by Sebastian Kluth
Kapitel 109: Sonntag, 5 Uhr 06 Abdullahs Zimmer
Thomas musste den Schock der letzten Entdeckung erst einmal verdauen. Er wurde sich schmerzlich bewusst, dass er sich wohl nie an das grausame Töten gewöhnen konnte und vielleicht sogar zu emotional an die Sache heranging, um dem Täter wirklich Paroli bieten zu können. Thomas war in den letzten Tagen zwar zunehmend abgestumpft, doch seine solidarische und emotionale Moral hatte er sich noch nicht nehmen lassen. Rote Schleier der Wut und puren Aggression tanzten sekundenlang vor seinen Pupillen.
Mit einem Mal fühlte er sich schrecklich allein. Er lauschte, hörte nur das dumpfe Grollen von draußen, wo die Natur immer noch rebellierte und ihn auf diesem Eiland der Verdammnis gefangen hielt. Nur noch vier Menschen waren in diesem Schloss am Leben, von ehemals sechzehn Personen. Unter diesen Menschen befand sich ein erbarmungsloser Mörder, die anderen beiden waren spurlos verschwunden.
Thomas stöhnte verzweifelt auf und musste erneut an den grausam zugerichteten Körper des Schweden denken. Das Bild der sinnlosen Gewalt würde ihn wohl bis an sein Lebensende lang in seinen Träumen verfolgen, falls er den heutigen Tag überhaupt überleben sollte. Kaum hatte er das Trauma des Todes seines Jugendfreundes und seiner schweren Kindheit überwunden, da traf ihn dieser harte Schlag, der sein Jugendtrauma noch bei weitem übertraf.
Womit hatte er das verdient? Warum strafte Gott ihn mit diesem Schicksal, wo er doch ernsthaft versucht hatte sich zu bessern, gläubiger geworden war und seine Arbeit in den Dienst der Gesellschaft gestellt hatte? Warum schien alles Glück, was er kurzzeitig hatte, sich von selbst wieder und wieder zu zerstören? Was hatte er in seinem Leben denn schon für Erfolge errungen? War er als der geborene Verlierer ausgekoren, als ein Sündenbock des Schicksals? Für Thomas ging es längst nicht mehr um die Frage nach dem Mörder, sondern um die Frage nach seiner eigenen Existenz. Diese neue philosophische Tiefe brach fast unvermittelt über Thomas hinein und er war müde, sich damit auseinanderzusetzen.
Dem Polizisten schossen bittere Tränen in die Augen und er drohte wieder in Depressionen zu versinken. Die Zeit lief gegen ihn. Sekunden wurden zu Minuten, das Leben schien unaufhaltsam und ohne Emotionen an ihm vorüberzuziehen. Er sah keinen Sinn in dem, was er lebte und was er tat, er fühlte sich nur noch ausgelaugt, doch es ging ihm nicht mehr um das Hier und Jetzt. Es ging ihm um seine Zukunft, seine vielleicht letzte Chance. Doch es ging nicht nur um seine Zukunft allein, sondern auch um die seiner neuen Partnerin. Elaine, ein einziger Name, ein einziger Gedanke, ein einziger Reflex.
Ein überlauter Blitz ließ das ganze Schloss erbeben. Der Schatten der aus dem Schrank hängenden Leiche spiegelte sich an der Wand des Badezimmers wieder, streifte über das Gesicht des Schotten. Der Schotte sah den hängenden Arm des Toten, an dem langsam das Blut herunterrann und wie in Zeitlupe auf den Teppichboden tropfte, wo es eine immer größer werdende Lache hinterließ.
Thomas stand fast mechanisch auf, versuchte jeden Augenkontakt mit der entstellten Leiche zu vermeiden, deren Kopf seltsam schräg zur Seite hing und genau in seine Richtung starrte. Ein dumpfes Grollen ließ Thomas herumfahren und jagte ihm den nächsten Schrecken ein.
Der Polizist trat wieder zurück in den Zimmerflur, der immer noch wie ausgestorben vor ihm lag. Einst waren alle Zimmer voll besetzt gewesen, jetzt schienen sie allesamt leer zu sein. Düstere Schemen huschten über die Wände, bizarre Schatten schienen hinter jeder Ecke zu lauern. Es war die Zeit der blutrünstigen Phantome und Thomas war ihnen nicht gewappnet.
Der provisorische Ermittler wider Willen drehte sich im Kreis, blickte nervös um sich, in Erwartung eines heimtückischen Angriffs. Unablässig trommelte der Regen gegen das Fenster am Ende des Ganges, das plötzlich grob aufgestoßen wurde und mit voller Wucht gegen die Wand knallte. Ein dumpfes Grollen begleitete diesen gespenstischen Effekt und ein feuchter, unangenehmer Wind trieb Thomas entgegen.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er trat fröstelnd zum Fenster, das jetzt rappelnd von einer Seite zur Anderen zitterte und klappernd gegen seinen Rahmen schlug.
