by Sebastian Kluth
Kapitel 88: Samstag, 04 Uhr 34 Bibliothek
Thomas blickte sich bei seiner Frage genau unter den Anwesenden um und suchte nach irgendwelchen Reaktionen. Enttäuscht musste er feststellen, dass der Dieb scheinbar keinerlei Reue oder Nervosität zeigte, denn Thomas geschultes Auge bemerkte nichts.
Nachdenklich ließ er seinen Blick schweifen. Unmittelbar neben Thomas stand Björn Ansgar Lykström, der sich ein wenig von der Gruppe abgekapselt hatte und nun bei ihm wohl ein wenig Schutz suchte, was ihm nach den eben vorgefallenen Ereignissen auch nicht zu verübeln war.
Ebenfalls ein wenig isoliert saß Gwang-jo, der die Szene mit einem höhnischen Lächeln aufmerksam betrachtete und dabei provozierend Däumchen drehte. Diese Arroganz und Selbstsicherheit brachte Thomas nur beim Anblick des Koreaners, der ihn sarkastisch und kalt anlächelte, schon auf die Palme.
Ebenfalls etwas wenig abseits saß Marilou an einem Tisch und blickte interessiert, aber mit völlig ausdrucksloser Miene, zu der Gruppe hin. Sie schien in Gedanken versunken zu sein und durch die restlichen Anwesenden mit einem Tunnelblick hindurch zu sehen.
In einem Halbkreis um den bewusstlosen Ghanaer und relativ nah an diesem platziert, standen der immer noch bleiche und verunsichert wirkende Abdullah Gadua, sowie auch Elaine Maria da Silva, die Thomas eindringlich und besorgt ansah.
Eine Antwort erhielt Thomas von niemandem der Anwesenden. Der Schotte merkte, dass er auf diese Art und Weise nicht weiterkommen würde und überlegte, ob er die Anwesenden der Reihe nach durchsuchen sollte. Er verwarf den Gedanken wieder, denn er rechnete damit, dass der Killer sich die Waffe angeeignet hatte und Thomas schätzte diesen als sehr organisiert und clever ein. Niemals würde ein so gezielt vorgehender Psychopath den Fehler begehen und eine potenzielle gestohlene Waffe direkt an seinem Körper tragen.
Es war schließlich wieder einmal wieder Gwang-jo, der die Stille unterbrach und nun seinerseits eine Frage in den Raum warf.
„Warum wollte Abdullah eigentlich eben auf unseren geschätzten Herrn Lehrer losgehen? Ihr solltet uns schon sagen, was ihr in diesem Verlies gefunden habt.“, bemerkte er mit lauerndem Unterton und schien gedanklich bereits die nächste rufmörderische Verschwörungstheorie mitsamt aller erniedrigenden Details auszuarbeiten.
Thomas überlegte kurz das Für und Wider einer möglichen Aufklärung und entschied sich schließlich dafür den Anwesenden die Wahrheit zu sagen, da er auch auf die Reaktion des Schweden selbst achten wollte, der möglicherweise gar nichts von seinem Erbglück ahnte.
„Wir haben eine aufgebrochene Box gefunden, in der das Testament der toten Schlossherrin Magdalena Osario lag. Dort steht, dass ihr Ehemann immerhin noch das Schloss und den Grundbesitz erben würde, während sie ihr gesamtes Vermögen mitsamt der Kunstwerke und Juwelen ihrem Geliebten Björn Ansgar Lykström vermacht. Das Vermögen beläuft sich wohl auf etwa fünf Millionen Pfund, vielleicht sogar ein wenig mehr.“, berichtete Thomas mit fester Stimme und beobachtete aus seinen Augenwinkeln heraus die Reaktion des Schweden, dessen Mund überrascht aufklappte.
Ungläubig starrte der junge Lehrer Thomas an, schüttelte verwirrt den Kopf und atmete tief durch. Die kritischen und auch neidischen Blicke aller Anwesenden lasteten mit einmal auf ihm. Dem Schweden war dies offensichtlich sehr unangenehm, er knetete nervös seine Hände und blickte sich gehetzt um. Unruhig verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das Andere, bis er sich nicht mehr beherrschen konnte und seine Ungeduld und Angst aus ihm herausplatzte.
