by Sebastian Kluth
Kapitel 106: Samstag, 20 Uhr 22 Eingangshalle
Thomas war mit raumgreifenden Schritten zur breiten Treppe gegangen, die wieder in den düsteren Eingangsbereich führte. Der Schotte warf einen unbehaglichen Blick zu dem Brunnen mit der Riesenschlange, die ihn drohend zu fixieren schien. Thomas sah sich aufmerksam um, doch von der aufgebrachten Kanadierin und ihrem verschüchterten Gatten fand er keine Spur.
Als Thomas den Schweden gesehen hatte, war ihm sofort der Gedanke gekommen, dass der geistig verwirrte Lehrer allein unterwegs war und somit eine leichte Zielscheibe für den Täter wäre. Der engagierte Polizist hatte sich vorgenommen den Mann abzupassen und ihn bei Elaine und sich zu integrieren. So hätte Thomas ihn auch besser im Auge, für den Fall, dass er in seiner Verwirrung sich selbst oder anderen Anwesenden Schaden zufügen würde.
Endlich hatte der Schotte den Eingangsbereich erreicht, in dem es inzwischen bitterkalt war, da der Wind geräuschvoll unter dem großen Portal hindurch in die Halle pfiff. Fröstelnd verharrte Thomas, als er plötzlich in seinem Rücken ein düsteres Knarren hörte, das ihm das Blut in de Adern gefrieren ließ.
Mit gesträubter Gänsehaut wandte sich Thomas langsam um, als ihn ein kräftiger Windzug im Gesicht traf und seine Sicht für wenige Augenblicke einschränkte. Dann ertönte plötzlich ein lautes Donnern, gefolgt von einem grellen Blitz, der über dem Meer zu explodieren schien und den Schotten heller als tausend Sonnen zu blenden schien.
Fluchend senkte Thomas den Blick, deckte sein Gesicht mit den Händen ab und lugte dann in Richtung des geöffneten Portals, in dem bewegungslos und triefend vor Nässe ein übergroßer Schatten stand. Ein wahnsinniges Kichern ertönte, als dieses auf einmal durch einen ohrenbetäubenden Knall unterbrochen wurde, da ein heftiger Luftzug das Portal nun wieder brutal zugedrückt hatte.
Thomas kam sich vor wie in einem schlechten Horrorfilm und schauderte, als Björn Ansgar Lykström humpelnd näher kam und Thomas aus großen Augen anstarrte. Die Kleidung des Schweden war völlig durchnässt, seine Hose wild zerrissen, blutige Kratzer befanden sich ins einem Gesicht und aufs einen Armen und die ursprüngliche Farbe der Jacke war durch die braunen Ablagerungen kaum mehr zu erkennen. Hätte Thomas es nicht besser gewusst, so hätte er glauben können, dass sich ein Wilder vor ihm befand, der sich seit Jahren nicht mehr gewaschen und seit ewigen Zeiten den Bezug zur Gesellschaft verloren hatte. Es fehlte nur noch das vermeintliche Opfer des Schweden, um das morbide Ambient entgültig perfekt zu machen. Doch die Leiche des Koreaners hatte Björn Ansgar Lykström vermutlich irgendwo im Dickicht gelagert.
Dann fiel der Blick des Schotten auf den spitzen, gefährlichen Gegenstand, den der Schwede krampfhaft mit seiner rechten Hand umklammert hielt. Als er die aufflackernde Angst im Gesicht des Schotten bemerkte, kicherte der ehemalige Lehrer dämlich und trat noch näher an ihn heran. Der Schwede war mit einem spitz zulaufenden, länglichen Stück Holz bewaffnet, das er wohl irgendwo im Dickicht aufgetrieben hatte. An und für sich war dies zwar keine sonderlich effiziente Waffe, doch wenn der Schwede Thomas nun aus nächster Nähe attackieren und einen Glückstreffer landen würde, könnte dieses Stück Holz verdammt tödlich sein.
Daher wich Thomas im Anbetracht dieser Tatsache auch weiter zurück, hob abwehrend die Arme und versuchte beschwichtigend auf sein Gegenüber einzureden und diesem auf kindliche und überlegen-besonnene Art einzureden, dass es keinen Grund zur Aufregung gab.
