by Sebastian Kluth
Kapitel 95: Samstag, 14 Uhr 22 Eingangshalle
Fast wie gebannt starrte Thomas auf den kunstvollen Springbrunnen aus hellem Marmor, der sich auf einem halbrunden Vorsprung zwischen den Treppenaufgängen zu beiden Seiten befand. Das Hauptaugenmerk des Beobachters war auf eine riesige Schlange gerichtet, die in der Mitte des Brunnens stand und die aus einem grauen Gestein gemeißelt worden war. Ihr monströses Maul war weit aufgerissen und in der Regel drang dann ein heller Wasserstrahl fontänenartig daraus hervor, um sich in dem umgebenden Becken zu verteilen und erneut innerhalb der Statue gepumpt zu werden.
Dies war bis auf eine Kleinigkeit auch jetzt der Fall, aber dieses Detail war es, was allen Anwesenden den Atem hatte stocken lassen. Es herrschte eine gespenstische und gedrückte Stimmung in der frostigen Eingangshalle. Lediglich der Wind des langsam abflauenden Sturmes pfiff noch geräuschvoll unter den Spalten des Eingangstores in das majestätische Schloss. Thomas erinnerte das pfeifende und nervende Geräusch an das leidvolle Kreischen toter Seelen aus dem Jenseits. Er dachte an die kürzlich verstorbenen Menschen in diesem Schloss, die seine Jugend und seine Entwicklung allesamt indirekt mitgeprägt hatten. Waren sie zurückgekommen, um den restlichen Lebenden Warnungen zuzuflüstern oder waren es viel mehr Lockrufe, die auch die restliche Gruppe in das Reich des Todes bitten wollten? Thomas erschauderte bei dem Gedanken daran, dass die Seelen seiner ehemaligen Kameraden unbemerkt um ihn herumschwirrten. Mit einem Mal schien er ihre bohrenden Blicke zu spüren und bekam unvermittelt eine eisige Gänsehaut. Thomas sah plötzlich ungewollt grauenhafte Schemen vor senen inneren Augen, die ihn umgaben, umspielten und bedrohten und die Anwesenden hämisch auslachten. Krampfhaft schloss er die Augen. Solche Wahnvorstellungen hatte er noch nie zuvor erlebt und bekam plötzlich Angst vor sich selbst.
Thomas versuchte seine abwegigen Gedankengänge loszuwerden, doch sofort setzte ein leicht dumpfes Gefühl des Kopfschmerzes in seinem Kopf ein. Seine Augen wollten trotz der ungeheuren Entdeckung zufallen und sein Körper schien langsam den ungeheuren psychischen und physischen Qualen und Entbehrungen der letzten Wochen Tribut zu zollen. Der junge Schotte wollte sich zusammenreißen und gab sich schaudernd einen Ruck, gähnte verhalten und war wie vor den Kopf geschlagen, als er erneut in aller Deutlichkeit die letzte Entdeckung vor sich sah. Immerhin lenkte ihn das aktuelle Geschehen, so makaber und geschmacklos es auch war, von den Stimmen und Geistern ab, die ihn eben noch umschwirrt hatten.
Es herrschte immer noch eine drückende Grabesstille in der Eingangshalle, die eine gewisse Betroffenheit widerspiegelte.
Thomas betrachtete wieder die dunkelrote, leicht zähe Flüssigkeit, die lasch aus dem Maul der Schlange troff und dieses auch dementsprechend mit der Farbe verschmierte. Thomas fragte sich mit einem Frösteln, ob es sich hier um echtes Blut handeln könnte und wo der potenzielle Serienkiller dieses gefunden haben könnte. Wie hatte dieser Psychopath es geschafft, die Flüssigkeiten unbemerkt zu ersetzen?
Verzweifelt zermarterte sich Thomas den Kopf, wann er den Brunnen zuletzt näher in Augenschein genommen hatte. Er war ihm eigentlich nur bei seiner Ankunft aufgefallen und er hatte sich das kleine Kunstwerk danach nie wieder eingehend angeschaut. Allerdings hätte er auch bemerken müssen, wenn sich die Farbe und Konsistenz der Flüssigkeit plötzlich verändert hätten. Thomas war sich fast sicher, dass er vor seinem letzten Betreten der Bibliothek noch keine solche Verunstaltung hatte beobachten können. Wann aber sollte der Mörder dann die Kraft und Zeit gehabt haben, diesen Springbrunnen unbemerkt zu präparieren?
