by Sebastian Kluth
Kapitel 89: Samstag, 9 Uhr 38 Bibliothek
Es war ein leichter Geruch von frisch gekochten Eiern und deftigem Speck, der Thomas am nächsten Morgen verführerisch weckte. Der junge Schotte musste sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, wo er sich überhaupt befand und empfand diesen fast idyllischen und delikaten Geruch als unpassend. Dennoch schienen seine Sinne ihn nicht zu trügen, denn durch das offene Portal zum Speisesaal drang feiner Rauch und Thomas hörte entfernt sogar, wie mindestens eine Person mit irgendwelchen Pfannen oder Töpfen hantierte.
Der junge Schotte schlug nun entgültig seine Augen auf, doch statt eines friedlichen und sonnigen Morgens, der zu solch einem derben Frühstück gepasst hätte, umfing ihn nur der staubige Geruch alter Bücher und ausrangierter Teppiche, sowie das diffuse Kerzenlicht der Bibliothek.
Thomas sah mehr aus den Augenwinkeln heraus, wie eine Person vorsichtig aus dem Raum und in Richtung des Eingangsportals schritt, als ob sie ein enormes Schuldbewusstsein mit sich tragen würde und ihre Identität um jeden Preis verheimlichen wollte. Thomas hatte gerade die Augen zusammengekniffen und sich selbige stark gerieben, als die Person plötzlich verschwunden war, als ob es sie nie gegeben hätte. Thomas kratzte sich nachdenklich an der Schläfe und zweifelte an seinem Verstand. Behäbig ließ er seinen Blick durch den Rest der Bibliothek streifen und ein heißer Schreck fuhr ihm durch alle Glieder.
Alle Anwesenden waren verschwunden! Der schottische Polizist war die einzige Person, die sich noch in der Bibliothek befand. Erschrocken zuckte Thomas aus seinem Sessel hoch und spürte sofort ein unangenehmes Ziehen im Nacken. Er hatte sehr ungünstig geschlafen und auch seine Schultern taten ihm vom Muskelkater bereits jetzt weh.
Kaum hatte er sich erhoben, als er ein lautes Scheppern hörte, dass sich unaufhörlich und monoton fortlaufend der Bibliothek näherte. Ein seltsames regelmäßiges Quietschen begleitete dieses Geräusch und die Nackenhaare des Schotten richteten sich langsam und warnend auf.
Mit einem Mal war alle Müdigkeit wieder verflogen und Thomas analysierte sofort den Ort des Geschehens. Das Geräusch kam aus dem Speisesaal und Thomas haderte nicht zu lange. Schnell richtete er sich auf und schleppte sich hinter den aufgeklappten Teil des Portals zwischen der Bibliothek und dem Speisesaal, wo er eine wunderbare Deckung hatte und den lauten Ankömmling beobachten konnte. Schnaufend erreichte Thomas sein Ziel, hatte jedoch noch eine Art dumpfes Gefühl im Kopf, das ihn fast zu einem Schwindelanfall führte. Jetzt war jedoch nicht die Zeit für falsches Selbstmitleid. Thomas hatte sich stramm und diszipliniert in den toten Winkel des Portals gestellt.
Das Geräusch kam immer näher, als der linke Türflügel plötzlich weiter aufgestoßen wurde und eine Person mit einem riesigen Speisewagen in die Bibliothek kutschiert kam. Darauf lagen nicht nur das Silberbesteck, was wohl so sehr geklirrt hatte, sondern auch mehrere Teller, auf denen Thomas Spiegeleier, Speck und einige Bohnen sah. Wie zur Bestätigung dieser These knurrte der Magen des jungen Schotten in diesem Moment tatsächlich nicht unerheblich und die bislang unerkannte Person stieß rasch nach vorne zu und wandte sich abwehrend und mit finstren Blick zu dem Beobachter im toten Winkel zu.
Thomas Herzschlag setzte vor Schreck kurzzeitig aus, doch die Erleichterung war umso größer, als er bemerkte, wer sich die ganze Arbeit gemacht hatte und dass seine Nervosität völlig überflüssig gewesen war.
Vor ihm stand Elaine Maria da Silva, die vor Aufregung noch zitterte und das lange und scharfe Küchenmesser, welches sie instinktiv vom Speisewagen genommen hatte, in der Hand hielt. Wieder einmal fiel Thomas auf, dass die Brasilianerin seit dem gemeinsamen Schäferstündchen viel humaner, weicher, aber dadurch vielleicht auch angreifbarer wirkte. Hatte Thomas einen so großen Einfluss auf die sonst so selbstsichere Autorin? Empfand sie für ihn wirklich so etwas wie wahre Liebe? Der Schotte wurde aus seiner neuen Partnerin, falls es denn überhaupt eine war, nicht schlau, doch allein bei dem Gedanken an ihre gemeinsame Nacht, spürte er ein gieriges Verlangen in sich aufsteigen, was ihn erregte, aber gleichzeitig auch beschämte und fürchtete, als ob er mit einer schlechten und gefährlichen Dame fremdgehen würde.
