by Sebastian Kluth
Kapitel 76: Freitag, 21Uhr 19 Thomas Zimmer
Entsetzt stürmte Thomas in sein Zimmer und riss auch die Tür zu seinem Badezimmer auf, welches ebenfalls leer vor ihm lag. Thomas stolperte hektisch zurück in sein Zimmer und inspizierte das Fenster, was jedoch verschlossen war und dem Butler wohl kaum als Fluchtweg gedient haben könnte. Der schottische Polizist begegnete dem Blick Abdullahs, der völlig bleich und ratlos in der Tür stand und fast apathisch den Kopf schüttelte.
Thomas drängten sich eine Menge unangenehmer Fragen auf, die wie ein Hornissenschwarm durch seinen Kopf schwirrten. Warum war der Butler geflohen? Wo wollte er hin? Wollte er sich selbst oder einem der anderen Anwesenden irgendetwas antun? Hatte er die Heftigkeit seiner Verletzung möglicherweise nur vorgetäuscht? Hatte der cholerische Koreaner mit seinen hanebüchenen Anschuldigungen letztlich doch recht gehabt?
Für Thomas wurde die Situation immer verworrener und er wandte sich hektisch seinem Begleiter zu.
„Abdullah, geh nach unten und sage Mamadou Bescheid. Er soll ein paar Gäste hier hoch schicken. Wir müssen das Schloss durchsuchen und den Butler wiederfinden!“, befahl Thomas seinem Gegenüber, der aus seiner Lethargie erwachte und sich eilig in Bewegung setzte.
Thomas atmete tief durch und überlegte angestrengt, wo er selbst seine Suche beginnen sollte. Er entschied sich schließlich dafür, erst das Turmzimmer zu untersuchen. Möglicherweise war der undurchschaubare Butler zuerst dorthin zurückgekehrt, um mit dem gefesselten Fatmir abzurechnen. Als Thomas daran dachte, dass er es gewesen war, der den Albaner nun in diese möglicherweise lebensbedrohliche Situation gebracht hatte, wurde ihm ganz anders. Sein Gewissen meldete sich zu Wort und trieb ihn zu höchster Eile an.
Gehetzt stürzte der junge Polizist auf den dunklen Gang. Aus den Augenwinkeln heraus sah er die düsteren Porträts, die an den Wänden hingen und ihn kritisch zu beäugen schienen. In der Dunkelheit schienen die streng gekleideten Personen zu einem abstrakten Leben erwacht zu sein. Thomas fühlte ein kaltes Schaudern und spürte doch im selben Moment, wie der Schweiß auf seiner Stirn perlte und ihn in eine fiebrige Erregung versetzte.
Thomas passierte die breite Treppe zum Eingangsbereich, wo er sah, wie Abdullah hektisch gestikulierend auf Mamadou einsprach, der gerade ungläubig zu Thomas hinaufblickte. Dieser wollte jedoch keine Zeit verlieren und gelangte nach einigen Momenten zu der steilen Wendeltreppe. Er nahm mehrere Stufen auf einmal und sprang behände nach oben. Die Treppe knirschte bedrohlich, Staub wurde aufgewirbelt und beeinträchtigte das Sichtfeld des Polizisten.
Mit letzter Kraft stürzte Thomas durch die solide Holztür und stolperte in den Raum. Schwer atmend blickte er sich um und begegnete dem eisigen Blick Fatmirs, der aus seiner Bewusstlosigkeit bereits wieder erwacht war. Wenn Blickle töten könnten, dann wäre Thomas jetzt wohl tot umgefallen. Der Albaner sprach jedoch kein Wort, klagte sein Gegenüber nur mit seinen frostigen Blicken an und gerade diese brutale Stille traf Thomas noch stärker.
Verwirrt blickte Thomas sich im Raum um und sah diesen unverändert. Mit pochendem Herz wollte er sich bereits abwenden und zurück in den unteren Bereich des Schlosses gelangen, als er innehielt und nachdachte. Konnte er es verantworten Fatmir weiterhin gefesselt und unbeaufsichtigt in diesem Raum zu lassen? Würde der Butler Jagd auf den Albaner oder auch den Koreaner machen, die ihm so viel Leid zugefügt hatten? Könnte der immer noch anonyme Mörder auch hier zu schlagen und in Fatmir ein weiteres hilfloses Opfer finden?
Thomas atmete tief durch und wandte sich schweren Herzens dem Albaner zu, zückte das Schweizer Messer und wurde von seinem Gegenüber mit einem aggressiven Spucken empfangen. Grimmig wischte sich Thomas den Speichel aus dem Gesicht, doch sein Solidaritätsgefühl siegte über seinen Stolz und er machte sich energisch an den Fesseln des Albaners zu schaffen. Dieser blickte ihn düster von der Seite an und versuchte Thomas plötzlich sogar eine Kopfnuss zu geben, doch der schottische Polizist drehte seinen Kopf rechtzeitig zur Seite und setzte seine Arbeit unaufhaltsam fort.