Thomas konnte sich auf die ganze Geschichte keinen Reim machen. Doch er wollte zumindest neue Gewissheiten haben und war die erste Person, die nun losschritt, behände den ersten halbkreisförmigen Vorsprung erklomm und sich dann am kräftigen Hals der Schlange, den er zufällig zu packen bekam, direkt neben den Springbrunnen hochzog und schnaufend dort verharrte.
Mit einem missmutigen Gefühl blickte Thomas auf die zähflüssige rote Soße, mit welcher der Brunnen auch nur unzureichend gefüllt war, was auch ein weiterer Grund dafür war, dass die Fontäne weniger kräftig sprudelte, als noch in den letzten Tagen. Thomas schloss die Augen, sandte ein rasches Stoßgebet gen Himmel und tunkte dann seinen linken Zeigerfinger in die ominöse Flüssigkeit, die sich seltsam kühl und wie normales Wasser anfühlte und den jungen Polizisten arg stutzen ließ. Er hatte mit einer weitaus wärmeren Flüssigkeit gerechnet und ging nun davon aus, dass man hier nur Kunstblut oder einen roten Farbstoff verwendet hatte, um den restlichen Anwesenden einen weiteren Schrecken einzujagen und sie langsam in den Wahnsinn zu treiben. Der Killer wirkte völlig überlegen und sorgte provokativ für immer mehr Verwirrungen.
Thomas wollte auf dieses abgekartete Spiel nicht eingehen und roch mit geschlossenen Augen an seiner Hand, die mit dem angeblichen Blut übergossen war. Er hatte in seiner Karriere als Polizist schon oft den süßlichen, unangenehmen Geruch von Blut wahrnehmen müssen, doch diesen bemerkte er jetzt nicht. Stattdessen drang ein anderer stechender Geruch in seine Nase, den er ebenfalls schnell zuordnen konnte. Es handelte sich hier eindeutig um Lack!
Thomas nickte nachdenklich und wischte sich seine Hand gedankenverloren an seiner Hose ab, als sein Blick auf etwas Anderes fiel. An der hinteren linken Seite des Brunnens befand sich eine unscheinbare Klappe, die leicht offen stand und in die Tiefe zu führen schien. Normalerweise wäre sie Thomas gar nicht ins Auge gefallen, da sie genau dieselbe Farbe hatte, wie der restliche Boden aus Marmor, doch er hatte zufällig den schmalen Spalt entdeckt, da jemand den geheimen Weg nicht richtig verschlossen zu haben schien.
Mit einem Mal fühlte sich Thomas wieder wie elektrisiert, die Müdigkeit schien wieder rasant aus seinem Körper zu weichen und er war wieder völlig auf der Höhe der Zeit. Erregt wandte er sich zum Rest der Gruppe, die abwartend und düster wirkend in einem Halbkreis versammelt um den Springbrunnen stand und zu Thomas hinaufblickte. Der emotionale Schotte erschauderte, als er aus der Gruppe fast nur feindliche und missmutig gesonnene Blicke entgegengebracht bekam. Er schluckte und atmete tief durch. Er fürchtete auf einmal, dass er durch seinen Entdeckungsdrang immer gefährlicher für den Täter werden könnte und somit möglicherweise die höchste Priorität unter den verbliebenen Personen darstellte und sich in akuter Lebensgefahr befand. Hatte der gerissene Täter vielleicht sogar damit gerechnet, dass er derjenige sein würde, der den Springbrunnen genauer unter die Lupe nehmen würde und in dem ominösen Geheimgang eine tödliche Falle präpariert? Die Knie des Schotten fingen plötzlich an zu schlottern und er blickte wie hypnotisiert auf die so harmlos wirkende Klappe. In seinen Gedanken malte er sich wieder ein schreckliches Szenario aus und hörte das lautlose und hämische Lachen der Phantome um ihn herum, das ihn frösteln ließ. Zwei innere Stimmen sprachen zu ihm. Die erste flößte ihm Mut und Vertrauen ein, die zweite höhnte gehässig und schockte den Schotten mit der Vorstellung, in eine tödliche Falle zu tappen.
Es war wieder einmal die aggressive Stimme des Koreaners, die Thomas aus seinen Gedanken riss. Dieses Mal war er dem unsympathischen Flegel für die Ablenkung sogar fast dankbar. Er war allerdings so in sich versunken gewesen, dass Gwang-jo seine ungeduldige Frage noch ein zweites Mal recht ungehalten wiederholen musste. Die restlichen Gäste blickten Thomas nun eher nachdenklich und gespannt an, denn auch sie hatten die Veränderung in der Körpersprache des Schotten bemerkt.
