by Sebastian Kluth
Kapitel 64: Freitag, 14 Uhr 55, Dickicht
Thomas tat dies nicht etwa wegen seiner Furchtlosigkeit oder seines unbändigen Mutes, sondern einfach deswegen, weil er mit großer Erleichterung erkannt hatte, dass es sich bei seinem Gegner um gar keine Bedrohung handelte.
Ein zentnerschwerer Stein fiel ihm vom Herzen, als er realisierte, dass Mamadou, sein ghanaischer Kollege vor ihm stand, der seine Waffe sofort sinken ließ, während hinter ihm seine beiden Begleiter aus ihrer Deckung kamen.
Lachend und herzlich umarmten sich die beiden ungleichen Polizisten, die das Schicksal zusammengeschweißt hatte. In dieser Aktion lag ein enormes Gefühl der Erleichterung. Dennoch gewann Mamadou bald seine alte Distanz und Ruhe zurück und deutete an, dass er im Dickicht das nahe Heulen eines Wolfes gehört hätte.
Doch auch die nächste Überraschung war nicht weit. Björn Ansgar Lykström hatte sich zwischenzeitlich von der Gruppe entfernt und einen Blick auf die schroffen Felsformationen der Küstenregionen geworfen. Mit Argusaugen nahm er jedes Detail auf und erkannte nach einigen Minuten der Beobachtung plötzlich etwas, das ihn an seinem Verstand zweifeln ließ. Er blinzelte, doch das Bild blieb das Gleiche und so wandte er sich gleichermaßen verwirrt, wie euphorisch zu den anderen fünf Begleitern um, die noch über die Gefährlichkeit des ominösen Wolfes diskutierten.
„Leute, kommt her und seht euch das an, was ich gerade entdeckt habe!“, rief der eifrige Schwede und wies wie ein alter Seemann großtuerisch auf eine schwer erkennbare Stelle zwischen zwei schroffen Felsen.
Seine Begleiter waren erst verwundert, erkannten auf den zweiten Blick aber dasselbe wie Lykström und Fatmir Skola war es, der seinem Erstaunen Luft machen musste.
„Das ist ja ein Ding! Ein geheimer Hafen und zudem noch ein Fischkutter, der darin vor Anker liegt. Wo könnte der bloß herkommen?“, fragte der Albaner laut.
„Magdalena hat mir zugesichert, dass sich außer der Yacht kein Schiff auf der Insel befindet. Sie spricht wohl nicht nur für sich, sondern auch für ihrem verdammten Ehemann.“, erklärte Lykström zähneknirschend.
„Wir haben es also mit einem fremden Eindringling zu tun!“, stellte Abdullah Gadua voller Erstaunen fest.
„Da muss jemand richtig gut manövrieren können, da der Kutter nicht beschädigt ist. Dabei gibt es hier so viele Felsen und Korallenriffs unter Wasser. Das ist eine beachtliche Leistung!“, beurteilte Thomas das Ganze anerkennend.
„Seht, dort hinten an der Felsnase ist auch eine zusammengerollte Strickleiter. Mit ihr kann man sicher hinunter in diese kleine Bucht, wo der Kutter liegt!“, bemerkte Björn Ansgar Lykström voller Elan und machte sich sogleich auf den Weg zu dem neuen Fundstück.
Auch Thomas und die anderen Männer folgten ihm, waren aber ein wenig vorsichtiger und weniger schwungvoll. Immerhin war ihre Suche, die eher einer puren Verzweiflungstat entsprungen war, tatsächlich erfolgreich gewesen, auch wenn sie sich eher erhofft hatten irgendwo auf den geflüchteten Butler zu treffen, der bislang aber geschickt verborgen geblieben war.
Die wetterfeste Strickleiter führte gut fünfzehn Meter halbschräg in die Tiefe, bevor man auf einen größeren Felsvorsprung klettern konnte, von dem aus man über eine Felsscharte langsam die restlichen Meter bis zum Ausläufer des groben Strandes überbrücken konnte.
Lykström war als Erster vorausgegangen und lief nun rasch auf den seltsamen Kutter vor, rutschte dabei aber auf den glitschigen Felsen aus und stürzte rücklings zu Boden. Fluchend rappelte er sich auf, hielt sich den schmerzenden Rücken und überwand die letzten Hindernisse mit größerer Vorsicht.
Thomas hatte plötzlich ein drückendes Gefühl in der Magengegend, denn solch ein Szenario war ihm erst vor kurzer Zeit einmal begegnet.
„Seien Sie vorsichtig. Möglicherweise ist auch dieser Kutter irgendwie präpariert worden. Sie wissen ja, was mit der Yacht passiert ist.“, rief Thomas dem eifrigen Schweden zu.
„Dummes Gerede! Dieser Killer muss doch selbst irgendwie wieder von dieser verdammten Insel herunterkommen. Er wird sich seinen letzten Ausweg zur Zivilisation nicht einfach wegsprengen.“, konterte Gwang-jo, der mal wieder einen Glimmstängel in seinem Mundwinkel hatte, mürrisch und arrogant.