„Was schaut ihr mich so an? Ich habe mit Sicherheit nicht so viele Menschen gekillt, nur um an ein bisschen Geld zu kommen! Außerdem wusste doch niemand etwas von euch davon, was für einen Grund hätte ich denn gehabt so viele Unschuldige zu opfern? Ich wollte mit Magdalena ohnehin von hier weg, sie aus diesem Gefängnis befreien und mit ihr ein neues Leben aufbauen, unsere Privatschule erweitern und ein weltweites Partnernetz mit anderen Eliteschulen schaffen. Wir hatten so viele ehrgeizige Pläne und sie hatte dafür das nötige Kleingeld. Ich erbe vermutlich nur, weil wir dieselben Vorstellungen davon hatten, worin wir investieren möchten. Ich habe von diesem Erbe allerdings nie etwas erfahren, Magdalena sprach niemals von solchen Dingen, sie sah im Geld die Wurzel allen Übels.“, bemerkte der Schwede mit bebender Stimme, da Tränen in seine Augen geschossen waren, als er wieder an seine tote Geliebte denken musste.
Erschöpft setzte sich der Schwede an einen hohen Holztisch, blickte verbittert und entmutigt die anderen Gäste an und vergrub sein Gesicht stumm in seinen Händen. Thomas empfand in diesen Augenblicken sehr viel Mitgefühl und traute dem trauernden Schweden keinen Massenmord zu. Gwang-jo dachte da allerdings weniger zimperlich und ging nun verbal auf den ohnehin schon geschwächten Schweden los.
„Pathetische Worte! Wer sagt uns denn, dass Magdalena Osario und du euch nicht zerstritten habt und du dennoch an das Geld heranwolltest?“, begann der Koreaner, wurde jedoch einstimmig unterbrochen und für diese Bemerkung kollektiv verhöhnt.
„Gwang-jo, hör mit diesen Spinnereien auf. Wenn dem so wäre, dann hätte er mit einem solchen Komplott auch bis nach unserem Treffen warten können und seine Geliebte beim nächsten gemeinsamen Treffen unter Druck gesetzt oder um die Ecke gebracht.“, bemerkte Thomas analytisch denkend.
„Du siehst doch, wie es ihm geht. Er wäre dazu doch überhaupt nicht fähig, er ist doch jetzt nach ihrem Tod noch völlig fertig.“, bemerkte Elaine Maria da Silva.
„Es war ja klar, dass du dich auf seine Seite stellst, seitdem du mit ihm gefickt hast. Ich hätte von dir ein bisschen mehr Selbstrespekt erwartet.“, kommentierte Gwang-jo angriffslustig und wies mit dem Kopf abschätzig zu Thomas hin, dem diese Provokation zu Kopf stieg, sodass er sich zu einer Gegenreaktion gezwungen fühlte.
„Eben warst du doch noch davon überzeugt, dass der Butler hinter all dem steckt, nun kommt deine nächste hirnrissige Verschwörungstheorie. Du gehörst in die Klapse! Weißt du, was ich glaube? Ich denke, dass du dahinter steckst. Du hast es in deinem Leben zu nichts gebracht und bist ein bekennender Misanthrop. Du hattest nie Freunde, bei Frauen nie Erfolg und bist heute nur ein Arbeitsloser, der sich von seinen reichen Eltern durchfüttern lässt. Du hast vielleicht von dem Vermögen erfahren und wolltest es dir hier unter den Nagel reißen. Mit fünf Millionen Pfund hättest du dir eine neue, schönere und erfolgreichere Existenz aufgebaut und eine illusorische Welt erstellt. Du wolltest zeigen, dass du genauso gut und sogar noch besser und mächtiger bist als wir. Du hast absichtlich Katz und Maus mit uns gespielt und versteckte Hinweise auf die Todesuhrzeiten gegeben. Jetzt bringst du abwechselnd eine Person jedes Geschlechtes um und spielst alle gegeneinander aus, um selbst freie Bahn zu haben. Auf deine Machenschaften fallen wir aber nicht mehr herein!“, klagte Thomas wutschnaubend den Koreaner an, der nur abfällig und dennoch ein wenig nervös lachte.