Plötzlich hörte er hinter sich ein Knarren und das Klappern der Tür und erstarrte. Mit einem Mal war es völlig still im Turmzimmer, selbst Fatmir blickte den neuen Ankömmling mit geweiteten Augen an.
Wie in Zeitlupe drehte sich Thomas um die eigene Achse und blickte in das harte Gesicht von Björn Ansgar Lykström, der leise und bedrohlich näher schritt. Sein Gesicht war kalt und wirkte seltsam schmal oder abgemagert im diffusen Licht, er schien verständlicherweise noch unter dem Schock des Todes seiner Geliebten zu stehen.
„Was machst du mit ihm?“, fragte er schließlich kalt und trostlos, nachdem er langsam durch das Turmzimmer geschritten war und an dem verdreckten Fenster stehen geblieben war.
„Wir können ihn nicht hier allein lassen. Der Mörder oder der Butler könnten ihn umbringen wollen und er wäre völlig hilflos.“, bemerkte Thomas und sah, wie der Schwede diesen Kommentar mit einem anerkennenden und doch spöttischen Nicken quittierte.
„Ich würde eine Person, die mit diesem despotischen Koreaner sympathisiert oder gar kollaboriert, in keiner Weise helfen. Du scheinst ein sehr sozialer Mensch zu sein.“, bemerkte der Schwede trocken.
„Niemand ist es Wert auf so grausame Weise zu sterben. Wir sollten uns alle im Speisesaal oder in der Bibliothek zusammensetzen, sodass der Mörder nicht mehr anonym agieren kann.“, schlug Thomas vor und hoffte, dass er seine schon lang geplante Taktik nach all den hektischen Ereignissen der letzten Stunden endlich in die Tat umsetzen konnte.
Der Schwede nickte nur nachdenklich und blieb unbeweglich, während Thomas nun endlich die letzten Fesseln durchtrennte und den grimmig blickenden Fatmir ruckartig befreite. Der schottische Polizist rechnete mit einem wütenden Angriff, aber stattdessen rappelte sich der Albaner ächzend auf und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stirn, auf der sich bereits eine riesige, gelbfarbige Beule gebildet hatte. Fatmir hatte offensichtlich Gleichgewichtsstörungen und musste von Thomas gleich gestützt werden. Der Albaner war von Schweiß durchnässt und roch recht streng. Die sich überschlagenden Ereignisse waren auch an ihm nicht völlig spurlos vorbei gegangen.
In diesem Moment trat auch Abdullah über die Schwelle ins Zimmer, er wirkte gehetzt und blickte sich hektisch um. Erstaunt blickte er auf Thomas und Fatmir, wandte sich um und hetzte wieder zurück in den unteren Bereich des Schlosses, da er immer noch auf der eifrigen Suche nach dem unter ominösen Umständen verschollenen Butler war.
Thomas stützte seinerseits immer noch den Albaner, der sich inzwischen ein wenig beruhigt hatte, obwohl er den schottischen Polizisten partout nicht anblicken wollte, und führte diesen ebenfalls in Richtung der Treppe.
Björn Ansgar Lykström hatte das dreckige Fenster mittlerweile mit einem hässlichen Knarren geöffnet. Regen prasselte in das Turmzimmer und ein kräftiger Wind blies durch den ohnehin schon recht kalten und ungemütlichen Raum. In aller Ruhe zündete sich der Schwede eine Zigarette an und warf das brennende Streichholz achtlos aus dem Fenster. Nachdenklich blies er den blauen Dunst in die Luft und verfolgte die wilden und schlierenartigen Drehungen des Rauches in einer melancholischen Monotonie.
Thomas sah ein, dass der Schwede möglicherweise eine kurze Auszeit brauchte und bat ihn nicht darum ihm zu helfen. Der Albaner lief inzwischen selbst wieder, wenn er auch noch wacklig auf den Beinen war und unentwegt flüsternd in seiner Muttersprache fluchte. Nach einigen Augenblicken erreichten die beiden ohne weitere Zwischenfälle den unteren Gang, wobei Thomas doch fast einmal auf der steilen Treppe weggerutscht wäre und sich noch soeben an eine brüchige Holzwand hatte klammern können. Doch je weiter er mit dem Albaner ging, desto sicherer wurde dieser auf seinen Beinen und umso leichter wurde der Abstieg. An einen gewaltsamen Widerstand schien Fatmir zu keinem Zeitpunkt zu denken, doch Thomas traute seinem alten Freund dennoch nicht über den Weg.