Die Brasilianerin ließ das Küchenmesser geräuschvoll auf den Speisewagen fallen und ließ sich stöhnend in den nächstgelegenen Sessel fallen, rieb sich die Augen und blickte Thomas in einer Mischung aus Erleichterung und Wut an.
„Du hast mir einen tierischen Schrecken eingejagt.“, warf Elaine ihm vor und verschränkte ihre Arme trotzig vor dem weiten Ausschnitt ihres Kleides.
„Das könnte ich von dir auch sagen, schöne Dame.“, konterte Thomas mit weicher und charmanter Stimme und schritt langsam auf die Brasilianerin zu, die jeden seiner Schritte mit einem mysteriösen Lächeln verfolgte.
„Vielleicht verzeihe ich dir das noch mal.“, entgegnete die Brasilianerin so spöttisch, dass Thomas sofort bemerkte, dass sie nicht mehr besonders wütend auf ihn war und schon an ganz andere Dinge zu denken schien.
Der Schotte spürte eine heiße Regung in sich, versuchte diese jedoch zu unterdrücken. Er atmete tief durch, hielt in seinem Schritt inne und merkte, wie sich das Gesicht der Brasilianerin zu einer traurigen Grimasse verzog. Thomas seufzte, doch selbst er wollte sich nicht dem Gefühl der trügerischen Eintracht und des Verlangens hingeben. Zu viele Fragen und Probleme schossen ihm durch den Kopf. Er schaffte es erstmalig seine inneren triebe bewusst zu unterdrücken, doch dies ermutigte ihn kaum.
„Wo sind die anderen Anwesenden hin?“, wollte Thomas wissen und seine Partnerin antwortete erst nach einigen Sekunden des Schweigens.
„Warum musst du immer nur an solche Dinge denken? Ein wenig Abwechslung und Ruhe würde uns gut tun. Solange wir zu zweit sind, kann uns nichts passieren.“, entgegnete die Brasilianerin trotzig und enttäuscht.
Thomas atmete durch und ließ sich nachdenklich auf eine alte Couch fallen, die dem Sessel der Brasilianerin schräg gegenüber stand. Elaine blickte ihn störrisch und herausfordernd an.
„Elaine, ich würde auch lieber an andere Dinge denken. Es ist bedauerlich, dass sich unsere Wege in dieser Form erst jetzt gekreuzt haben. Es ist schlecht, dass ich dich in solch einer extremen Situation richtig kennen gelernt habe, in der wir keine Zeit für Zärtlichkeit und Vertrauen haben. Es geht nicht nur um unser Überleben, es geht darum, dass ich diesen wahnsinnigen Psychopathen kriegen will, der all unsere Leben einfach zerstören will.“, erläuterte der Schotte seine Gedankengänge.
„Warum denkst du immer an alle Anderen? Sie geben dir nichts, manche sind dir sogar feindlich gegenüber eingestellt. Warum bist du bloß so sozial eingestellt?“, wollte die Brasilianerin wissen und wurde dabei lauter und fast hysterisch.
„Wenn du denkst, dass ich sozial eingestellt bin, dann täuschst du dich in mir. Ich war in den letzten Jahren sehr egoistisch. Ich habe in einem Kloster gelebt, ich habe mich nur um meine eigenen Probleme gekümmert, Familie und Freunde vernachlässigt und selbst meine ambitionierten Karrierepläne einfach auf der Strecke gelassen. Ich bin ein Außenseiter, ein einfacher Polizist, nicht einmal besonders herausragend. Dafür hätte ich niemals diese Privatschule besuchen müssen.“, berichtete Thomas mit schwerem Herzen und fühlte sich mit einem Mal wie vor den Kopf gestoßen und lethargisch.
„Diese Ereignisse haben dich verändert. Es mag komisch klingen, aber diese Gräueltaten, haben aus dir einen besseren Menschen gemacht. Du bist aufopferungsvoll, du bist mutig, du nimmst eine Führungsposition unter allen Anwesenden ein und versuchst uns allen zu helfen. Wenn du denkst, dass ein Teil deines Lebens nur verlorene Zeit war, dann bist du jetzt gerade dabei, dein Leben zu verändern. Wenn das hier vorbei ist, dann wird es mit dir wieder aufwärts gehen.“, bemerkte die Brasilianerin eindringlich und optimistisch und wirkte mit einem Mal wieder sehr liebevoll und aufrichtig.
„Wieso sollte es mit mir aufwärts gehen? Ich stehe gerade unter Adrenalin, unter dem Schock der letzten Ereignisse vielleicht. Wenn die Sache hier vorbei ist, dann werde ich in ein Loch fallen, Alpträume haben, Schuldgefühle vielleicht oder Panikattacken. Ich werde wieder allein und erfolglos im Beruf sein und niemanden haben, der mir zur Seite steht. Glaube mir, ich bin viel schwächer, als du denkst.“, antwortete Thomas resigniert.