Thomas warf einen furchtsamen Blick nach draußen. Er sah die dunkle Küste, wo sich gewaltige Wellen meterhoch auftürmten und gegen die Insel krachten, als ob sie selbige wie gierige Mäuler verschlingen wollten. Thomas sah die weiße Gicht aufblitzen wie Flossen grausamer Tiefseemonster, die auftauchten, um ebenso schnell wieder zu verschwinden.
Sein Blick fiel auf den Vorhof des Schlosses. Die Blumenbeete waren völlig überschwemmt, ebenso wie der kleine Familienfriedhof auf der von ihm aus gesehen rechten Seite des Schlosses. Innerhalb weniger Tage würde dieser Friedhof vielleicht zu einem Massengrab werden und bereits jetzt glichen die markanten Grabsteine gekrümmten Zeigefinger, die Thomas zu sich zu rufen schienen.
Den Polizisten schauderte es bei dem Gedanken an die nasse, kalte Erde, die seinen Körper bedecken würde, während der wahnsinnige Mörder ihn triumphierend verscharrte. Falls dieser ihm diese ehrenhafte Bestattung überhaupt vergönnen würde und ihn nicht achtlos liegen ließ oder ohne Mitgefühl in das gierige Meer beförderte. Mit einem wuchtigen Ruck stieß Thomas das Fenster zu und drehte sich wieder herum.
Vor ihm lag der lange, nun fast tunnelartig wirkende Gang, der sich irgendwo in der Dunkelheit verlor. Thomas fühlte sich klein und unscheinbar, als er den Gang Schritt für Schritt mit dauerhafter Gänsehaut durchquerte. Er kam sich vor wie bei einem Gang zum Schafott, wie beim Weg zu seiner Hinrichtung, die ihn am Ende des Ganges erwarten würde. Er versuchte diesen Gedanken abzuschütteln und ging mechanisch vorwärts, dabei versuchend die dunklen, gespenstischen Schatten um ihn herum nicht zu beachten, die nach ihm greifen zu schienen wie Boten aus dem Jenseits.
Er erreichte die Treppe hinab in die Eingangshalle, in der sich keine Menschenseele befand. Thomas zögerte, denn er hatte gar keine Idee, wo er seine Suche fortsetzen sollte. Die Ungewissheit und Ziellosigkeit zehrten noch mehr an seinen Nerven. Jede Entscheidung konnte ebenso goldrichtig, wie auch tödlich falsch sein.
Die Zeit tickte erbarmungslos herunter. Sechs Dolche im Körper des toten Schweden. Edel geformte, leicht gekrümmte Dolche, die vielleicht aus Vorderasien stammen konnten. Sie waren mit kleinen Ornamenten, kleinen Diamanten versetzt gewesen, doch trotz ihrer wertvollen Schönheit, waren sie doch nur bessere Mordwaffen. Sechs Dolche, die den nächsten Mord für sechs Uhr morgens ankündigten. Wie viel Zeit blieb Thomas noch? Eine halbe Stunde, vielleicht sogar weniger mittlerweile?
Da hörte der Schotte ein dumpfes Pochen und einen dumpfen Laut, als ob aus unendlich weiter Entfernung oder Tiefe jemand schreien würde. Thomas hielt inne, konzentrierte sich auf das Geräusch, das seiner Meinung nach aus dem hinteren Bereich des Ganges kam, in etwa dort, wo die Wendeltreppe hinauf zum Schlossturm führte.
Thomas ging nun rascher vorwärts, denn er hatte in dem dumpfen Laut eine weibliche Stimme erkannt. Das Geräusch wurde immer lauter, er kam seinem Ziel scheinbar immer näher. Thomas rannte an der Wendeltreppe vorbei, den Zimmerflur geradeaus bis zu seinem Ende, an dem sich ein versperrter Balkon befand, der allerdings ohnehin menschenleer war.
Der allein gelassene Polizist wurde sich bewusst, dass er diesen hinteren Bereich noch nie erkundet hatte. Er hörte wieder das gedämpfte Rufen, es schien jetzt ganz nah zu sein und er erkannte voller Aufregung die Stimme von Elaine Maria da Silva.
Thomas wandte sich hektisch zur erstbesten Tür, die allerdings verschlossen war und sich auch nicht öffnen ließ, als Thomas wuchtig gegen sie trat und sich dabei fast noch verletzt hätte.