„Herr Lykström, machen Sie jetzt bitte keinen Unsinn. Legen Sie diese Waffe ruhig auf den Boden. Sie müssen mir nichts tun, ich will Ihnen nur helfen, ich bin nicht Ihr Feind! Ich bitte Sie, lassen Sie uns in aller Ruhe miteinander reden, so etwas macht doch gar keinen Sinn. Herr Lykström, seien Sie doch vernünftig, hören Sie mir zu.“, redete Thomas auf den Schweden ein, doch dieser stapfte mit stierem Blick weiter auf den Schotten zu, bis dieser plötzlich gegen etwas Kaltes und Robustes stieß.
Verängstigt fuhr der Schotte herum und blickte in die Höhe, wo ihn ein grausamer Schlangenkopf höhnisch anzublicken schien. Sein verwirrter Gegner hatte seinen Schritt inzwischen beschleunigt und wollte den überraschten Thomas in die Enge zwängen. Der Polizist blickte sich hektisch und verzweifelt nach einer Ausweichmöglichkeit um. Hinter ihm stand der Brunnen, den er in der Schnelle kaum erklimmen konnte, zu seiner rechten Seite befand sich die Treppe mit dem Geländer, wo er auch nur schwerlich weitergekommen wäre und direkt vor ihm stand der irre Schwede. Folglich blieb ihm nur die Flucht nach links, doch zuvor ließ er noch einmal sein rhetorisches Talent spielen.
„Herr Lykström, legen Sie die Waffe sofort nieder! Kommen Sie endlich zu sich, verdammt noch mal! Ihr lächerliches Verhalten macht ihre Geliebte auch nicht wieder lebendig und Sie würden dem Mörder nur die Arbeit erleichtern. Schluss jetzt!“, fuhr Thomas den Schweden deutlich an und versuchte seiner Stimme einen harten Klang zu geben, um das unterschwellige Beben zu kaschieren.
In just diesem Moment sah Thomas wie es in den Augen des ehemaligen Lehrers kurz aufblitzte, als dieser seinen Waffenarm hochriss und mit einem animalischen Schrei zustieß. Die Waffe zielte direkt auf die rechte Brustseite des Schotten und hätte selbige auch ohne Zweifel durchbohrt, wenn dieser nicht so rasch reagiert hätte.
Dieses Mal war es seine Polizeiausbildung, die ihm sein Leben rettete. Er hatte es verstanden die Körpersprache des Verrückten zu lesen und das gefährliche Aufblitzen in den wahnsinnigen Augen instinktiv richtig gedeutet. Fast ansatzlos hatte Thomas sich daraufhin zur Seite katapultiert und spürte in seinem Rücken noch den Luftzug der Waffe, die gegen das harte Gestein des Brunnens prallte, während Thomas hart auf dem Boden aufschlug, sich rasch abrollte und dann in dem Verbindungstrakt zwischen der Eingangshalle und der Bibliothek wieder aufrecht stand.
Der Schwede hatte inzwischen enttäuscht aufgeschrien und sich langsam und ungläubig umgewandt. Mit offenem Mund starrte er Thomas an, dessen Herz bis zum Hals schlug und bei dem der Schweiß aus allen Poren des Körpers drang.
Der Schwede wirkte wie ein verwirrtes Kleinkind, dem man soeben die Puppe aus den Händen gerissen hatte. Dieser Vergleich kam Thomas in den Sinn, doch er mochte nicht wirklich zu der gefährlichen Situation passen.
Mit einem mörderischen Kampfschrei riss der Schwede seine Waffe wieder hoch und stürmte geradewegs auf Thomas zu, der instinktiv hinter sich griff, wo sich die alte Ritterrüstung befand, die er mit einer groben Handbewegung von ihrem Sockel riss und dem Angreifer entgegen drückte. Dann rettete Thomas sich mit einem Hechtsprung zur rechten Seite, prallte dabei gegen einen alten Sessel, spürte einen kurzen Schmerz in seinem Knie, mit dem er dagegen geprallt war, stieß den Sessel ächzend um und stürzte dann auf die Treppe zu, wo er es erst wagte, einen Blick über die Schulter zu werfen.
Björn Ansgar Lykström war in die Ritterrüstung hineingerannt, mit ihr kollidiert und hatte sie scheppernd zur Seite geschleudert. Durch diesen Angriff hatte Thomas bereits einen nicht unerheblichen Vorsprung gewonnen, zumal der irritiert und unkoordiniert wirkende Schwede dann auch noch über den umgestürzten Sessel stolperte und hart auf den kalten Boden fiel, was einen erneuten Krach produzierte, der in der geisterhaften Stille des unheimlichen Schlosses unecht und gleichzeitig bedrohlich wirkte.