Als die beiden im unteren Gang ankamen, trat bereits Elaine Maria da Silva auf die beiden zu und legte ihre grazile Hand, die mittlerweile von einem schwarzen Seidenhandschuh umhüllt war, auf die Schulter des Schotten.
„Wir haben bereits einige der Zimmer durchsucht, aber der Butler ist hier nicht zu finden. Das Schloss ist aber auch relativ groß und er wird die besten Schlupflöcher kennen.“, erzählte sie ihm mit rauchiger Stimme und Thomas empfand ein nicht unangenehmes Frösteln in seinem angespannten Nacken.
Thomas nickte eifrig, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Er wandte sich rasch um, denn er wollte dieses peinliche Zusammentreffen sofort abbrechen, da es ihm seltsam unangenehm war. Mit großer Erleichterung bemerkte er, wie Mamadou aus einem Zimmer auf den Gang trat und auf Thomas zusteuerte.
Der junge Polizist lehnte sich erschöpft an die Gangwand und stieß dabei zufällig an einen alten Kerzenständer, der auf seiner Schulterhöhe befestigt war. Der edle Kunstgegenstand ruckte ein Stück zur Seite und Thomas trat überrascht zurück, als er plötzlich ein tiefes Grollen und Knarren vernahm.
Seine Augen weiteten sich, als sich eines der übergroßen Porträts auf der linken Wandseite plötzlich wie von Geisterhand zur Seite schob und einen dunklen, recht kleinen Gang freigab, der in eine düstere Höhle führte, an dessen Ende der schottische Polizist lediglich noch den Ansatz einer alten Leiter bemerkte.
Völlig überrascht trat Thomas zurück und rieb sich die Augen, um sicher zu gehen, dass er sich das unglaubwürdige Szenario nicht nur einbildete. Ein Seitenblick auf Mamadou und Elaine Maria da Silva bewiesen ihm, dass er noch keine Halluzinationen hatte. Der Ghanaer stand mit offenem Mund neben ihm, während die Augen der Brasilianerin vor Erkundungsdrang und Faszination fast schon fanatisch aufleuchteten.
„Verdammt, das ist ein Geheimgang. Thomas, du bist genial.“, rief die Brasilianerin und schmiegte sich eng an den Rücken des Schotten, der dies gar nicht mehr richtig wahrnahm und wie gebannt auf das schwarze Loch starrte.
„Vielleicht ist das unsere heiße Spur. Ich werde mich unten rasch nach einer Taschenlampe umsehen.“, bemerkte nun auch Mamadou eifrig, wurde jedoch von den schweren Schritten unterbrochen, die von der alten Wendeltreppe herkamen.
Langsam trat Björn Ansgar Lykström hervor und zückte mit einem gezwungenem Lächeln eine kleine Taschenlampe, die an seinem Schlüsselbund befestigt war und die eine solch enorme Strahlungskraft besaß, dass sie Thomas grell blendete, als der Schwede sie probehalber einschaltete.
„Ich komme wohl wie gerufen. Folgt mir.“, bemerkte der Schwede trocken und betrat ohne Zögern per Klimmzug den niedrigen Gang.
Elaine Maria da Silva löste sich lächelnd von Thomas und gelangte mit einem sportlichen Klimmzug ebenfalls in den geheimen Gang, wobei Thomas ein kurzer Blick unter den schwarzen Rüschenrock der düsteren Brasilianerin gewährt wurde. Der Schotte wandte seinen Blick nicht sofort ab und musste sogar kurz Schmunzeln. Ein wenig Ablenkung tat ihm jetzt scicherlich auch gut, auch wenn es kein Zeitvertreib der feinen schottischen Art war. Instinktiv trat er ebenfalls auf die Öffnung zu und kletterte mühelos und doch mit einem flauen Gefühl im Magen, das ihn symbolisch an eine der unheilvollen Vorahnungen erinnerte, die er schon des Öfteren gehabt hatte. Thomas hockte sich gebückt in den geheimen Gang, blickte sich aber noch einmal zu Mamadou herum, der ihm geduldig zunickte.
„Ich werde hier bleiben und die Lage unter Kontrolle behalten. Pass auf dich auf.“, meinte er, als das übergroße Porträt plötzlich wieder wie von Geisterhand hinter Thomas zuschlug und ihn mit seinen beiden Begleitern in der fast vollkommenen Dunkelheit einsperrte.
Nervös wandte er sich um und klopfte von innen an den soliden Rahmen, doch das Bild wollte sich um keinen Zentimeter zur Seite bewegen. Impulsiv schlug er dagegen, als er eine feine Hand auf seiner rechten Hüfte spürte und die Stimme der mysteriösen Brasilianerin direkt an seinem rechten Ohr. Alle Nackenhärchen stellten sich bei Thomas unverzüglich auf.
„Habe keine Angst. Jetzt geht das Abenteuer erst richtig los.“