Die Vorsicht ließ er jetzt völlig außer Acht, als er zur gegenüberliegenden Tür rannte, diese aufriss und sich in einem alten, möblierten Kinderzimmer befand, in dem sich eine altertümliche Schaukel, verblichene Puppen und ein verstaubtes Himmelbett befanden, die allesamt mehr schlecht als recht mit einer weißen Plane abgedeckt waren. Thomas sah ein kleines, verblichenes Schild, das über dem Bettchen hing und den Namen „Magdalena“ zeigte. Möglicherweise war er auf das alte Kinderzimmer der toten Schlossherrin gestoßen.
Thomas wollte den Raum schon wieder verlassen, als er eine Zwischentür entdeckte, die zwischen dem bedeckten Mobiliar kaum erkennbar war. Mit unbändiger Spannung trat Thomas über die knirschenden Holzplatten, da dieses veraltete Zimmer noch nicht mit Teppich ausgelegt war.
Zitternd packte Thomas den Knauf, drückte ihn vorsichtig herum und riss die Tür mit einem Ruck auf und schrie sich emotionsgeladen die Angst von der Seele. Dabei folgte der Schotte seinem meist untrügerischen Instinkt, der ihn in diesem Fall aber auf eine falsche Fährte lockte.
Thomas konnte die Arme gar nicht mehr schnell genug hochreißen, als ihm ein überdimensionales Schaukelpferd entgegenfiel, das er instinktiv abblockte und noch im Fallen zur Seite drückte. Der Polizist fiel selbst rücklings auf den Boden, drückte sein Kinn gegen die Brust und krümmte sich zusammen, als die anderen Spielzeuge der Rumpelkammer auf ihn einprasselten.
Bauklötze folgen gegen seinen Kopf, einige Puppen schlugen neben ihm auf, alte Gesellschaftsspiele fielen aus ihren Verpackungen und verteilten ihren Inhalt kreuz und quer im Raum.
Nach einigen Sekunden war das Spektakel vorbei. Thomas war unverletzt geblieben und rappelte sich fluchend auf. Der Täter war nun spätestens jetzt gewarnt worden, denn der infernalische Lärm war vermutlich im ganzen Schloss zu hören gewesen.
Thomas richtete sich auf, rutschte auf einem Bauklotz aus und fiel mit rudernden Armen wieder hart auf den Boden. Die Holzplatten unter ihm bogen sich und knirschten bedenklich. Thomas resignierte, robbte sich durch das von ihm verursachte Chaos und rappelte sich erst an der Tür wieder auf, wo er gehetzt in den immer noch menschenleeren Gang schaute und sich den Staub von seinen Anziehsachen klopfte. Innerlich schalt er sich einen Narren, seitdem die Stimmen, die ihm dies zuvor immer vorgeworfen hatten, nach seiner langen und komatösen Bewusstlosigkeit entgültig exorziert zu sein schienen.
Da ertönte unweit von ihm eine leise Stimme, die ihn sofort herumschnellen und hektisch in alle Richtungen blicken ließ.
„Thomas?“, hörte er die gedämpfte Frage.
„Elaine? Elaine, wo bist du?“, wollte Thomas ebenfalls flüsternd wissen.
„Ich verstehe dich nicht. Ich bin hier unten, hinter dir!“, rief die Brasilianerin zurück und Thomas blickte sich überrascht um.
Tatsächlich befand sich am Ende des Zimmerflurs ein alter türkischer Teppich, der seine beste Zeit wohl schon hinter sich hatte und einen nicht unbeträchtlichen Teil des Bodens verdeckte. Der tollpatschige Schotte bückte sich und zerrte das schwere Stück mühsam zur Seite und erblickte dann eine in der Dunkelheit kaum sehbare Falltürklappe.
Der Schotte duckte sich, packte den kleinen, metallischen Griff und zerrte die Luke mit aller Kraft in die Höhe. Dabei musste er mehrere Male nachgreifen, denn das Teil war ganz schön schwer und dies war wohl auch der Grund, warum die Brasilianerin es nicht geschafft hatte, sich eigenhändig zu befreien.
Endlich hatte Thomas die Luke weit genug in die Höhe gedrückt, sodass ihr Gleichgewicht verlagert wurde und rücklings auf den Holzboden schlug, was erneut einen höllischen Lärm verursachte.
Thomas blickte in das verdreckte und verstaubte Gesicht seiner Partnerin, die zusammengekrümmt in einer düsteren, mit Spinnweben überzogenen Kammer saß und ihm blinzelnd entgegenblickte. Eine fette Ratte huschte überrascht davon.
