by Sebastian Kluth
Kapitel 42: Donnerstag, 21 Uhr 54, Zimmerflur
Der Rest des Abends war verhältnismäßig ruhig und geordnet abgelaufen. Die meisten Gäste hatten sich auf ihre Zimmer zurückgezogen und versuchten sich abzulenken. Einige Gäste liehen sich Bücher aus der Bibliothek des merkwürdigen Schlossherrn aus, da sowohl die Radios, als auch die Fernseher im Schloss auf Grund des Gewitters oder anderweitiger technischer Probleme nicht zu funktionieren schienen.
Thomas und Mamadou hatten es sich in einem Zimmer bequem gemacht uns spielten Karten. Mit den Gedanken waren sie jedoch bei den aktuellen Vorkommnissen, die ihnen nicht aus dem Kopf gehen wollten. So sehr sie auch überlegten, eine Antwort auf ihre Fragen fanden sie nicht, doch sie hatten beide das untrügliche Gefühl, dass die nächste Nacht neue und vielleicht unliebsame Erkenntnisse bringen könnte.
Bald darauf verließ Thomas das Zimmer, da die Wachzeit bald begann. Als er auf den Zimmerflur trat, erkannte er bereits, dass Fatmir sich einen Stuhl nahe der Treppe zur Eingangshalle aufgestellt hatte. Der Albaner wirkte müde und fahrig. Als Thomas ihn ansprach, zuckte er erschrocken zusammen und fuhr herum. Schwer atmend schüttelte er den Kopf und ließ sich wieder auf den Stuhl niedersinken.
„Mein Gott, du hast mich ganz schön erschrocken.“, stammelte der ehemalige gute Freund des Schotten, der ein ungutes Gefühl hatte.
„Fatmir, du wirkst völlig ausgelaugt auf mich. Wir werden deinen Wachposten durch eine andere Person ersetzen.“, schlug Thomas zielstrebig vor und sah die abwehrende Geste des Albaners, der künstlich lächelte.
„Nein, keine Bange. Mir geht es gut und ich kann auf mich aufpassen.“, gab er zurück. Er überzeugte Thomas nicht wirklich, aber dieser zuckte resigniert mit den Schultern.
„Du musst es wissen.“, gab er nachdenklich zurück und wandte sich um, als er plötzlich Schritte unmittelbar hinter sich hörte.
Vor ihm stand Elaine Maria da Silva, die stark geschminkt war und unnatürlich bleich wirkten. Ihre dunklen Augen funkelten geheimnisvoll und ein exotischer Duft umgab die mysteriöse Brasilianerin. Sie lächelte sanft und legte ihre Hand auf Thomas Schulter.
„Auch ich bin bereit. Was immer uns auch erwartet, ich werde stark bleiben. Mich kriegt dieser Verrückte nicht.“, sagte sie energisch und ihr Lächeln hatte mit einem Mal einer grimmig verzerrten Fratze Platz gemacht, doch nach wenigen Sekunden hatte die Brasilianerin ihren Gefühlsausbruch wieder Kontrolle, blickte ihr Gegenüber tiefgründig an und wandte sich theatralisch zur Seite, als sie in den Trakt der weiblichen Schlossbewohner marschierte.
Thomas blickte der Brasilianerin nachdenklich hinterher und bewegte sich seinerseits in Richtung des anderen Traktes, wo er sich einen Stuhl hingestellt hatte. Dieser befand sich am Ende des Ganges, unmittelbar vor einem Fenster aus verzierten Glasscheiben, durch die er sehr verschwommen die äußeren Ausläufer der Insel und des Meeres erahnen konnte. Ein greller Blitz durchzuckte die Nacht und blendete den Schotten, sodass er seine Augen mit der Handfläche abschirmen musste. Der Wind pfiff draußen vorbei und erzeugte zeitweilig einen höllischen Lärm. Irgendwo musste es einen kleinen Spalt im unteren Bereich der Scheibe geben, denn von dort kamen dieser Lärm und auch eine geringfügige Kälte.
Thomas setzte sich nieder und lauschte dem Brausen der aufgeschäumten Brandung. Er ließ die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren und stellte mit großer Ernüchterung fest, dass es vielleicht der bitterste Tag seines Lebens gewesen war. Der Tod seines ehemaligen Schulkameraden und die damals folgende Isolation hatten ihn abgehärtet und nur so hatte er den schmerzhaften Tod seiner französischen Geliebten und des türkischen Museumsdirektors überhaupt ertragen können. Manchmal glaubte Thomas, dass dies nur ein Traum war, so betäubt wie er sich fühlte. Die Lage war schier ausweglos. Die gesamte Gruppe saß unabänderlich auf der Insel fest und war den Launen eines bestialischen, aber geschickt vorgehenden Killers ausgesetzt. Thomas glaubte daran, dass die Gruppe nur durch ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl und Zusammenhalt diese prekäre Situation überstehen konnte, aber stattdessen beschuldigten und zerfleischten sich alle Anwesenden gegenseitig. Aus manchen Anwesenden wurde Thomas trotz seiner guten Menschenkenntnisse und seiner präzisen Beobachtungsgabe dennoch nicht schlau.