„Du sprichst von Verschwörungstheorien und erzählst selbst einen solchen hanebüchenen Unsinn. Du stellst dich als guter Polizist dar, versuchst das Ruder an dich zu reißen, den harten und mutigen Mann zu markieren, um das französische Flittchen oder diese abartige brasilianische Schlampe zu beeindrucken.“, provozierte Gwang-jo unbeeindruckt weiter und sah mit Genugtuung, wie sich das Gesicht des schottischen Polizisten rot verfärbte und wie er auch den Hass von Elaine Maria da Silva auf sich zog, die ihn mit stechenden Blicken und einem kalten und drohenden Gesichtsausdruck bedachte.
Bevor die Situation eskalieren konnte, ging plötzlich Abdullah Gadua dazwischen, um den aufkommenden Streit zu schlichten und ein neues Thema anzuschneiden. Er schien aus seiner übereifrigen Reaktion gelernt zu haben und wollte wohl etwas gut machen. Schuldbewusst hatte er immer wider zu dem bewusstlosen Ghanaer geblickt, in der Hoffnung, dass dieser eine kleine Regung zeigen und aus dem Reich der dunklen Bewusstlosigkeit erwachen würde. Abdullah Gadua war sogar so weit gegangen, dass er jetzt flüsternd neben seinem ehemaligen Feindbild Björn Ansgar Lykström stand, der immer noch schluchzend an dem Holztisch saß. Besorgt hatte er sich zu diesem herabgebeugt und auf die Schulter geklopft. Eine Entschuldigung hatte er noch nicht aussprechen können, da der Schwede ihn nicht einmal ansah und sich offensichtlich elendig fühlte. Erst als die Stimme des koreanischen Provokateurs immer lauter geworden war, hatte Gadua sich erhoben und war in die Mitte der Gruppe getreten.
„Hört mit diesen sinnlosen Anschuldigungen auf. Ich habe eben noch denselben Fehler gemacht und ihr seht ja, was dabei herumgekommen ist. Ein Mann kämpft um sein Leben, der andere hat Angst um selbiges und ich habe Gewissensbisse und dem wahren Täter sind wir keinen Hauch näher gekommen. Ich möchte mich noch einmal für mein Fehlverhalten bei allen hier entschuldigen, aber gleichzeitig bitte ich euch um einen kühlen Kopf ohne vorschnelle Beleidigungen. Der Killer hört mit, wird unsere Schwächen herausfinden und analysieren, uns gegeneinander ausspielen und uns dann gezielt umbringen, sodass der Verdacht auf eine andere Person fällt. Ich denke, dass der Butler nicht dahinter steckt und der Täter noch unter uns lauert. Ich würde zu gerne wissen, was für Anspielungen es für eine Todeszeit bei den letzten Opfern gab und warum wir die Uhrzeit an dem Haifischbecken möglicherweise falsch interpretiert und auf drei Uhr morgens als nächste Todeszeit getippt hatten.“, warf Abdullah Gadua einen neuen Aspekt ein, um die letzten Taten irgendwie analytisch aufzurollen und nach Fehlern des Täters zu suchen. Gleichzeitig wollte er natürlich auch die Streithähne ein wenig ablenken und eine produktive Diskussion initiieren.
