Eklablog
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by Sebastian Kluth

Kapitel 111

 

Kapitel 111: Sonntag, 6 Uhr 06 Zimmerflur


Eine undurchdringliche Schwärze hielt Thomas umfangen, konturenlos, emotionslos, unendlich weit. War dies das Jenseits? Dieses schwarze, unspektakuläre Nichts? Dieser endlose, dunkle Raum der Einsamkeit? Was war mit Thomas geschehen? Wenn er tot war, warum konnte er überhaupt klar denken? Hatte sich seine Seele, sein Geist von seinem restlichen Körper abgespalten, um in ein diffuses und unbegreifliches Zwischenreich einzudringen? Waren Himmel und Hölle stets nur altertümliche Illusionen gewesen, war die andere Seite so unspektakulär?

Thomas schwirrten Fragen über Fragen durch den Kopf, als er plötzlich einen matten Lichtschein in weiter Ferne sah. Verschwommene, sich drehende Gebilde sah er, die er nicht zuordnen konnte. Schatten, die sich über andere Schatten legten und immer näher auf ihn zu kamen.

Gleichzeitig ertönten die Geräusche wie aus weiter Ferne. Ein peinvoller Schrei, abgestumpft, drang aus irgendeiner unerklärlichen Weite zu ihm herüber. Ein Poltern ertönte, Thomas sah huschende Bewegungen, hörte ein verzerrtes, dämonisches Lachen, das ihm Angst machte. Zwei große Schatten taumelten durch einen Tunnelgang, sie drehten sich, waren in ständiger Bewegung und plötzlich in einem gleißenden Licht verschwunden. Das unerkenntliche Pärchen stürzte aus dem Höllenfeuer hinaus durch eine gigantische Himmelspforte und das neue Nichts war plötzlich nur noch weiß.

Thomas blinzelte verwirrt und schlug die Augen auf. Die undurchdringliche Schwärze hatte ihn wieder ausgespuckt, die andere Seite hatte ihn nicht nehmen wollen. Er war zurück in der Gegenwart, in der Realität und fand sich leicht zitternd und dennoch starr auf dem Boden des düsteren Zimmerflurs wieder, der inzwischen völlig verlassen war.

Je mehr der tranceartige Zustand von ihm wich, desto mehr spürte er den heiß pulsierenden Schmerz in seiner linken Schulter. Dumpf quoll das warme Blut über seine Ärmel, über seinen Oberkörper, quer über die Brust, bevor es wieder vom Stoff aufgesogen wurde, der klebrig an seiner durchgeschwitzten Haut haftete.

Verwunderte und wie in Zeitlupe tastete Thomas unter seinem Hemd, verbog seinen rechten Arm dabei, doch selbst diese Bewegung ließ seinen linken Arm schmerzen. Endlich hatte er das alte, staubige, lederbehaftete Buch erreicht, das immer noch in seiner inneren Brusttasche hing. Mit großer Anstrengung zerrte er es in die Höhe, beförderte es zitternd aus seinem Hemdkargen und blickte auf die Bibel, in deren Mitte ein schwarzes Loch klaffte, in dem eine kleine, silbrige Patrone steckte.

Thomas realisierte erst langsam, dass ihm das Buch Gottes das Leben gerettet hatte. War dies ein Wink des Schicksals? Thomas hatte durch das Attentat möglicherweise einen Schock erlitten, die Besinnung verloren und wirre Fantasien gehabt, doch allmählich verklang das flaue Gefühl in seinem Magen, der Schmerz in seiner Schulter wurde betäubender und ließ somit nach und seine Gedanken wurden wieder klarer.

Er konnte es kaum fassen. Marilou Gauthier hatte ihn wohl für tot gehalten, ihn mitten im Gang liegen lassen, denn so kurz vor der Beendigung ihres mörderischen Rachefeldzuges war selbst sie in unkontrollierte Ekstase geraten und machte Fehler, die sie früher vielleicht nie begangen hätte. Sie rechnete nur noch mit zwei Gegnern und Thomas wurde klar, dass er nun all seine Fehler, all seine falschen Vermutungen wieder gut machen konnte, wenn er wenigstens noch zwei andere Leben retten könnte.