„Könntest du uns jetzt vielleicht mitteilen, was du dort oben entdeckt hast, Sherlock Holmes?“, fragte Gwang-jo abfällig.
„Es handelt sich nicht um Blut. Es handelt sich um eine Art roten Lack. Jemand muss das Wasser in diesem Brunnen abgedreht haben und hat es durch diesen Lack ersetzt.“, bemerkte Thomas, obwohl er immer noch ein wenig geistesabwesend wirkte und ihm tausend verwirrende Gedanken durch den Kopf schwirrten, die er nicht wirklich einordnen konnte.
„Ich bin mir sicher, dass der Killer dahinter steckt. Er will uns einschüchtern, uns alle systematisch in den Wahnsinn führen.“, bemerkte Abdullah Gadua.
„Wie kann es aber sein, dass er uns so überlegen ist? Wir hätten es doch bemerken müssen, wenn einer von uns an diesem Brunnen herumgespielt hätte.“, meinte Marilou zu ihrem Gatten und blickte sich fragend um.
„Ich schätze, dass das Ganze recht schnell ging. Der Killer hatte einen Behälter mit rotem Lack dabei, hat den Inhalt oben von der Balustrade aus in den Brunnen geschüttet und den Behälter dann schnell irgendwo versteckt. Die ganze Aktion wird ihn höchstens zwei Minuten gekostet haben.“, erwiderte Abdullah, doch Thomas wollte ihn nicht im Unklaren lassen und widersprach ihm deshalb direkt, bevor seine Frau hätte antworten können.
„So war es vermutlich nicht. Ich habe hier oben eine Art Klappe entdeckt, die wohl in einen gang oder Raum unterhalb des Brunnens führt. Von dort aus wird der Täter das Wasser systematisch abgepumpt haben, um es durch die neue Flüssigkeit zu ersetzen.“, warf Thomas ein und wurde von allen Anwesenden erstaunt angesehen.
Der erste Anwesende, der sich von der überraschenden Feststellung wieder erholte, war Gwang-jo Park, der selbstverständlich wieder nach einem potenziellen Schuldigen suchte und auch rasch fündig wurde. Erstaunlicherweise hielt er sich bei seiner Ausdrucksweise aber dieses Mal zurück und schwächte seine Beschuldigungen somit ab, was Thomas mit großem Erstaunen registrierte. Vielleicht hatte der dickköpfige Koreaner ja doch aus seinen Fehlern ein wenig gelernt und hatte mittlerweile sogar so etwas wie Respekt oder gar Angst vor den anderen Gästen, die sich ja kürzlich erst eindeutig gegen ihn gestellt hatten. Allerdings wusste Thomas insgeheim, dass diese Hoffnung eher Wunschdenken war.
„Ich könnte mir vorstellen, dass der Täter sich in diesem Haus erstaunlich gut auskennen muss, sonst hätte er diesen Gang gar nicht gekannt. Da wir als Gruppe die gesamte Zeit zusammenwaren, gibt es eigentlich nur eine einzige Person, die nicht immer unter unserer Kontrolle stand und dieses Schloss mittlerweile auch wie ihre Westentasche kennen müsste.“, begann der Koreaner vorsichtig, doch seine Idee wurde sofort begierig aufgegriffen.
„Du meinst ganz offensichtlich den Koch!“, schaltete Abdullah schnell und nickte dabei nachdenklich.
„Das ist das erste Mal, dass ich eine deiner Theorien einigermaßen einleuchtend finde. Wir kennen ihn viel zu wenig, um ihn wirklich einschätzen zu können. Er wirkt schüchtern, schwach und still, aber das könnte auch nur eine Art Fassade sein.“, bemerkte Elaine Maria da Silva.
„Wir sollten es uns nicht zu einfach machen, Leute. Wir haben ja auch schon ausführliche Karten von dem Schloss gefunden, auf denen jede Menge Gänge eingezeichnet worden waren. Fast jeder von uns hätte einen Blick darauf werfen können und sich die Karte quasi fotografisch einprägen können.“, warf Thomas mit Vorsicht ein, da er spürte, dass sich die Gruppe wieder zu sehr auf einen einzigen Aspekt zu konzentrieren drohte.
