by Sebastian Kluth
Kapitel 62: Freitag, 13 Uhr 54, Eingangshalle
Das Nächste, was der schottische Polizist bewusst wahrnahm, war ein kalter Windzug, der über sein nasses Gesicht streifte und einige aufgeregte Stimmen. Ein dumpfes Gefühl bereitete sich im Schädel des Schotten aus und er vernahm zwar die Worte, verstand aber ihren Sinn nicht. Jede Konzentration verursachte ihm Schmerzen und somit er schloss wieder schmerzlindernd seine Augen.
Nach einigen Minuten der Regeneration öffnete er sie erneut und dieses Mal hatte er nur noch ein leichtes Schwindelgefühl. Er lag auf dem Rücken und blinzelte verwirrt. Nach einigen Augenblicken des nun einigermaßen schmerzfreien Nachdenkens realisierte er, dass er sich in der Eingangshalle befand, wo das mächtige Portal offen stand, was erklärte, warum er einen unangenehmen Luftzug abbekam und ihm so kalt war.
Ächzend drückte sich der junge Schotte auf die Knie und schloss für einen Moment die Augen, als ihm doch wieder schwindlig wurde. Er ertastete eine große Beule an seinem Hinterkopf, die bei jeder Berührung schmerzte. Er tastete sein Gesicht ab, stellte aber fest, dass er nirgendwo blutete und doch einigermaßen unverletzt geblieben war. Er hatte einfach Glück im Unglück gehabt.
Langsam gewöhnten sich auch seine Ohren an die ihn umgebende Geräuschkulisse und er erkannte die schemenhaften Gestalten deutlicher. Gerade huschte Lykström von draußen in die Halle, seine Klamotten waren mit Schlamm überdeckt, seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht und Regenwasser lief ihm, mit Schweiß vermischt, über das Gesicht.
„Er ist uns entwischt. Er ist irgendwo in diesem undurchdringlichen Dickicht!“, rief der Schwede und sank resigniert zu Boden.
„Lange kann er da nicht bleiben, allein das Essen wird ihm dort knapp werden. Wir sollten uns im Schloss verbarrikadieren und das Außengelände von innen überwachen, so sind wir sicher.“, gab Mamadou zurück.
„Ich finde, dass wir uns in Kleingruppen unterteilen sollten, um ihn zu suchen und ihm den Garaus zu machen. Wir alle werden uns doch nicht vor einer einzigen Person verkriechen“, begehrte Fatmir Skola neben ihm auf.
„Er hat recht. Außerdem wird er vielleicht doch etwas zu essen haben und auf unsere nächsten Fehler lauern, denn immerhin hat sich der Wolf ja auch bislang irgendwie ernährt. Vielleicht hat er ihn sogar gezüchtet oder hält ihn in einem Käfig und hat sich eine Schlafstätte mit Proviant eingerichtet.“, mutmaßte Abdullah Gadua und stimmte somit dem Vorschlag des Albaners zu.
„Irgendwann müssen wir aus dem Schloss heraus, er wird uns beobachten und wieder einen Angriff wagen, er kennt sich auf der Insel mittlerweile perfekt aus. Wenn wir abwarten, ist das nur eine trügerische Sicherheit.“, bekräftigte Fatmir seine eigene Idee.
„Nun gut, vielleicht habt ihr ja tatsächlich recht. Wir sollten alle Gäste zusammentrommeln und uns in Kleingruppen aufteilen. Sie sollten aber nur aus Männern bestehen, die Frauen bleiben im Schloss.“, bestimmte der Ghanaer und Fatmir, sowie Abdullah entfernten sich wieder nach draußen, um den Rest der Gruppe herbeizurufen.
„Wir sollten wirklich alle auf der Hut sein und am besten zu dritt losgehen, der Irre hat immerhin eine Motorsäge!“, bemerkte Lykström, der am Ende seiner Kräfte war und sich mühsam vom eiskalten Boden aufrappelte.
Auch Thomas hatte sich nun soweit gefangen und drückte sich an der kalten Wand langsam hoch. Das Schwindelgefühl war noch latent vorhanden, ließ aber spürbar nach. Mamadou hatte die Bewegungen seines Kollegen bemerkt und erkundigte sich nach dessen Wohlergehen.