Thomas empfand für die offene und ehrliche Entschuldigung und neue Zielstrebigkeit des eben noch so empörten und blinden Mannes eine hohe Anerkennung. Wenn Thomas etwas an einem Mann schätzte, dann waren es Charakterstärke und Ehrlichkeit. Zudem war er froh, dass dieser Einwand die Pläne des Koreaners durchkreuzte und für ein wenig Ablenkung sorgte. Er dachte nun wirklich noch einmal in Ruhe über den Mord am Haifischbecken nach und die Deutung der nächsten Uhrzeit. Thomas hatte ein enorm gutes und fotografisches Gedächtnis und wanderte in seinen Gedanken noch einmal durch das düstere Gewölbe, an den Becken vorbei, bis er plötzlich stockte, nachdachte und analysierte und plötzlich die Zusammenhänge verstand, als hätten sie niemals zuvor überhaupt unklar erscheinen können. Ein ungläubiges Lächeln huschte über sein Gesicht, als er zu dieser späten, beziehungsweise eigentlich wieder sehr frühen Uhrzeit, plötzlich eine Erleuchtung hatte. Seine Müdigkeit war auf einen Schlag wie verflogen und eine eifrige Ekstase hatte ihn gepackt, als er nervös stotternd und dann in hastiger Euphorie seine Ideen offen legte. Jedes Detail passte mit einem Mal wie ein Puzzleteil zusammen, doch noch während seiner Rede folgte bereits wieder die Ernüchterung. Er war für den nächsten Todeszeitpunkt wieder nur auf Spekulationen angewiesen, denen sich der sicherlich zuhörende Täter auch noch anpassen konnte. Zudem war ihm immer noch unklar, wer hinter den Morden steckte. Thomas verstand das ausgeklügelte System zwar nun besser, doch der Identität des Psychopathen kam er nicht auf die Schliche. Emotional geladen richtete er sich an die Anwesenden und verfiel dabei von einer Stimmung in die Nächste.
„Erinnert ihr euch an das Becken, in dem der tote Direktor schwamm? Es trug die Nummer 63, ich kann mich genau an die Markierung und Gravierung an der rechten Seite erinnern. Insgesamt befanden sich genau drei dieser Bestien darin. Wenn wir die Beckennummer nun durch die Anzahl der Haie teilen würde, dann kämen wir auf 21. Das war punktgenau die Uhrzeit, an der es Magdalena Osario draußen am Grab ihres Vaters traf, wo jemand eine ganz ausgeklügelte Falle mit einem Blitzableiter und Schwarzpulver konstruiert hatte.“, begann Thomas mit seinen Erläuterungen, wobei er hinzufügend gestikulierte und manche Sätze nach nervösem Beginn wieder verwarf.
Gwang-jo hatte direkt kritisch die Stirn gerunzelt und unterbrach den Schotten nun mit einer hämischen Lache. Mit einem überheblichen Kopfschütteln hob er abwehrend die Arme.
„Das klingt mir viel zu weit hergeholt. Niemand wäre auf eine solche hirnrissige Idee gekommen, nicht einmal der Mörder. Wenn er mit uns Katz und Maus spielen will, dann würde er es nicht so kompliziert machen.“, bemerkte der Koreaner sarkastisch.
„Nur weil du die Zusammenhänge nicht erkennst, muss das ja nicht gleich heißen, dass alle unter uns so naiv und unaufmerksam sind wie du.“, erwiderte Elaine Maria da Silva, die nach den hämischen Bemerkungen über ihre Person immer noch sehr schlecht auf den Koreaner zu sprechen war und ihn jetzt zu jedem nur möglichen Zeitpunkt provozieren wollte und sich auf den kleinkarierten Privatkrieg einließ.
„Hört sofort damit auf! Ich finde, dass das, so wie Thomas es formuliert hat, durchaus plausibel klingt. Gab es an dem Grab des Vaters denn irgendeinen Hinweis?“, versuchte Abdullah Gadua das Gespräch wieder in die richtige Richtung zu lenken.
„Ich denke schon. Das Grab trug ebenfalls eine Nummer, denn es war das zweite Grab auf dem sehr kleinen Friedhof. Im ersten lagen vermutlich die Großeltern in einer Art Doppelgrab. Fatmir Skola musste um zwei Uhr nachts sterben.“, erläuterte Thomas nun, doch sein koreanischer Gegenspieler hatte nun wieder etwas zu bemerken.
„Das ist dennoch unlogisch. Wie hätte der Mörder denn wissen sollen, dass ausgerechnet Fatmir genau um zwei Uhr morgens an den Kühlschrank geht?“, wollte der Koreaner wissen und sah erwartungsvoll in die Runde, die jedoch selbst ein wenig ratlos wirkte und auf diese berechtigte Frage nicht antworten konnte.