„Wo du gerade davon sprichst. Haben wir nicht einige dieser Karten mitgenommen? Es wäre wohl am besten, wenn wir danach alle Geheimgänge des Schlosses systematisch durchsuchen würden. Vermutlich lagert der Mörder hier irgendwo noch weitere Waffen oder hat irgendwelche Fallen präpariert. Je besser wir dieses Schloss kennen würden, desto mehr wären wir vor solch unangenehmen Überraschungen wie dieser gewappnet.“, argumentierte Abdullah Gadua und blickte den schottischen Polizisten dabei erwartungsvoll an. Diesem wurde dabei plötzlich siedend heiß.
„Von welchen Karten sprecht ihr überhaupt?“, fragte Marilou in diesem Moment lauernd, denn die Männer, die den Fischkutter entdeckt hatten, hatten sich versprochen unter keinen Umständen über ihre Funde zu sprechen.
Jetzt aber hatte sich Thomas, wie er selbst mit zusammengepressten Lippen zugeben musste, arg verplappert. Die Entdeckungen drohten aufzufliegen und er konnte die Geheimniskrämerei nicht mehr länger verantworten. So sehr er sich auch aufregte, er musste jetzt mit allen Anwesenden Klartext reden.
Dennoch tauschte der Polizist einige Blicke mit den anderen Anwesenden aus. Abdullah hatte seine Geste genau verstanden und nickte ihm aufmunternd zu. Thomas atmete tief durch und entschloss sich zu einer aufklärenden Erläuterung.
„Als wir in den letzten Tagen losgezogen waren, um die Wälder zu durchforsten und den Butler zu finden, sind wir noch auf eine andere Sache gestoßen. Wir haben auf der anderen Seite der Insel, in einer Art natürlichem Hafen, einen Fischkutter gefunden. Dieser gehörte offensichtlich dem Täter, denn wir fanden dort verschiedene Informationen, unter Anderem eben auch einige Pläne über dieses Schloss. Darauf sind alle Gänge eingezeichnet. Wir haben den Kutter mit seinen Waffen niedergebrannt, um dem Täter diesen Rückweg zu versperren und das Beweismaterial an uns genommen. Im Verlauf der letzten Ereignisse hatte ich das völlig vergessen. Mit Hilfe dieser Mappen könnten wir endlich den Rest des Schlosses erkunden und eventuell sogar den Täter unter uns finden. Zudem haben wir ein sehr interessantes Buch gefunden, in dem Bilder von jedem von uns zu finden sind, während wir dabei sind, irgendeine Sünde zu begehen. Vermutlich sind diese Missetaten ein essentieller Grund für die Arbeit des Mörders. Er sieht sich vielleicht als Rächer und möchte eine radikale Selbstjustiz ausüben.“, berichtete Thomas in Kurzform über die Dinge, die sie damals entdeckt hatten.
„Das hast du uns die ganze Zeit vorenthalten? Du hast einfach zugelassen, dass wir unwissend sind und völlig ahnungslos in irgendwelche Fallen hätten tappen können, ohne etwas über die Beweggründe des Mörders zu wissen? Du sprichst die ganze Zeit davon, dass wir alle zusammenhalten müssen, dass wir gemeinschaftlich agieren sollen und nun bildest du willkürlich eine Zwei-Klassen-Gemeinschaft in diesem Schloss? Ich kann es nicht fassen. Ich bin enttäuscht von dir!“, warf Elaine Maria da Silva ihm nach einigen Momenten des Nachdenkens laut und heftig vor.
Doch ihre Härte konnte dennoch nicht verhindern, dass Tränen in ihren Augen glitzerten und sie sich mit einem unterdrückten Schluchzen abwenden musste.