Ein plötzliches krachendes Geräusch ließ Thomas hochfahren. Ein greller Blitz hatte die Scheiben erhellt, gegen die mit unglaublicher Wucht ein Wesen angeflogen war. Das orientierungslose Wesen hatte dem Hindernis nicht mehr ausweichen können und glitt wie in Zeitlupe die Scheibe hinunter und fiel in die Tiefe, wobei es eine schleimige Blutspur hinterließ. Der Herzschlag des Schotten raste, obwohl er sich bewusst wurde, dass es sich nur um einen Vogel gehandelt hatte.
Ächzend ließ er sich zurück in den Stuhl fallen. Dabei warf er einen zufälligen Blick auf seine Armbanduhr, eine originale Uhr des Komitees für Staatssicherheit, besser bekannt als der sowjetische Geheimdienst unter der Abkürzung KGB, die er einst von einem russischen Freund geschenkt bekommen hatte. Sofort begann Thomas Puls wieder zu rasen, als er realisierte, wie spät es geworden war. Er musste in seinen Gedankengängen vor dem Fenster durch das monotone Rauschen des Meeres und Prasseln des Regens kurz eingenickt sein und hatte fast anderthalb Stunden verpasst. Eine ausreichend große Zeitspanne für einen weiteren potentiellen, tödlichen Anschlag.
Entsetzt fuhr Thomas Jason Smith aus seinem Stuhl hoch und eilte zur Treppe hin. Dort traf ihn der nächste Schock. Weder Fatmir, noch Elaine Maria da Silva waren irgendwo zu sehen. In der Eingangshalle war es unheimlich düster geworden, die wenigen erhellten Kerzen waren bereits fast verbraucht und sollten dringend ausgetauscht werden. Im Schloss herrschte eine düstere Totenstille, die nur hin und wieder durch das finstere Grollen von draußen unterbrochen wurden, wo die Welt unterzugehen schien.
Thomas dachte kurz über seine Möglichkeiten nach. Er spielte mit dem Gedanken seinen Kollegen Mamadou zu wecken, verwarf diesen aber gleich wieder. Er durfte sich nicht klein kriegen lassen und sollte Stärke zeigen. Er musste sich selbst beweisen, zu was er wirklich fähig war und so sein Selbstbewusstsein wieder stärken. Er wollte die anderen Anwesenden auch nicht durch einen unangebrachten Hilferuf in Panik versetzen. Vielleicht würden die beiden anderen Aufpasser ja schon bald wieder auftauchen. Möglicherweise vertraten sie sich kurz die Beine oder waren auf Toilette gefangen. Thomas versuchte sich mit solchen fadenscheinigen Begründungen zu beruhigen und merkte bereits, dass ihm dies deutlich misslang. Steckte mehr hinter dem Verschwinden?
Der nervöse Polizist gab sich fünf Minuten Wartezeit. Die Sekunden schienen endlos langsam zu vergehen. Ein Wetterleuchten erhellte die Treppe und Teile der Eingangshalle in ein diffuses Licht. Eine Löwenstatue am Ende des Treppenaufgangs wirkte mit einem Mal wie lebendig und die silbernen Augen des abstrusen Kunstwerkes schienen Thomas warnend und grausam anzufunkeln. Der Schotte bekam eine Gänsehaut, die durch das plötzliche Ertönen eines aggressiven Donners nur noch verstärkt wurde. Unruhig marschierte er hin und her und sah bald, dass seine selbst aufgestellten fünf Minuten Wartezeit nun längst verstrichen waren.
Thomas machte sich allmählich Sorgen. Nervös zündete er sich die letzte Zigarette aus seiner Packung an und brauchte dafür mehrere Anläufe. Erschrocken zuckte er zusammen, als er sich am glühend heißen Feuerzeug verbrannte. Schließlich nahm er einen tiefen Zug und verstaute die zerknüllte Packung in seiner Hosentasche. Fahrig zitternd blies er den blauen Dunst in die Eingangshalle und atmete tief durch. Er schloss für einige Augenblicke die Augen und schickte ein rasches Stoßgebet gen Himmel. Danach drückte er seine Zigarette bereits am Geländer aus, ließ den Stängel achtlos zu Boden gleiten und gab sich einen letzten und entscheidenden Ruck.
Mit einem unguten Gefühl im Magen eilte er die Treppe hinunter in die Eingangshalle, wandte sich bereits dem weiteren Durchgang in Richtung der Bibliothek zu, als ihn ein surrendes Geräusch überrascht innehalten ließ.
Verschreckt zuckte der Schotte zurück und sah sich nervös um, doch es war niemand außer ihm anwesend. Nachdenklich warf er einen Blick in die Runde. Woher war dieses undefinierbare Geräusch dann hergekommen?
Thomas Jason Smith wollte sich schon ergebnislos und resigniert abwenden, als er aus seinem Augenwinkel im letzten Moment die entscheidende Entdeckung machte, die ihn überrascht aufschreien und zugleich frösteln ließ.