by Sebastian Kluth
Kapitel 36: Donnerstag, 14 Uhr 32, Arbeitszimmer
Thomas und Mamadou saßen an dem soliden Holztisch des Arbeitszimmers und hingen ihren Gedanken nach. Thomas hatte sich eine weitere Zigarette angezündet und blies den Rauch gen Zimmerdecke. Mamadou hustete verhalten und rümpfte ein wenig die Nase.
Thomas wurde aus Marilou Gauthier einfach nicht schlau. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass sie irgendetwas verbarg. Er dachte aber gleichzeitig auch an andere Anwesenden wie den mysteriösen Butler oder den aufbrausenden Koreaner, die auch etwas zu verbergen hatten. Die ganze Sache wurde immer komplexer und undurchsichtiger. Drei Personen würden sie noch befragen müssen. Dabei handelte es sich um den mürrischen Schlossherrn und Direktor und seinen stillen, alten Koch und um den eher introvertierten Türken Hamit Gülcan, von dem Thomas noch gar kein rechtes Bild hatte. Der Mann wirkte immer unbeteiligt, aber nicht so unhöflich und abweisend wie die Frankokanadierin. Die Offerten der schönen Französin hatte er allerdings immer abgewehrt. Er schien absolut kein Motiv zu haben. Auf der anderen Seite war der Täter aber auch ein guter Beobachter, der die Fehler und Leidenschaften der einzelnen Anwesenden schamlos ausnutzte. Gerade der Türke war ein ruhiger, außenstehender Beobachter und somit doch irgendwie für die Täterfrage prädestiniert. Thomas stützte seinen schweren Kopf auf seine Hände, die er auf den Holztisch gestemmt hatte. Vielleicht gab es ein ganz anderes Motiv, als sie alle glaubten. Vielleicht hatten die beiden Morde gar nichts mit Rachsucht, Neid oder einer verkappten Liebesbeziehung zu tun. Vielleicht befand sich einfach ein Irrer unter ihnen, der aus irgendwelchen Gründen Einen nach dem Anderen hinterhältig um die Ecke bringen wollte. Thomas erschauderte bei dem Gedanken daran und nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Wasserflasche.
Mamadou war inzwischen aufgestanden und musterte die Bücher des Schlossherrn, von denen es zahlreiche gab. Es waren hauptsächlich theologische Bände, aber auch einige geschichtliche und politische Bücher vorhanden. Der Ghanaer blieb schließlich vor einer kleineren Sektion stehen, deren Inhalte ihn mehr interessierten. Es war eine kleine Reihe über die bekanntesten Kriminalverbrecher der Welt. Daneben befanden sich einige Bücher, die sich mit Alchemistik und Chemie beschäftigten. Bei diesem Stichwort musste der Afrikaner unwillkürlich an die vergifteten Pralinen denken und die seltsame Flüssigkeit, die sich an dem Dudelsack befunden hatte. Sicherlich handelte es sich dabei um chemische Zusammensetzungen. Dennoch nahm der Ghanaer zunächst ein Buch der anderen Reihe aus dem Regal und schlug es auf. Nach einigen Seiten entdeckte er Markierungen und Randnotizen. Mamadou sah sich auch einige Zeichnungen an, die zum Teil die Täter oder auch die zerstückelten Opfer meist in schwarz-weiß darstellten. Der Afrikaner durchforstete das Register des ersten Buches nach bekannten Namen. Er las dort von Ted Bundy, der zwischen 1974 und 1978 mindestens 28 junge Frauen und Mädchen vergewaltigt und getötet hatte oder auch von dem Kannibalen Karl Denke, auf dessen Konto mindestens 31 Menschenleben gingen oder auch von dem berühmten Serienmörder Fritz Haarmann, der als Vampir oder Werwolf von Hannover berühmt geworden war.
Mamadou klappte das Buch zu, als sich die Tür des Arbeitszimmers öffnete. Der Schlossherr trat mit strammen Schritt ein, gefolgt von dem Koch, der noch ein wenig verschlafen wirkte und sich unbeteiligt umsah.
„Was machen Sie da mit meinen Büchern? Wer hat Sie befugt meine Materialien ansehen zu dürfen?“, herrschte der Österreicher Mamadou an, der das Buch langsam wieder zurück ins Regal stellte.
Bevor er überhaupt etwas erwidern konnte, hatte sich der hagere Direktor ein weiteres Opfer auserkoren, nämlich Thomas, der auch nicht ungescholten davon kam.
„Was bilden sie sich ein in meinem Arbeitszimmer zu rauchen? Sie verpesten die ganze Luft. Sobald die ganze Sache vorbei ist, werde ich Sie auf Schmerzensgeld verklagen. Ich habe gute Anwälte, das können Sie mir glauben.“, wetterte er weiter und setzte sich erst nach einer Weile in seinen Ledersessel, über dessen Lehne er fast zärtlich strich. An seinen Einrichtungsgegenständen schien ihm viel zu liegen. Dass der Schlossherr selbst seine Zigarren im Arbeitszimmer rauchte, schien er völlig ausgeblendet zu haben. Er war einfach nur auf eine weitere Provokation aus und wollte sich und den Anwesenden beweisen, dass er der Herr im Hause war. Dabei ging er aber eindeutig zu weit.
Thomas erwähnte auch einfach nichts und rauchte provokativ weiter. Bevor die Situation eskalieren konnte, griff Mamadou ein und bat seinen Kollegen die Zigarette auszumachen. Thomas befolgte den Rat nur widerwillig. Der Direktor hustet und versuchte mit hektischen Handbewegungen den leichten Rauch zu vertreiben.