Thomas musste einsehen, dass der Koreaner, der sich an den anderen Männern unwirsch vorbeigedrängt hatte, theoretisch recht hatte. Dennoch war er nicht beruhigt. Wer konnte schon wissen, was im Kopf eines psychisch gestörten Killers vorgehen könnte? Wer wusste überhaupt, ob der Mörder nicht noch andere Trümpfe versteckt hielt oder über einen Komplizen verfügte? Könnte es nicht auch sein, dass der Täter nach dem Abschluss seiner grausigen Taten sich selbst ebenfalls ins Reich der Toten befördern würde?
All diese ungeklärten Fragen ließen den jungen, schottischen Polizist zögern. Auch Lykström schien den Argumentationen des Koreaners nicht ganz zu trauen und war nachdenklich stehen geblieben. So waren es Gwang-jo und Fatmir, die sich auf den Kutter zu bewegten und die Initiative ergriffen.
Thomas wollte nicht direkt blind auf den Kutter laufen und diesen untersuchen, sondern bewegte sich erst behutsam um ihn herum. Das Schiff war schon ein wenig alt und verrostet, der Anker lag schwer und grau im schlammigen Sand. Die Farbe blätterte bereist von den Bordwänden ab. Thomas vermochte kaum den Namen zu entziffern, der in schwarzen Lettern aufgetragen worden war. Schließlich gelang es ihm immerhin einige Buchstaben mehr zu erraten, als zu erkennen. Die verbliebene Farbe wirkte zwar ungewöhnlich frisch im Gegensatz zum Rest des alten Kutters, doch das Meerwasser schien die nicht richtig getrocknete Farbe schon größtenteils weggespült zu haben. Überhaupt war der ganze Kutter sehr heruntergekommen und stank erbärmlich. Thomas schloss daraus, dass der Täter entweder kein sehr ordnungsliebender Mensch war, was seinem organisierten Vorgehen bezüglich der Morde jedoch krass widersprach, oder dass der Mörder den Kutter irgendwo am schottischen Festland zum Spottpreis erworben hatte.
Nachdenklich blickte Thomas erneut auf die Buchstabenfolge, die für ihn noch keinen rechten Sinn zu ergeben schien:
_ L_ _ _ _ E _ Y S
Es schien sich hierbei um drei Worte zu handeln, doch Thomas wollte einfach nicht auf die Lösung des Rätsels kommen.
Plötzlich hörte der Schotte ein grässliches Quietschen und Krachen an Bord des Schiffes und fuhr erschrocken zusammen. Rasch wandte er sich um und zog sich mit einem kurzen Sprung an der flachen Reling hoch. Mühsam kam er auf den alten Holzplanken auf und sah nun auch die Ursache für das eigentümliche Geräusch.
Vor ihm lag Gwang-jo, der unter einer rostigen Tür begraben lag und sich mühsam wieder von seiner Last befreite. Als Thomas ihm zur Hilfe kommen wollte, winkte der Koreaner barsch ab und verschaffte sich mit einem kraftvollen Tritt gegen die Tür wieder mehr Platz und konnte sich schließlich sogar ganz von seiner unangenehmen Last befreien.
In diesem Moment trat Fatmir, der noch leicht von seiner letzten Verletzung humpelte, aus den inneren Räumen des Schiffes und machte eine sehr ernste Miene.
„Schaut euch an, was ich hier gefunden habe.“, teilte er mit und wandte sich dann grimmig wieder um.
Gwang-jo marschierte stramm hinter dem Albaner hinterher und wollte sich kein Zeichen der Schwäche oder Verletzung anmerken lassen. Dennoch merkte Thomas, dass Gwang-jo leicht hinkte und der Unfall wohl doch nicht ganz ohne Folgen abgelaufen war.
Der junge Schotte folgte den beiden in den ersten Raum, der praktisch nur aus zwei engen Schränken bestand, in denen einige Regenjacken, Mäntel und Planen herumlagen, sowie ein wenig Verbandszeug und ein hoffnungslos veralteter Feuerlöscher.
Dahinter führte eine Holztreppe nach unten, wo es sehr muffig roch und relativ dunkel war. Die brüchige Schiffswand ließ immerhin noch einige schwache Sonnenstrahlen ins Innere des Kutters. Thomas erkannte einen verwinkelten Maschinenraum, in dem ein Generator monoton und nervtötend brummte. Viel interessanter war jedoch, was sich im restlichen Teil des Rumpfes befand.