Thomas gab Entwarnung und trat mühsam näher. Gleichzeitig kehrten Fatmir und auch Abdullah wieder zurück und wurden von den restlichen, männlichen Gästen begleitet, die noch draußen nach dem Flüchtigen gesucht hatten. Die Frauen befanden sich bereits mehr im Hintergrund der Eingangshalle und hörten mit gemischten gefühlen den Ausführungen der männlichen Fraktion zu.
Schnell wurde das weitere Vorgehen erläutert und Kleingruppen gebildet. Auch Thomas bestand, trotz der Proteste seines besorgten Kollegen, darauf eine der Gruppen zu begleiten. Sie wollten das Dickicht jeweils vom Osten und vom Westen her durchkämmen und gegebenenfalls bis auf die andere, bisher vollkommen unbekannte Seite der Insel vordringen, die ein wenig höher gelegen war. Unwillkürlich musste der junge Schotte auch an den unheimlichen Wolf denken, der irgendwo dort zu hausen schien.
Es wurden zwei Gruppen gebildet. Die erste bestand aus Thomas, Björn Ansgar Lykström und Fatmir Skola, der sich von seiner Verletzung ebenfalls nicht aufhalten lassen wollte und sich mehr und mehr zu einer Kämpfernatur zu entwickeln schien. Die zweite Gruppe formierten dementsprechend Mamadou, Gwang-jo und Abdullah. Die Frauen blieben gemeinsam mit dem mürrischen Schlossherrn zurück, was vor allem Magdalena Osario nicht sonderlich zu behagen schien, da sie immer wieder ängstliche Blicke zu ihrem gefürchteten Mann warf und ihren Geliebten vergeblich darum bat mit ihm losziehen zu dürfen.
Etwa zehn Minuten später machten sich die beiden Gruppen mit gemischten Gefühlen auf den Weg. Auf der einen Seite stand ihre Neugier und wilde Entschlossenheit, auf der anderen Seite aber auch das Wissen, dass in dem undurchdringlichen Dickicht zwei unheilvolle Gefahren lauern konnten, von denen sie jederzeit fast unbemerkt attackiert werden konnten. Der Umstand, dass sie in Gruppen losgingen, gab den meisten ein wenig Sicherheit und vor allem auch Schutz vor dem quälenden Gedanken möglicherweise nicht mehr lebend in das Schloss zurückzukehren.
Beide Gruppen hatten sich mit jeweils einer Taschenlampe aus dem Gartenhaus ausgestattet, sowie mit je einer Flasche Wasser. Sie versprachen, dass sie in spätestens zwei Stunden wieder zurückkehren wollten und verabschiedeten sich von den weiblichen Gästen mit mutigen Phrasen ohne Sentimentalitäten, um für Beruhigung zu sorgen. Innerlich sah es in den meisten jedoch komplett anders aus und die Zuversicht war nur gespielt.
Der Regen hatte sogar ein wenig nachgelassen und um diesen Umstand auszunutzen, machten sie sich rasch auf den Weg. Auf dem Vorplatz des düsteren, gotischen Schlosses trennten sich die beiden Gruppen und Thomas klopfte Mamadou aufmunternd auf die Schulter, zumal er auch zeigen wollte, dass er trotzs einer kurzen Bewusstlosigkeit wieder ganz der Alte war. Dann wandte er sich mit seinen beiden Begleitern der westlichen Seite der kleinen Insel zu und fand bald schon einen der schmalen Pfade, die hinein in das Dickicht führten, wo die Vegetation ihnen ein wenig Schutz vor dem Regen spendete, obwohl hier fast eine drückende Schwüle herrschte und Dampfwolken wie ein höllisches Odem vom Boden aufstiegen.
Thomas warf einen letzten Blick zurück zu dem unheilvollen Schloss, bevor der Pfad eine Krümmung machte und er den Abschluss der kleinen Gruppe bildete. Er sandte ein Stoßgebet gen Himmel und hoffte in diesen Momenten tatsächlich dieses eigentlich so verhasste, unheilschwangere Gebäude doch bald wiederzusehen.
Die erbarmungslose Treibjagd auf den Butler hingegen konnte beginnen!