„Herr Wohlfahrt, Sie scheinen sich ja sehr für Serienmörder zu interessieren. Sie haben einige Bücher und diese auch ausführlich durchgearbeitet und markiert.“, stellte Mamadou fest.
„Sie elender Schnüffler hängen mir gar nichts an. Ich interessiere mich für viele Dinge. Ich wollte über die wichtigsten Kriminalfälle im Zusammenhang mit ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden ein Buch schreiben.“, stellte der Direktor energisch fest.
„Deshalb scheinen Sie sich so ausgezeichnet mit Elaine Maria da Silva zu verstehen.“, bemerkte Thomas beiläufig.
„Im Gegensatz zu Ihnen ist sie sehr respektvoll und charmant.“, gab der Schlossherr mit drohendem Unterton zurück.
„Sie scheinen sich ja vermehrt für jüngere Damen zu interessieren.“, gab Thomas gereizt zurück und mit einem Mal herrschte eine bedrohliche Stille in dem Arbeitszimmer, selbst Mamadou blickte seinen Kollegen überrascht an und auch der Koch war mit einem Mal aufmerksam und interessiert.
Der Österreicher bebte vor Wut, ballte seine Hände zu Fäusten, sein Gesicht nahm einen bedrohlich rötlichen Farbton an. Er krallte seine Hände in die Lehne des Ledersessels und sprang mit einem Mal behände auf.
„Nehmen Sie das sofort zurück.“, sagte er leise und bedrohlich und näherte sein Gesicht dem schottischen Ermittler, der grimmig, aber noch ruhig sitzen geblieben war.
„Ich habe einen wunden Punkt getroffen, wie mir scheint.“, gab Thomas mit einem bösen Lächeln zurück und der Direktor konnte sich nicht mehr beherrschen.
Er holte mit seiner rechten Hand zu einer schallenden Ohrfeige aus, doch der Schotte sprang selbst auf und blockte den Schlag mit einem schnellen Reflex ab. Der Direktor gab jedoch nicht so schnell auf und wollte ihm mit der anderen Hand einen Kinnhaken verpassen. Der alte Direktor war erstaunlich schnell und kräftig trotz seiner schmächtigen Statur und seines fortgeschrittenen Alters und Thomas hatte große Mühe diesem Angriff noch auszuweichen. Es gelang ihm doch im letzten Moment, da er sein Gesicht zur Seite drehte, sich leicht zur rechten Seite beugte und dabei den Stuhl hinter sich umstieß. Scheppernd fiel der Stuhl zu Boden und Thomas stolperte und fiel ebenfalls der Länge nach hin, während der Schlag selbst ihn nur leicht gestreift hatte.
Mamadou war inzwischen um den Tisch herumgeeilt und wollte eingreifen, doch dies war nicht mehr nötig. Der Direktor machte auf dem Absatz kehrt und marschiere zielstrebig zur Tür. Mamadou wollte ihn aufhalten, doch der Direktor fuhr herum und blickte ihn böse an. Seine Hand lag bereits am Türgriff.
„Ich lasse mich in meinem eigenen Haus nicht so behandeln. Verlassen Sie sofort das Zimmer und führen Sie Ihre verdammten Ermittlungen irgendwo anders durch.“, herrschte er den Ghanaer an.
„Sie leisten Widerstand gegen polizeiliche Ermittlungen.“, gab dieser kalt zurück, doch sein Gegenüber reagierte darauf nur mit einem fiesen und unechten Lachen.
„Sie sind nicht offiziell hier und zudem habe ich in meinem Haus noch das Sagen.“, stellte Doktor Marcel Wohlfahrt grimmig fest und drückte die Türklinke herunter.
Auch Thomas hatte sich inzwischen aufgerappelt und eilte auf den Österreicher zu. Er war rasend vor Wut und stieß seinen eigenen Kollegen grob zur Seite.
„Es ist Ihnen wohl klar, dass Sie ab jetzt der Hauptverdächtige sind. Niemand wird Sie entlasten wollen und können. Außerdem ist das nicht Ihr Haus, sondern das Ihrer Frau. Sie spielen sich als Schlossherr auf, aber in Wirklichkeit sind Sie ein geisteskranker Sadist.“, herrschte Thomas ihn an und näherte sein Gesicht bis auf wenige Zentimeter dem seines Gegenübers.
Mamadou ergriff den Arm des Schotten und zog ihn resolut zurück. Thomas wehrte sich nicht gegen seinen Kollegen, da er ihn nicht verletzen wollte, doch er wurde von Wohlfahrt weiterhin provoziert. Mit einem fiesen Lachen wies dieser mit seinem linken Zeigefinger auf den erregten Schotten.
„Sie sind für mich der Hauptverdächtige. Ihre Beziehung zur Toten, ihre emotionalen Ausbrüche, die unglaubwürdige Geschichte mit diesem Wolf. Sie sind der Irre. Sie waren nicht umsonst im Kloster, um dort ihren kranken, gestörten Kopf frei zu kriegen. Es ist mehr als deutlich, dass Sie mit diesem Vorhaben gescheitert sind!“, fuhr Wohlfahrt ihn an, riss die Tür auf und trat energisch in den Speisesaal. Wuchtig schlug er die Tür hinter sich zu und ließ drei verdutzte und empörte Männer in seinem Arbeitszimmer zurück.