Thomas blickte sich erstaunt um und konnte seinen Augen kaum trauen. Vor ihm stand ein großer Eisenkäfig, in dem Unmengen von Kot und Urin einen ekelhaften Gestank verbreiteten. Thomas schloss aus diesem Fund, dass dieser Käfig wohl nur eine Art Unterschlupf für den dressierten Wolf darstellen konnte. Neben dem arg verbogenen und kahlen Käfig standen zwei Bottiche mit brackigem Wasser gefüllt, sowie ein Plastiksack, aus dem es bestialisch nach totem Fleisch stank. Einige Ketten und Leinen lagen wild verteilt am Boden.
Thomas wurde beinahe übel bei dem bestialischen Geruch und sein Magen schien sich revoltieren zu wollen. Der junge Schotte verdrängte diese Nebensächlichkeiten jedoch, denn er wusste nun, dass er auf den geheimen Unterschlupf des wahnsinnigen Täters gestoßen war und hier möglicherweise wichtige Hinweise finden konnte.
Gemeinsam mit Mamadou, der sich die Nase zuhaltend an seine Seite getreten war, bewegten sie sich auf eine simple Holzplatte zu, auf der mehrer Papiere ausgerollt worden waren. Thomas erkannte auf dem größten dieser Dokumente deutlich die Grundrisse des Schlosses. Diverse Räume und Flure waren hier handschriftlich eingezeichnet und mit kaum identifizierbaren Kommentaren beschriftet worden. Thomas stellte lediglich fest, dass die Ausführung auf Englisch notiert waren, was allerdings nichts heißen musste, da alle anwesenden Gäste schließlich auf einer englischen Privatschule gewesen waren oder dort unterrichteten. Des Weiteren lag neben diesem Dokument ein veraltetes Pergament, auf dem die Umrisse der Insel genauestens markiert worden waren. Sogar die Höhen der einzelnen Klippen und Tiefen der Korallenbänke, Buchten und Felsformationen waren akribisch genau notiert worden. Dennoch befand sich auf diesem älteren Dokument nicht dieselbe Handschrift, wie auf dem anderen Papier. Thomas entdeckte in der linken, unteren Ecke den Namen einer Bibliothek und die Insignien zweier Zeichner.
„Wenn wir wenigstens eine telefonische Verbindung hätten, dann könnten wir sofort herausfinden, wer dieses Dokument wann und wo am Festland ausgeliehen hat. Der Name der Bibliothek ist mir jedenfalls ein Begriff. Sie befindet sich höchstens zwanzig Meilen vom Festland entfernt in einem Dorf namens Callockbourn.“, bemerkte Björn Ansgar Lykström grimmig und schlug wütend mit der Faust auf die Holzplatte.
„Vielleicht sagt uns die Schrift auf dem anderen Dokument ja etwas.“, mutmaßte Mamadou.
„Mir sagt sie leider nichts. Ich schlage allerdings vor, dass wir, sobald wir zurück im Schloss sind, von jedem einzelnen Gast Schriftproben nehmen lassen werden.“, schlug Thomas energisch vor und erntete ein zustimmenden Nicken seines Kollegen.
„Schaut euch das hier mal an!“, rief Abdullah von der anderen Seite des Raumes.
Thomas wandte sich von der Holzplatte ab und inspizierte den düsteren, alten Schrank, den Abdullah Gadua soeben geöffnet hatte. Darin standen im ersten Regal mehrere Becher mit Flüssigkeiten, die fein säuberlich beschriftet waren. Thomas verstand nicht sonderlich viel von Chemie, musste aber kein Prophet sein, um zu deuten, dass es sich hierbei um gefährliche Giftstoffe handelte, denen möglicherweise die ersten beiden Toten zum Opfer gefallen waren. Thomas musste mit Erschrecken feststellen, dass das Regal erschreckend leer wirkte, selbst dort, wo Beschriftungen bereist angebracht waren. Hatte der Täter vorgesorgt und einige der Stoffe möglicherweise schon unerkannt ins Schloss gebracht?
Mit einem Frösteln wandte Thomas den Blick ab und sah sich das zweite Regal von oben genau an. Dort lagen einige Spritzen, Handtücher und Handschuhe. Der restliche Teil des Schrankes war etwas geräumiger und beherbergte im unteren Bereich ein paar Gummistiefel, sowie auch ein großkalibriges Gewehr, einen Revolver und eine Harpune, die den gesamten restlichen Platz einnahmen. Thomas schauderte erneut, als er daran denken musste, wie viele grausame Tötungsmethoden sich der Serienkiller ausgedacht haben musste.
Die Überraschungen rissen jedoch nicht ab. Dieses Mal war es Björn Ansgar Lykström, der einen weiteren Fund gemacht hatte. Neben einem Haufen alten Gerümpels hatte er eine Art Fotoalbum gefunden, welches er behutsam aufgeklappt hatte.
Thomas konnte seinen Augen kaum trauen, als er sah, wen diese Fotografien offenkundig zeigten. Von dem vergilbten und zerknitterten Papier blickte ihm ein Gesicht entgegen, welches er und alle anderen Anwesenden ebenfalls verdammt gut kannten. Es war sein eigenes Antlitz!