knapp zu Protokoll und starrte wieder emotionslos ins Leere.
Thomas warf Mamadou erneut einen bedeutungsschweren Blick zu. Sie sahen beide ein, dass sie hier nicht so recht weiterkamen. Der Schotte wollte dennoch nicht aufgeben.
„Was war denn Ihre Motivation überhaupt an diesem Treffen teilzunehmen?“, wollte er wissen.
„Ablenkung.“, gab Marilou Gauthier knapp und direkt zurück. Thomas ließ nur dieses eine, barsch und kalt gesprochene Wort wieder frösteln.
„Wovon wollten Sie sich denn ablenken?“, fragte Mamadou anstelle seines Kollegen.
„Ich habe eine schwere Zeit hinter mir.“, gab die Kanadierin immer noch gefühllos zurück.
„Ist Ihnen die Ablenkung hier denn gelungen?“, wollte Mamadou noch wissen.
„Wir wurden ja alle gewissermaßen gestört.“, erwiderte die Kanadierin und spielte damit auf den mysteriösen Doppelmord an.
„Sie scheint das ja nicht sonderlich zu treffen.“, stellte Thomas fest, der jetzt auch wieder versuchte der unheimlichen Frau einige Informationen in diesem Verhör abzuverlangen.
„Ich habe mit der Zeit gelernt mit Schicksalsschlägen umzugehen.“, gab Marilou entnervt und arrogant zurück und wich den Blicken der Ermittler aus.
„Sind Sie emotional so abgehärtet, dass Sie auch einen Mord begehen könnten?“, brachte Mamadou das Verhör auf den Punkt.
Marilou blickte zum ersten Mal auf und Mamadou nachdenklich und intensiv an. Auch der Afrikaner empfand dabei ein unangenehmes Schauern, schaffte es jedoch ihrem Blick stand zu halten. Er glaubte in die Tiefen einer verletzten und dunklen Seele zu Blicken, als er sich in den trüben Augen der Kanadierin verlor. In ihrer Jugend war Marilou ein gutaussehendes, aufmerksames Mädchen gewesen, doch in den letzten Jahren war sie unwahrscheinlich gealtert und hatte beinahe die Augen einer Greisin, sodass der Ghanaer nicht umher kam an eine böse alte Hexe aus dem Wald zu denken, die in gewissen Märchen so oft und grausam in Erscheinung tritt. Automatisch dachte er bei diesem Stichwort an die vermummte Gestalt aus dem Dickicht neben dem Schloss und schüttelte unbehaglich den Kopf.
„Mein Leben ist bereist zerstört und ich weiß wie schlimm dies ist. Warum sollte gerade ich das Leben anderer Menschen ebenso zerstören wollen?“, fragte sie nach einer Weile des drückenden Schweigens und blickte ihr Gegenüber erwartungsvoll an. Thomas glaubte in ihrem Augenwinkel nun doch so etwas wie eine Emotion, eine versteckte Träne zu sehen. Vor ihm saß eine gebrochene Person, die ihm nichts vorspielte.
Mamadou hingegen war von dem Blick der ungewöhnlichen Frau beinahe paralysiert, doch Thomas sprang jetzt wieder für ihn ein. Die beiden ergänzten sich in dieser schicksalhaften Zwangslage mehr und mehr zu einem soliden Team.
„Vielleicht aus Rachsucht.“, warf Thomas ein und sein Kollege sah ihn erstaunt an. Die Kanadierin antwortete mit einer gehässigen Lache.
„Sie spielen auf dieses französische Flittchen an. Ich bin mir bewusst, dass mich mein Mann mal mit ihr betrogen hat. Das ist aber viele Jahre her. Wenn Rachsucht das Motiv wäre, dann gäbe es genug andere Anwesende, die unter noch akuterem Tatverdacht stehen würden.“, gab Marilou zurück und löste sich erstmals von ihrer arroganten Lethargie, die einer bitteren Wut gewichen war.
„Auf wen spielen Sie denn jetzt an?“, wollte Mamadou wissen.
„Da gibt es einige Möglichkeiten. Im Gegensatz zu den anderen Anwesenden ziehe ich es allerdings vor niemanden wissentlich anzuschwärzen und wagemutige Vermutungen aufzustellen.“, gab Marilou energisch zurück und blickte die beiden Ermittler grimmig an.
„Das ist vielleicht auch klüger. Eine Panik könnte dem Täter nur von Nützen sein.“, gab Mamadou zu bedenken.
„So wie sich einige Anwesende benehmen braucht sich dieser Mörder gar nicht mehr zu bemühen. Die Unruhe entsteht von ganz allein.“, bemerkte Marilou.
„Sie scheinen ein sehr gutes, analytisches Verständnis zu haben.“, bemerkte Thomas ein wenig beiläufig. Marilou wandte sich ihm zu und blickte ihn herausfordernd an.