Marilou Gauthier trat sofort zu der verzweifelten Frau und legte ihr den Arm um die Schulter, sprach ihr ruhig zu und warf Thomas einen ebenso grimmigen Blick zu wie die Brasilianerin. Die anderen Anwesenden starrten betreten zu Boden und Thomas fühlte sich plötzlich unendlich allein. Er war derjenige, der sich immer für alle anderen Anwesenden einzusetzen versuchte und nun hatte er selbst keinerlei Unterstützung, keinen Rückhalt und kein aufmunterndes Wort. Verbittert blickte er auf seine Fußspitzen und fragte sich, ob er sich selbst zum Narren schelten sollte oder ob seine Wut auf die restliche Gemeinschaft gerechtfertigt war. Es schockte ihn, dass Elaine gerade mit Marilou jetzt so eng zusammen stand und sich symbolisch gegen ihn wandte. Die Kanadierin und die Brasilianerin konnten sich eigentlich auf den Tod nicht ausstehen und hatten sich mehrmals angefeindet, sodass Thomas oder eine andere Person eingreifen musste. Marilou schien nun von dem Zwiespalt profitieren zu wollen, denn Thomas schätzte die merkwürdige Frau einfach nur als hinterhältig und gefährlich ein. Durch ihr undurchsichtiges Verhalten war sie aus der Sicht des jungen Polizisten sogar ein noch größerer Gefahrenherd als der offensive Gwang-jo. Lag es einfach in ihrer Natur oder wollte die Kanadierin bewusst für Unfrieden sorgen?
Thomas fühlte sich unwohl in seiner Haut und wusste nicht, was er jetzt überhaupt machen sollte. Er hatte keine Kraft mehr dieses Problem zu konfrontieren, schämte sich dafür der Brasilianerin nun hinterher rennen zu müssen, um sie zu beschwichtigen und sich vor dem Rest der Gruppe zu blamieren.
Nachdenklich beobachtete er, wie die beiden Frauen empört und gebückt die Eingangshalle verließen und zurück in die Bibliothek kehrten. Auch die anderen Anwesenden starrten den beiden Damen hilflos hinterher, nur Gwang-jo konnte sich ein heimliches und schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen.
„Und nun, Herr Kommissar?“, fragte der Koreaner, doch Thomas ging auf diese versuchte Provokation schon gar nicht mehr ein.
Er wirkte wie betäubt und nahm sich vor sich möglichst schnell abzulenken. Sein Blick fiel dabei wieder auf die Klappe, die unterhalb des Springbrunnens zu führen schien. Die Stimmen in seinem Kopf waren inzwischen abrupt verstummt und hatten einer wattigen Leere Platz gemacht.
Wie eine Statue stand Thomas neben dem düsteren Brunnen, aus dem monoton und träge die rote Flüssigkeit quoll. Er gab sich schließlich einen Ruck, blickte aber noch kurz in die Gruppe und wandte sich emotionslos an den Koreaner.
„Ich werde mir diese Klappe mit dem Versteck vornehmen. Vielleicht entdecke ich dort unten irgendeinen nützlichen Hinweis. Vielleicht kann ich diesen gottverdammten Brunnen auch endlich ausstellen, dieses monotone Plätschern jagt mich noch in den Wahnsinn.“, murmelte Thomas grimmig und demonstrierte eine Entschlossenheit, von der er selbst nicht überzeugt war, als er sich geräuschvoll abwartete und quer über den Brunnen auf die Klappe zusprang, nur um aus dem bedrückenden Blickfeld der Gruppe zu gelangen. Er brauchte jetzt einfach eine gewisse intime Ruhe und die Untersuchung des Schachtes kam ihm da als Ausrede geradezu gelegen.
Ohne Probleme öffnete er die Luke und blickte auf eine relativ moderne und intakte Leiter, die einige Meter in die Tiefe führte und auf einen kalten und grauen Betonboden führte, der von einem schummrigen elektrischen Licht, vermutlich über einen Notstromaggregator, erleuchtet war. Auf dem Boden entdeckte Thomas bereits einige rote Flecken, die ein weiterer Beweis dafür zu sein schienen, dass vor nicht allzu langer Zeit irgendwer dort den roten Lack verschüttet hatte. Anzeichen für eine konkrete Gefahr konnte Thomas beim besten Willen nicht ausmachen, doch ein unangenehmes Drücken im magen blieb bei ihm latent vorhanden.
Mit dieser neuen Entdeckung im Rücken machte sich Thomas dennoch schnaufend an den Abstieg und warf noch einen letzten Blick auf die fahlen Farben der Decke der Eingangshalle, die in dunkles Licht getaucht zu sein schien. Irgendwie wurde der schottische Polizist das Gefühl nicht los, dass er hier gerade dabei war, in sein eigenes Grab zu steigen und spürte mit jeder Sprosse, die er hinabstieg, dass er ein bedrückenderes Gefühl bekam und gieriger nach Luft schnappte. Thomas brach in Schweiß auf und bekam eine erregte Gänsehaut, als er endlich unten ankam und auf ein riesiges Pumpsystem blickte, das an einen Behälter angeschlossen war, dessen Glasverschluss noch offen stand. Viel interessanter war jedoch der umgestoßene Kanister, der neben einer elektronischen Vorrichtung stand und aus dem noch wie in Zeitlupe einige rote Tropfen liefen.