Thomas dachte über die letzten Geschehnisse noch einmal genauer nach. Seine Schläfen pochten, das Blut rauschte beinahe unerträglich laut durch seinen Kopf. Die harten Worte der wahnsinnigen Kanadierin kamen ihm so unsagbar weit entfernt vor, als ob er bereits vor einer halben Ewigkeit im Angesicht des Todes gestanden hätte.

Die Küste, die andere Seite der Insel, der geheime Hafen. Mit einem Mal fiel es Thomas wie Schuppen vor die Augen. Die Erinnerungen wurden deutlicher und er kannte nun sein Ziel. Er fühlte sich schwach und ausgelaugt, doch er wollte noch ein letztes Mal kämpfen.

Der junge Schotte robbte sich zur Wand, drückte sich langsam an ihr hoch, hielt minutenlang inne, als ihn ein Schwindelgefühl befiel, atmete durch, versuchte seinen Puls zu kontrollieren, doch sein Blutverlust hatte ihn bereits sehr geschwächt.

Mit letzter Kraft stemmte er sich in die Höhe, stieß sich sanft von der Wand ab und konnte sich mehr schlecht, als recht auf den Beinen halten, doch es gelang ihm. Dieser kleine Erfolg gab ihm neuen Antrieb und er trottete wie ein angeschlagener Boxer vorwärts durch den dunklen Zimmerflur, während ein blendendes Wetterleuchten durch die Fenster ins totenstille Schloss drang.

Von draußen ertönte ein erbarmungsloses Grollen, ein krachender Blitz blendete Thomas nun und schien die ganze Insel taghell zu erleuchten. Die überlauten Geräusche und die Rebellion der Natur weckten Thomas mehr und mehr auf, als er endlich das Treppengeländer erreichte und in die verlassene Eingangshalle blickte, durch die er in den letzten Tagen sooft schon gegangen war. Dieses Mal tat es der engagierte Polizist mit besonders großen Schwierigkeiten. Er stand zwar wieder einigermaßen sicher auf den Beinen, doch der pochende Sdchmerz in seiner Schulter machte sich nun doch ein wenig bemerkbar. Doch er biss die Zähne zusammen und versuchte sich auf die wesentlicheren Dinge zu konzentrieren. Gott hatte ihn auf wundersame Art und Weise am Leben erhalten, denn die Mission des Schotten auf Erden war noch nicht vollbracht. Thomas kannte nur ein einziges Ziel. Die Zeit lief gegen ihn, er hatte nur den kleinen Bonus des Überraschungseffektes, um sich und die beiden anderen Überlebenden vielleicht noch zu retten. Dies war nun die Stunde, in der Helden oder Verlierer geboren wurden.

Thomas bemerkte das offenstehende Portal in der Eingangshalle, nasses Laub hatte sich bereits im Eingangsbereich verteilt und es war erneut eiskalt geworden.

Schritt für Schritt arbeitete Thomas sich vor, Stufe um Stufe kam er dem Ausgang näher, bekam eine Gänsehaut und fuhr herum, als der Wind mit seiner Kleidung spielte. Er sah die umgestürzte Ritterrüstung, den gierigen, unheimlichen Blick der Schlange am Springbrunnen, die grimmigen Mienen der Menschen auf den vielen Familienporträts. Thomas fühlte sich feindselig beobachtet, bedrängt, doch seine aussichtslose Lage trieb ihn weiter an.

Der Schotte hatte mittlerweile wieder einen sichereren Gang und schritt langsam zur gewaltigen, meterhohen Wand, an der immer noch einige Dolche und Schwerter hingen. Thomas nahm einfach mit seinem unversehrten Arm die erstbeste Waffe, die er hier finden konnte, beäugte sie andachtsvoll und bekreuzigte sich stöhnend.

Er hatte einen persischen Krummdolch gewählt, der in einer fein verzierten Scheide aus Schafsleder steckte. Der Schotte umklammerte die Waffe wie einen rettenden Strohhalm, bevor er sich umwandte und geduckt dem peitschenden Wind und Regen entgegentrat.