„Wollen Sie damit etwas andeuten?“, fragte sie kalt.
„Fühlen Sie sich denn herausgefordert?“, wollte Thomas im Gegenzug wissen.
„Nein, denn ich versuche einfach nur einen kühlen Kopf zu bewahren. Der Täter scheint ja emotionale Menschen mit Vorliebe zu töten. Wer sich nicht auf seine Gefühle einlässt, der wird auch die Gefahren vorhersehen.“, bemerkte die Kanadierin.
Thomas Jason Smith musste darüber nachdenken. Er gestand sich ein, dass die kühle Kanadierin durchaus richtig lag. Malcolm war vielleicht gestorben, weil er eine heftige Passion für Jeanette empfunden hatte. Jeanette war vermutlich wegen ihrer Liebesbeziehungen zu irgendjemandem gestorben und weil sie das Geschenk eines vermeintlichen Verehrers als romantische Botschaft angesehen hatte, anstatt einen Verdacht zu schöpfen. Thomas dachte darüber nach, welcher der anwesenden Gäste ebenfalls sehr emotional oder leichtgläubig war und auf der nächsten Abschussliste stehen könnte.
„Eine interessante Theorie. Sie kennen sich gut aus.“, bemerkte nun auch Mamadou in einer Mischung aus Erstaunen und sarkastischem Spott.
„Glauben Sie mir, ich weiß worauf Sie anspielen. Ich bin keine Mörderin. Ich war gestern die gesamte Zeit mit meinem Mann zusammen oder habe geschlafen, als es mir schlecht ging und er gegangen war. Ich bin einfach nur heilfroh, wenn wir diese Insel gleich verlassen.“, unterbrach die Kanadierin den Ermittler barsch.
Thomas fiel noch eine letzte Sache in. Er wusste nicht, warum er es bei dieser Frau tat und bei anderen Verdächtigen nicht getan hatte, aber er vertraute auf seine plötzliche Eingebung, seinen polizeilichen Instinkt.
Er holte den Schlüsselanhänger aus seiner Tasche, der sich inzwischen in einem Plastikbeutel befand. Er nahm ihn und hielt ihn der Kanadierin unter die Nase. Diese sah das Schmuckstück gebannt an und runzelte die Stirn.
„Was soll ich damit anfangen?“, fragte sie unwirsch und hektisch.
„Wir haben das im Garten gefunden. Es gehört vermutlich dem Täter, da es bei den Rosen lag, die man der Toten aus den Beeten hatte zukommen lassen.“, erläuterte Thomas nüchtern.
Draußen hörte man wieder ein dunkles Grollen und einen weiter entfernten Blitzschlag. Es regnete derzeit nicht mehr, aber die Anwesenden würden bald aufbrechen müssen, um von der einigermaßen akzeptablen Wettersituation zu profitieren. Eine Überfahrt zur Küste bei einem neuen Sturm erschien viel zu riskant, da selbst die stabile Yacht bei diesen Wetterverhältnissen leicht kentern konnte.
„Ich habe das noch nie gesehen. Diesen Mann kenne ich auch nicht. Das könnten alle möglichen Menschen sein. Haben Sie sonst noch Fragen?“, fragte Marilou schnell und drehte ungefragt den Spieß um. Plötzlich wurde sie zur Ermittlerin und Mamadou und Thomas wurden verhört.
„Nein, vorläufig nicht.“, antwortete der Schotte mit einem Kloß in seinem Hals.
„Dann werde ich jetzt gehen dürfen?“, hakte Marilou ungeduldig nach.
„Ja. Bitte schicken Sie noch den Schlossherrn hinein. Sagen Sie ihm auch, dass er den Koch vorher wecken soll und mit ihm hierhin kommen darf.“, gab Mamadou zurück und starrte Marilou in einer Mischung aus Unverständnis und Faszination an.
„Bin ich die Ermittlerin? Richten Sie es ihm selber aus.“, gab sie ungehorsam zurück, stand unaufgefordert auf und näherte sich der Tür des Arbeitszimmers, die sie schwungvoll aufmachte. Sie wandte sich nicht mehr um und verschwand aus dem Blickfeld der beiden überrumpelten Ermittler.
Nachdenklich blickte Thomas auf den verpackten Schlüsselanhänger. War er die Lösung, der Schlüssel zum Täter? Sein Instinkt bezüglich Marilou Gauthier schien ihn zumindest getrogen zu haben. Die Frau schien wirklich nichts zu wissen. Aber er konnte sie auch nicht so recht einschätzen. Die kalte Frankokanadierin blieb für ihn ein ungeklärtes Phänomen. Vielleicht würde er diesem eines Tages gezwungenermaßen auf die Spur kommen.
Mit einem empörten Kopfschütteln verließ Mamadou das Arbeitszimmer, um sich gleich persönlich an einen lamentierenden selbsternannten Schlossherrn und Direktor zu wenden.