Doch der verrückte Schwede gab Thomas und sich selbst auch weiterhin keine Verschnaufpause, rappelte sich auf, griff ebenfalls nach seiner Waffe, die er beim Sturz vorübergehend verloren hatte und starrte den Schotten mit enormem Hass an.
„Ich werde überleben. Ich werde nicht sterben, aber ihr werdet alle sterben, alle der Reihe nach. Ihr habt das Unheil hierhin gebracht, dieses Schultreffen hat den Tod und den Teufel auf diese Insel getrieben. Ihr werdet verrecken und ich werde das Erbe meiner Geliebten antreten, mir wird das Schloss gehören und nicht eurer Mörderbande.“, schrie er außer sich vor Wut und hob bei seinen Worten energisch seine improvisierte Waffe in die Luft, was dem Ganzen einen unfreiwillig komischen Beigeschmack gab.
Es waren die ersten logisch zusammenhängenden Sätze gewesen, die der Schwede seit scheinbar unendlich langer Zeit ausgesprochen hatte. Thomas konnte sich mit einem Frösteln in die labile Psyche des lehrers einfühlen.
„Lykström, wir stecken nicht alle unter einer Decke. Auch für mich geht es nur noch ums Überleben. Wir müssen uns zusammentun und den wahren Mörder finden!“, rief Thomas dem Schweden entgegen, doch der hörte ihm bereits gar nicht mehr zu und stürmte nun in Richtung Treppe.
Thomas warf sich herum und versuchte schnell Land zu gewinnen, als ein Ereignis eintrat, mit dem weder er, noch der Schwede gerechnet hatten.
Der Polizist sah vor sich noch einen heranrauschenden Schatten, der sich mit enormer Geschwindigkeit über das Treppengeländer hinweghievte, in der Eingangshalle aufkam, den Sprung abfederte, in dem er in die Hocke ging, um danach den völlig überraschten Schweden über den Haufen zu rennen, bevor dieser überhaupt reagieren konnte.
Die beiden Gestalten prallten aufeinander, der Schwede stürzte zur Seite und gegen einen kleinen Tisch, auf dem eine Blumenvase stand. Björn Ansgar Lykström glitt zu Boden, die wacklige Vase kippte vom Tisch und mitten auf den Kopf der Verwirrten, der sich gerade noch einmal aufbäumen wollte, als die Vase an ihm zerbrach und ihn gleichzeitig ins Reich der Träume schickte.
Jetzt erst erkannte Thomas auch die Gestalt, die sich ebenfalls benommen aufrappelte, in der Mitte der Eingangshalle jedoch völlig unverletzt geblieben war. Neben ihr lag noch die improvisierte Waffe des Schweden, die sie aufhob und prüfend in den Händen wog.
Thomas war durch die heraneilende Elaine Maria da Silva gerettet worden, die vor dem Angriff noch ihre hochhackigen Schuhe ausgezogen hatte, die verloren auf der oberen Hälfte der Treppe standen. Die Brasilianerin hatte sich unauffällig verhalten und die Situation dann im richtigen Augenblick entschärft.
Thomas warf einen Blick in die Eingangshalle, die sich innerhalb weniger Augenblicke in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Der Schotte atmete immer noch rasselnd und trat langsam wieder nach unten, wo Elaine Maria da Silva inzwischen die Waffe zur Seite gelegt hatte und den Schotten erwartungsvoll anblickte.
Zu viele Gefühle brodelten in Thomas auf, Tränen schossen in seine Augen und er verschaffte sich und seinen Emotionen Luft, in dem er auf die Brasilianerin zurannte, seine Arme um sie schlang, sie mit sich im Kreis herumdrehte und mit feurigen Küssen bedeckte, bevor er sie wieder auf den Boden ließ, ihr durch das Haar strich und dann ihre Hand ergriff. Die Brasilianerin musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.
„Du hast mir gerade vielleicht das Leben gerettet.“, sagte er stockend und er schämte sich seiner Tränen nicht, obwohl sich die Brasilianerin nun selbst peinlich berührt abwandte.
„Sag doch so etwas nicht. Du hilfst mir und ich helfe dir, du hättest dasselbe für mich getan, oder?“, fragte sie bescheiden und blickte Thomas dabei wieder kurz von der Seite her an.