Thomas war kaum nach draußen getreten, da war er schon bis zur Haut durchnässt. Das helle Wetterleuchten über dem Meer blendete ihn, als er in den verwüsteten und überschwemmten Vorgarten trat. Thomas hob den Blick und sah irgendwo dort, wo sich das Festland befinden musste, einen matten, orangefarbene Schein am Horizont, wo das stürmische Tief endlich vertrieben wurde. Es konnte sich nur noch um Stunden handeln, bis der Wind die letzten düsteren Wolken auch über der Todesinsel vertrieben haben würde. War dieses Naturphänomen ein Wink des Schicksal, das Prinzip Hoffnung?

Thomas wollte daran glauben, wollte ein göttliches Zeichen darin sehen, doch sein Glauben an das Gute hatte in den letzten Tagen stark gelitten. Dann dachte er wiederum an die Bibel, die ihm das Leben gerettet hatte. Möglicherweise war der entgültige Wendepunkt erreicht und das Glück war ihm in dieser schwersten Stunde wieder Hold.

Der Schotte kämpfte sich durch Matsch und Schlamm, zitterte vor Kälte und hetzte mit eng angelegtem und bewegungslosem Arm an den Familiengräbern vorbei, deren Grabsteine kaum noch aus den hohen Schlammpfützen herausragten. Sie wirkten wie mahnende Zeigefinger und Thomas fröstelte bei dem Gedanken an die Toten, die hier begraben lagen und die vielen neuen Toten, die es hier gegeben hatte.

Mit entschlossenerem Schritt näherte er sich dem Dickicht, nahm den äußersten Pfad, der eng an der steilen Küste entlang führte. Salzige Sprüh schlug in sein Gesicht, brannte in seinen Augen, doch er kämpfte sich weiter voran, ging vorsichtig über glattes und überschwemmtes Gestein, bis er endlich einen anderen Pfad fand, der wieder mehr ins Zentrum der Insel führte und mit vielen Moosen und Farnen bedeckt und somit leichter begehbar war.

Thomas musste an den unheimlichen Wolf denken, der durch diese Wälder gestreift war. Obwohl die unheimliche Bestie vernichtet worden war, verspürte er ein mulmiges Gefühl, als er halbblind durch das wilde Dickicht taumelte. Morsche Äste, spitze Dornenranken, aufgewirbeltes Laub streiften sein Gesicht, während er sich in der allumfassenden Dunkelheit mehr instinktiv vorantastete.

Der schmale Pfad wurde immer enger, Pfützen tauchten vermehrt auf dem Boden auf, der Untergrund wurde immer schwerer begehbar und Thomas rutschte mehr als ein Mal weg und drohte das Gleichgewicht zu verlieren, obwohl er dank des rauen Wetters und der frischen Luft wieder völlig klar bei der Sache war und seinen Schock zunächst wieder verdrängt zu haben schien.

Irgendwann weitete der Pfad sich wieder aus, die Büsche und verkrüppelten Bäume standen weniger dicht und Thomas hörte wieder verstärkt die wilden Wogen, die in einem ewigen Kampf der Gezeiten gegen die Steilküste schwappten.

Thomas folgte dem Geräusch, ging jetzt geduckt und befand sich mit einem Mal auf einem lichten Pfad wieder, der direkt zur Küste des hinteren Inselbereiches führte.

Der Schotte blickte noch einmal zurück, sah die dunklen Äste der Bäume, die wie grausige Klauen nach ihm zu greifen schienen und in die Finsternis zurückziehen wollten. Die wilden Büsche und Lianen wirkten von hieraus noch mehr wie die Vorboten eines undurchdringlichen Labyrinths, aus dem es kein Entkommen zu geben schien, doch er hatte den Weg fast zufällig und relativ schnell geschafft. Die Hoffnungen des religiösen Polizisten hatten sich vorerst bestätigt, doch er wollte sich auf diesem Glück nicht länger ausruhen. Der Gedanke an seine wunderschöne Geliebte machte ihn beinahe wahnsinnig. Er wollte nicht wieder das verlieren, was er wirklich liebte und ihn wahrlich glückselig machte. Der Schotte war bereit zum Kampf um seine Zukunft und sein Seelenheil. Doch er mahnte sich gleichzeitig zur Vorsicht und wollte auf keinen Fall kurz vor dem Ziel unbesonnen agieren und seine Position Preis geben.