Umso erstaunlicher war es, dass sich Björn Ansgar Lykström, nachdem er vorher in passiver Trauer etwas abseits an einem Tisch gehockt hatte, sich nun räusperte, von seinem Platz erhob und langsam und müde auf die restlichen Gäste zuschritt, die er mit trauriger und resignierter Miene ansah.
„Ich kann mir denken, woran es lag. Ich habe in der letzten Nacht heimlich Magdalena Osario aufgesucht, um mit ihr über die ersten Todesfälle und die Sicherheit im Schloss zu diskutieren. Wir wollten uns auch darüber klar werden, dass das Treffen hier auf dem Schloss unsere vermutlich letzte und einzige Möglichkeit war, gemeinsam von diesem Schloss zu entkommen und den sadistischen Direktor einfach sitzen zu lassen. Auf unserem kurzen gemeinsamen Rückweg kam uns Fatmir entgegen. Wir versteckten uns in einer Nische, nachdem wir bereits zuvor einige Schleichwege benutzt hatten und auch er schlich sich wie ein Dieb an uns vorbei. Ich dachte natürlich erst, dass er etwas mit den Morden zu tun haben könnte und blieb ihm daher auf den Versen. Doch er ging stattdessen in die Küche, durchsuchte voller Eifer die Schränke und fand im Kühlschrank schließlich eine große Flasche Skotch, die er fast komplett leerte. Er fing an vor Erregung zu zittern und sich auch mit anderen Getränken wahllos zu betrinken. Er wirkte wie ein bemitleidenswerter Alkoholiker, fühlte sich verfolgt und hatte ein sichtbar schlechtes Gewissen. Er war ständig in Selbstgespräche versunken und sprach am Ende des Abends sogar zu der Flasche, der er sanft über den Verschluss und Flaschenhals strich und versprach, am nächsten Abend wieder zurückzukehren, da er von ihr nicht mehr loskam und sich auch Mut und Zuversicht antrinken wollte.“, erklärte der schwedische Lehrer, der zunächst verlegen und verschüchtert wirkte, dann jedoch zu alter Stärke und Entschlossenheit zurückgelangte und energischer sprach.
„Hast du an dem Abend etwas bemerkt? War da noch jemand Anderes in der Nähe, hatte sich eine weitere Person in der Nähe der Küche oder des Speisesaals versteckt?“, wollte Thomas eifrig wissen und die Informationen, die er schon seit seinem Verhör mit dem Albaner teilweise in Erfahrung gebracht hatte, nun erweitern, um sich mehr und mehr ein Bild von der verworrenen Situation zu machen, die er gerade am Entwirren war.
Der Schwede zuckte geniert mit den Schultern und hauchte einen verneinenden Kommentar in die Runde, bevor er sich mit verkniffenem Gesichtsausdruck ein wenig zurückzog und ungeduldig von einem Fuß auf den anderen hampelte. Der Blick der anderen Gäste auf ihn schien ihm nach der Beendigung seiner Erläuterungen wieder sehr unangenehm zu sein. Er hatte auch allen Grund zum Misstrauen, denn es war erneut Gwang-jo Park, der auf diesen Kommentar negativ einging und die Stimmung wie gewöhnlich grob in den Keller drückte, falls es überhaupt noch tiefer ging nach den Ereignissen der letzten Stunden.
„Natürlich hat er niemanden gesehen, denn er war der einzige dort und er war auch der einzige, der davon wusste. Er kannte uns alle recht gut, das Vermögens einer Geliebten und ihr Testament kannte er genauso gut. Das Fach mit dem Testament war aus dem Grund aufgebrochen, weil er ein falsches und komplett gefälschtes Manuskript dort hinterlegt hat, ebenso wie er den Abschiedsbrief des Butlers getürkt haben könnte.“, argumentierte Gwang-jo und sah um sich herum sogar vereinzelndes Nicken.