„Ich würde noch viel mehr für dich tun!Ich weiß, dass ich nicht immer alles richtig gemacht habe und dieser Aufenthalt hier enorm an unseren Nerven zehrt, aber es gibt eine Sache, die ich hier als positiv ansehe, eine Sache, über die ich mir wirklich im Klaren bin.“, warf Thomas mit einem gefühlvollen Redeschwall ein.
„Was genau meinst du?“, wollte die Brasilianerin nach einigen Sekunden des Schweigens wissen und blickte dem Schotten tief in die Augen.
„Elaine, es ist mehr als Leidenschaft oder Dankbarkeit, die ich für dich empfinde. Ich kenne mich gut genug, um zu wissen, dass ich das, was ich für dich spüre, dieses Kribbeln, dieses Stechen, diese Nervosität, nie zuvor für jemand Anderes gespürt habe. Ich wollte mir das nicht eingestehen, aber es ist mir egal, was andere Leute darüber denken, wie sie über dich oder mich lachen. Ich weiß nur eine Sache. Ich liebe dich. Ja, Elaine, ich liebe dich von ganzem Herzen.“, gestand Thomas ihr mit Tränen in den Augen und schaffte es doch sie dabei anzublicken. Hoffnung und Angst spiegelten sich zugleich in seinen Augen wieder, als er auf die Antwort der schönen und durchaus überraschten Brasilianerin wartete.
„Thomas, es ist schwer hier darüber zu reden. Auch ich habe lange nachgedacht. Du bist mehr als nur eine Affäre für mich, ich fühle mich bei dir geborgen. Ich liebe dich auch, Thomas. Sobald das hier vorbei ist, gehört die Zukunft uns. Lass es uns probieren, wir haben nichts mehr zu verlieren.“, entgegnete die Brasilianerin und strich dem Schotten mit ihrer rechten Hand sanft über das Gesicht, während auch die toughe Autorin den Tränen nahe war.
Thomas konnte sein Glück kaum fassen, sein Herz schlug nicht mehr vor Angst, sondern vor Freude und nun brachen alle Dämme, als er seinen Tränen freien Lauf ließ. Dann konnte er nicht mehr an sich halten, drückte die Brasilianerin an sich und küsste sie voller Leidenschaft. Als er ihre heiße und wendige Zunge spürte, schien die Welt um ihn herum zu explodieren. In der Hölle schien er gleichzeitig das Paradies auf Erden gefunden zu haben und er steckte seine Partnerin mit dieser glückseligen Leidenschaft an.
Ihre Berührungen wurden verlangender, ihre schönen Blicke sprachen Bände, als die Brasilianerin den Schotten in Richtung der Bibliothek zerrte, nachdem dieser noch einen prüfenden Blick auf den bewusstlosen, aber lebendigen Schweden geworfen hatte.
„Keine Angst, der wacht so schnell nicht mehr auf.“, erriet Elaine Maria da Silva die Fragen und Ängste ihres Geliebten und dieser simple Satz genügte, um ihn davon zu überzeugen.
Willig ließ er sich in die Bibliothek führen. Von dort aus kamen sie nicht mehr weiter, denn sie fielen fast wie Tiere gegenseitig über sich her und ergaben sich der wilden Versuchung. Der Rest der Welt, die bedrohliche Umgebung waren wieder einmal vergessen und ihre Triebe entfesselt, als Thomas seiner Partnerin das Kleid vom Leib riss und sie auf die nächstbeste Couch drückte. Das Spiel konnte beginnen!
So bemerkte auch keiner von ihnen die Person, die vom Zimmerflur aus fast das gesamte Vorgehen beobachtet hatte und nun seine Chance gekommen sah. Mit einem bösen Lächeln stieg die Person auf Zehenspitzen in die Tiefe, hörte aus dem nächsten Raum das erregte Stöhnen des Liebespaares und das Reißen eines Stoffes und ging rasch zu dem bewusstlosen Schweden.
Nach wenigen Augenblicken war die Person wieder verschwunden und hatte ihre Tat vollbracht, ohne dass dies jemand bemerkt hatte, denn in dem Moment, als die Gestalt wieder am obersten Ende der Treppe angelangt war, hörte sie den überlauten Schrei der Lust der Brasilianerin und spürte in sich ein eifersüchtiges und sehnsuchtvolles Stechen, das sie mit grimmiger Selbstkritik sofort wieder verbannte, um sich anderen Dingen zu widmen.