Thomas ging kein Risiko mehr ein, presste sich flach in den matschigen Boden und robbte sich langsam vorwärts. Er ignorierte den dreckigen Schlamm, der seine Augenbrauen verkrustete, in seine Nase drang, seine Arme bedeckte. Er beachtete das nasse Salzwasser nicht, dass sogar schon seine Unterwäsche völlig aufgeweicht hatte. Er wollte die Entscheidung und sah das überraschte Gesicht der irren Kanadierin gedanklich schon vor sich, wie sie wie eine Furie auf seine brasilianische Partnerin einschlug, sie quälte, sie folterte, sie in dem stürmischen Meer ertränkte, immer und immer wieder.

Der bestialische Gedanke an dieses Horrorszenario trieb den Schotte weiter an, er robbte sich durch das hohe Schilfgras, erreichte bereits die ersten Ausläufer der Steilküste, die zu seiner rechten Seite noch steil anstiegen. Thomas ignorierte die höllischen Schmerzen in seiner Schulter und seine Erschöpfung, denn er wusste, dass es jetzt auf diesen letzten Kraftakt ankam und er noch ein letztes Mal absolut alles geben musste. Dieses Mal ging es definitiv für ihn und seinen neuen Lebensgrund, die Brasilianerin Elaine mit der er in eine gemeinsame Zukunft blicken wollte, um Leben und Tod.

In diesem Moment brach fast schon schicksalhaft die undurchdringbar erscheinende Wolkendecke über der Insel auf und ein äußerst blasser Vollmond tauchte die Küste in ein diffuses, magiegeladenes Licht, während am Horizont rosafarbene Streifen den Sonnenaufgang ankündigten. Tag und Nacht waren zu einer fabelhaften Symbiose verschmolzen. Würde die Vorherrschaft der Dunkelheit nun durchbrochen werden?

Thomas stockte der Atem, als er seinen Blick auf die höchste Klippe der Insel richtete. Dort standen zwei Gestalten sich wie bei einem Ringkampf gegenüber, eine davon hatte eine wehende Mähne und stürzte sich mit einem Schrei auf die andere Person, die ebenfalls langes Haar trug und plötzlich nahe an den Abgrund gedrängt wurde. Etwa sechzig Meter unterhalb der Anhöhe befanden sich erst die spitzen Felsnadeln und dunklen Korallenriffs im flachen Wasser des natürlichen Inselhafens.

Der nervöse und verwunderte Schotte hörte die heiseren Stimmen der beiden Frauen, die immer noch miteinander sprachen. Thomas betete zu Gott, dass Elaine Maria da Silva die siegessichere Kanadierin noch wenigstens eine Minute lang hinhalten konnte, damit er unerkannt eingreifen konnte, doch er zweifelte daran, denn auch seine Partnerin musste glauben, dass er schon längst unter den Toten weilte. Hatte sie sich deswegen möglicherweise gar schon selbst aufgegeben?

Mühsam kroch Thomas weiter voran durch das dicke Schilf, wurde nervös, richtete sich auf und hechtete geduckt an rauen Farnen, feurigen Brennnesseln und alten Moosen vorbei, in der Hoffnung, möglichst lange unentdeckt zu bleiben. Seine Schulter pochte und den dumpfen Puls spürte er nunmehr schon im ganzen Oberkörper und sogar schon in seinem Kopf. Wie ein Tier arbeitete sich Thomas unter Schmerzen weiter voran.

Die letzte Anhöhe kam ihm fast unendlich lang vor und er quälte sich Meter um Meter vorwärts, als ihn plötzlich mitten im geduckten Lauf jemand von der Seit anfiel.

Der Schrei der Überraschung ging zu seinem Glück im finsteren Grollen der Natur unter, als Thomas zur Seite fiel und entsetzt auf die Person starrte, die ihn völlig unerwartet attackiert hatte.

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