Thomas kratzte sich nachdenklich am Kinn. Hatte der Täter wirklich keine tiefergreifende Absicht mit dieser Aktion bezweckt, als ein paar erwachsenen Menschen mit rot gefärbtem Wasser einen Schrecken einzujagen? Ein kurzer Blick in die Runde bewies Thomas bereits, dass er hier auf keine weiteren Hinweise stoßen würde.
Dennoch näherte er sich dem Kanister und hob diesen zögernd auf. Dabei fiel sein Blick auf einen kleinen Aufkleber auf der Unterseite, der ihn stutzen ließ. Darauf stand die Herkunft des Kanisters und der dort benannte Ort war Thomas von irgendwoher bekannt.
„John McReffrey’s sailor shop, 404 Oceanside Avenue, Bridetown.“, murmelte der Schotte leise und wiederholte diesen Satz immer wieder.
Er zermarterte sich den Kopf, doch er kam einfach nicht auf die Lösung des Rätsels. Enttäuscht und verärgert warf er den leeren Kanister gegen das Gestänge der Pumpvorrichtung, von der monoton rote Tropfen zu Boden plätschern, da die Verdichtung nicht einhundertprozentig intakt zu sein schien. Thomas griff nun nach dem ebenfalls offenstehenden Schaltkasten und erblickte unweit daneben einen Bottich, in dem sich teilweise das abgepumpte normale Wasser befand, das der Täter ausgetauscht hatte. Der schottische Polizist beachtete dies nicht näher und hatte stattdessen eine Hebel gefunden, den er mit beiden Händen umlegte, woraufhin ein kurzes Knistern und dumpfes Blubbern ertönte, bevor einige grüne Lämpchen in dem Kasten erloschen. Er hatte soeben den Pumpmechanismus des Springbrunnens ausgestellt.
Grimmig nickend wandte sich Thomas von der Vorrichtung ab und stolperte plötzlich über einen Gegenstand, der bisher unbemerkt von ihm auf dem Boden gelegen hatte. Erstaunt hielt der Schotte inne und bückte sich nach dem seltsamen und unförmigen Teil.
Erst als er es in seinen Händen hielt, erkannte er worum es sich hier handelte. Thomas hatte soeben eine braune Kappe aufgehoben, die ein wenig unförmig wirkte und am ehesten noch an die klassischen Baskenmützen erinnerte. Nachdenklich drehte Thomas die Kappe um, fand der Innenseite jedoch nur ein Schildchen mit dem Hinweis, dass der Gegenstand in Mexiko produziert worden war. Dennoch kam der Gegenstand Thomas seltsam bekannt vor, doch erneut war in seinen Erinnerungen nur ein großes Fragezeichen oder ein enormes schwarzes Loch. Auch diesen Hinweis konnte der Schotte nicht zuordnen und rieb sich frustriert fluchend seine Schläfen. Vielleicht lag der Grund seiner Konzentrationsschwäche einfach nur an dem stinkigen und stickigen Raum, in dem er sich gerade befand oder an seinem eklatanten Schlafmangel.
Daher steckte Thomas die Mütze und ebenfalls den Aufkleber des Kanisters in die Innentasche seines Hemdes und wandte sich nun wieder in Richtung des Aufstieges um. Er wollte gerade die ersten Sprossen auf der Leiter nehmen, als sich ein hektischer Schatten über sein Gesicht legte. Verschreckt blickte Thomas in de Höhe und sah nur noch die verwaschenen Konturen einer Person, die plötzlich die offenstehende Klappe energisch zuwarf. Thomas hörte nur noch das dumpfe Nachhallen des Geräusches und ein metallisches Klicken, das ihm bewies, dass die Luke nun von außen eingerastet worden war.
Die ungute Vorahnung des Schotten hatte sich schlagartig bestätigt. Seine Sorge, seine zweifelnden inneren Stimmen waren berechtigt gewesen. Thomas wurde mit einem Mal übel und schwindlig und er schnappte hastig nach Atem. Er konnte sich nur mit Mühe und Not einigermaßen beruhigen. Doch er musste der Tatsache nüchtern ins Auge sehen.
Thomas war in diesem unterirdischen Raum gefangen!