Thomas wollte gerade etwas Schlagkräftiges erwidern und den überheblichen Koreaner zurück in seine Schranken weisen, als Mamadou hinter ihm plötzlich laut und gequält aufstöhnte. Überrascht fuhr Thomas herum und bemerkte, dass sein Kollegen wieder die Augen geöffnet und ihn verständnislos und erschöpft anblickte. Eher instinktiv wollte sich der Ghanaer aufrichten, doch Thomas trat rasch zu ihm und drückte ihn sanft zurück auf die Couch, was Mamadou auch dankend akzeptierte und sich über seinen schmerzenden Kopf strich, der nach seiner kurzen Bewegung wie ein Hornissennest surrte und sehr schmerzte.
Aus den Augenwinkeln heraus sah Thomas, wie Abdullah Gadua sich eifrig bekreuzte und sichtbar erleichtert war, dass seine impulsive und unglückliche Tat scheinbar keine schwerwiegenderen Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Thomas bemerkte erstaunt, dass Marilou sich nicht mit ihm freute und ihn eher kritisch oder sogar angeekelt betrachtete. Vielleicht war sie von der unfreiwilligen Brutalität ihres Mannes angeekelt, vielleicht empfand sie es aber auch als wenig mannhaft, wie tränenreich ihr Mann seine entschlossene Aktion bereut und nach dem Unfall auch abgebrochen hatte. Als die Kanadierin dem prüfenden Blick des Schotten begegnete, der herausfinden wollte, in welche der beiden Richtungen die Kanadierin wohl eher denken mochte, zuckte diese zusammen, setzte ein falsches Lächeln auf und wandte ihr Gesicht dann hilflos zu einer anderen Seite.
Thomas aber nahm diesen Faden vorerst nicht auf und kümmerte sich stattdessen behutsam um seinen Kollegen, der sich noch sichtbar schwach fühlte und nur einige sinnfreie Wörter hauchte, bevor er wieder in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung fiel.
Der schottische Polizist richtete sich auf, sah die ratlosen und müden Gesichter der anderen Anwesenden und setzte sich nun in einen grünledrigen und etwas altertümlichen, aber durchaus vornehmen Sessel, wo er die Beine übereinander schlug, sich mit den Händen die Schläfen massierte und tief durchatmete. In dieser Position hing er seinen Gedanken nach und bemerkte kaum, wie sich die anderen Gäste ebenfalls wieder hinsetzten und zum Teil abwartend, zum Teil gelangweilt, müde und stumm an ihren getrennten Plätzen verharrten.
Thomas bemerkte, dass seine Gedankenströme immer verworrener wurden, Schlieren vor seine Augen traten und Wellen der Erschöpfung durch seinen ausgelaugten Körper strömten. Irgendwann verlor er völlig den Faden und auch den Kampf gegen die Realität, denn die Natur war stärker als all seine Willenskraft.
Wie schon vor wenigen Stunden fiel Thomas in das tiefe und traumlose Tal des Schlafes, doch dieses Mal erwachte er nicht so schnell wieder, obwohl eine düstere Gefahr allgegenwärtig im Raum zu finden war. Sein letzter klarer Gedanke vor dem entgültigen Einschlafen war das Stoßgebet zu Gott, in dem er darum bat, dass wenigstens eine Person unter den unschuldigen Gästen immer wach bleiben sollte, um die Schlafenden möglicherweise schützen oder warnen zu können. Gleichzeitig aber wusste er, dass seine Vorstellung ein wenig utopisch war, da alle anderen Annwesenden genauso erschöpft waren wie er selbst.
Es blieb nur noch die beunruhigende Frage, ob der Täter selbst möglicherweise müdigkeitsresistent war und bereits neue Schandtaten plante. Ein Kampf um Aufmerksamkeit, Durchhaltevermögen und List begann heimlich und unterbewusst unter den Gästen, die vermutlich alle dasselbe dachten. Wer als Letzter wach sein würde, könnte die Gunst der Stunde ergreifen und abseits des Gemeinschaftsdruckes einen Alleingang planen – wie immer dieser dann auch ausshen würde.
Doch da war Thomas bereits als Erster in seinen unruhigen, aber tiefen Schlaf gefallen, der ihn so schnell nicht wieder hergab.