Der Schotte reichte Elaine seine Hand und die Brasilianerin zog sich daraufhin mit allerletzter Kraft aus ihrem Gefängnis, bevor sie stöhnend neben Thomas zusammensank und ängstlich in das dunkle Loch blickte.
„Mein Gott, ich habe Höllenqualen durchgestanden. Ein kleiner Raum voller ekelhafter Tiere und alten Haushaltsgegenständen. Es war die Hölle, Thomas, die Hölle!“, bemerkte sie schluchzend und klammerte sich an die Beine ihres aufrecht stehenden Geliebten, der sich langsam auf ihre Höhe hockte.
„Was ist überhaupt geschehen?“, wollte Thomas wissen nach wenigen Augenblicken geradezu mechanisch wissen.
Trotz der Euphorie bezüglich des Wiederfindens seiner großen Liebe, fühlte der Schotte sich emotionslos und kalt. Er wollte seinen Gefühlen dieses Mal keine Chance geben, denn die letzten Male hatte er es zumeist grausam bereut, beispielsweise beim Verschwinden des wahnsinnigen Björn Ansgar Lykström. Wäre Thomas nicht so unkontrolliert seinen Trieben gefolgt, dann wäre der Schwede jetzt möglicherweise noch am Leben. Die Vorwürfe lähmten Thomas ungemein und er hatte enorme Mühe, sich auf die Antworten seiner Partnerin überhaupt ansatzweise zu konzentrieren.
„Nachdem du gegangen warst, bin ich sofort in das Zimmer von Marilou gegangen. Dort habe ich auch ihren bewusstlosen Mann in der Dusche gefunden. In ihrem Zimmer habe ich unter dem Bett eine kleine Blättersammlung gefunden. Jedes Blatt war mit dem Namen eines Anwesenden versehen, darauf waren in akribischer Kleinstarbeit all unsere Hobbies, Schwächen, Vorlieben und andere Dinge notiert, sowie Stichwörter zu jedem von uns bezüglich eventueller Ermordungsmöglichkeiten.“, berichtete die Brasilianerin schluchzend.
„Mein Gott! Das ist dann wohl der entgültige Beweis, dass sie dahintersteckt. Was ist danach geschehen?“, hakte Thomas nach und hatte jetzt doch nur Augen für seine verschreckte Freundin.
Thomas konnte es kaum fassen, dass die Identität des Täters nun klar vor ihm lag. Er fühlte sich nicht erleichtert, auch nicht verängstigt, er wusste überhaupt nicht mit dieser Nachricht umzugehen. Die Informationen prasselten wild auf ihn ein.
„Ich habe mir alles schnell durchgelesen, nach weiteren Beweisen gesucht, als sie plötzlich hereinkam, wie aus dem Nichts. Sie ist auf mich losgestürmt, hat mir ins Gesicht geschlagen und als ich mich wehren wollte, da hatte sie diese Spraydose in der Hand, hat auf mich gezielt... und seitdem weiß ich nichts mehr. Ich bin in dieser verdammten Kammer aufgewacht, laut meiner Armbanduhr etwa nur eine halbe Stunde nach deinem Verschwinden.“, ergänzte die Brasilianerin, die mittlerweile schon wieder weniger hektisch und geordneter erzählte.
Thomas betrachtete mit großen Sorgenfalten die striemigen Kratzer im Gesicht seiner Partnerin, die wohl vom Kampf herrührten. Sanft strich der Schotte ihr über die Wunden, seine Lippen bebten vor Wut und Trauer.
„Diesem verdammten Miststück werde ich es zeigen! Die kann etwas erleben, wenn ich sie in die Finger bekomme.“, drohte Thomas großspurig und blind vor Wut und hätte wohl nicht mit irgendeiner Antwort gerechnet.
„Dann komm doch her, du dummes Großmaul.“, ertönte es aggressiv in seinem Rücken und Thomas fuhr abrupt herum, nur um in die Mündung der Pistole zu blicken, die Marilou Gauthier, die wie ein Phantom auf dem Gang erschienen war, krampfhaft und zu allem entschlossen umklammert hielt.
Als die Mörderin den entsetzten Blick des Schotten sah und die Brasilianerin, die aufschrie und sich in wilder Angst an ihren Freund schmiegte, lachte die Kanadierin nur verächtlich auf.
„Drei von euch sind noch übrig. Meinen Mann hebe ich mir als ganz besonderen Höhepunkt auf. Es ist gleich sechs Uhr. Zeit für die nächste gerechte Tat. Dieses Mal trifft es dich, mieses Bullenschwein!“, drohte Marilou, trat noch einen Schritt näher und zielte nun mit ihrer mörderischen Waffe genau auf den Schotten, der vor Schreck erstarrt war und dem Tod nun unwiderruflich ins Auge sah.