Bei den letzten Worten des Schotten war die Brasilianerin plötzlich aufgestanden, näherte sich dem frustrierten Polizisten und setzte sich sanft neben ihn. Energisch ergriff sie seine Hand und blickte ihn mit ihren haselnussbraunen Augen eindringlich an. Im Gegensatz zu den trüben und mit Tränen gefüllten Augen des Polizisten, war ihr Blick fest und rebellisch.
„Du wirst nicht allein sein, Thomas. Ich werde an deiner Seite sein. Ich hätte niemals damit gerechnet, aber du bist mehr als eine Inspirationsquelle für meine Romane. Du bist mehr als ein einfacher Beschützer für mich. Ich kann es mir nicht erklären, aber meine Empfindungen für dich sind tiefer und ehrlicher, als alles, was ich jemals bisher gespürt habe.“, erläuterte die Brasilianerin, deren Blick im Verlaufe ihrer kurzen Ansprache immer trauriger und flackernder geworden war. Thomas bemerkte mit Erstaunen eine Träne, die aus dem Augenwinkel der Brasilianerin floss, sich durch ihren aufgetragenen Eyeliner schwarz verfärbte und über ihre schneeweiße Wange rann.
Thomas fühlte eine neue Wärme, einen neuen Optimismus in sich aufsteigen und auch in seine Augen schossen die Tränen. Er fühlte sich glücklich, frei, denn niemals zuvor in seinem Leben hatte eine Person so zu ihm gesprochen und ihn so berührt. Zitternd fiel der Schotte in die Arme seiner Partnerin und drückte sein Gesicht gegen ihre weiche Schulter. Sanft strich er durch ihre Haare und hauchte ihr einen Kuss über die Wange. Seine Erregung war einer leicht romantischen Ehrfurcht gewichen. Durch diese Frau war sein Weltbild, seine Gefühlslage ins Wanken gebracht worden und er konnte damit nicht anders umgehen, als in ihren Armen zu liegen und zu weinen. Er fühlte sich hilflos und gleichzeitig befreit. Was er vor Minuten noch gesagt hatte, war mit einem Mal wie fortgewischt.
Doch der Moment des kurzen Glücks währte nicht lange. Kaum waren die Tränen des Schotten versiegt, als er eine dunkle Gestalt bemerkte, die mit hängenden Schultern und geballten Fäusten von der Eingangshalle aus in die Bibliothek schritt. Erstaunt erkannte Thomas seinen Kollegen Mamadou, der ihm einen verbissenen Blick zuwarf und sich ungeduldig in einen Sessel fallen ließ.
Einige Meter hinter ihm erschien mit einem Mal fast schleichend und unbemerkt Marilou, die ebenfalls verbissen wirkte, den ghanaischen Polizisten kurz musterte und sich dann auf einen simplen Holzstuhl nahe der Tür niederließ. Nervös knabberte sie an ihrer Unterlippe, doch ebenso wie der Afrikaner blieb sie stumm.
Thomas wollte gerade seinen Kollegen ansprechen und hatte sich mit gerötetem Gesicht aus der Umarmung mit der Brasilianerin gelöst, als dieses Mal die andere Tür von der Seite des Speisesaals aufgestoßen wurde. Wie in Zeitlupe traten die drei letzten Gäste hintereinander in die Bibliothek.
Zunächst war dies Björn Ansgar Lykström, der mit Dreck und Staub bedeckt war. Seine Haare waren nass und fettig und hingen ihm wirr ins Gesicht. Hinter ihm war Abdullah Gadua, der schreckensbleich war und wohl bei einem morgendlichen Gebet überrascht worden war, da er traditionelle, religiöse Kleidung trug und zudem krampfhaft eine gebundene Ausgabe des Korans mit beiden Händen umklammert hielt.
Entscheidend war aber nur die dritte Person, die langsam und bedrohlich als letzte in den Raum trat. Es handelte sich dabei um niemand Anderen, als den Koreaner Gwang-jo, der die Tür brutal und energisch hinter sich ins Schloss warf und Abdullah, der direkt vor ihm ging, einen brutalen Stoß in den Rücken mitgab, sodass dieser hilflos nach vorne stolperte, auf die Knie fiel und dabei den Koran aus den Händen gleiten ließ.
Durch diese Tat war aber nun auch der Blick auf den Koreaner für Thomas frei, der mit jeder Sekunde nervöser geworden und in absolute Alarmbereitschaft versetzt worden war. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als er sah, wie der triumphierend und sadistisch grinsende Koreaner, der ebenfalls völlig verdreckt und verschwitzt war, seine Waffe in die Luft reckte und den entsetzten Anwesenden ein überhebliches und dreckiges Lachen entgegen schickte.