by Sebastian Kluth
Kapitel 86: Samstag, 03 Uhr 39 Archive
Thomas glaubte sein Herz würde still stehen vor Schreck und blickte sein Gegenüber, das er zunächst durch den immer noch dichten Staubschleier noch nicht erkannte, planlos und ängstlich an, doch plötzlich spürte er eine große Erleichterung, als er den Schweden erkannte und atmete hörbar durch. Selbst ein erleichtertes Lachen konnte der Polizist sich jetzt nicht mehr verkneifen.
Kopfschüttelnd ergriff er die kleine, aber starke Taschenlampe, die der Schwede in seiner Hand gehalten hatte. Björn Ansgar Lykström lächelte kurz, versank dann jedoch wieder in seiner alten Ernsthaftigkeit und Trauer.
„Ich dachte mir, dass du die gut bebrauchen könntest. Ich werde hier oben bleiben.“, bemerkte der Schwede mit einem gezwungen wirkenden Lächeln, klopfte Thomas aufmunternd auf die Schultern und wandte sich dann schlurfend und mit hängenden Schultern ab.
Thomas atmete tief durch und wischte sich schnaufend den Schweiß von der Stirn, bevor er sich bückte und die Taschenlampe mit dem hellen, weißen Strahl einschaltete. Vor ihm befand sich ein enger Schacht, der nach kurzer Zeit scharf nach rechts abknickte und dabei in die Tiefe zu führen schien. Wie schon im anderen Gang sah Thomas zahlreiche Spinnweben und große Staubreste auf dem kalten und uneben geformten Boden.
Langsam kroch Thomas in den Gang, die Faszination und Motivation hatten ihn nun gepackt. Erst an dem scharfen Knick hielt er inne und warf einen kurzen Blick über seine Schulter. Elaine Maria da Silva war ihm dicht gefolgt und Thomas empfand ein seltsames Gefühl des Triumphes, als er bemerkte, dass ihre Rollen nun vertauscht waren und er sich nicht mehr hinter ihr befand, wie noch im letzten Geheimgang. Diese Verwandlung war für Thomas sehr symbolisch, da er sich auch geistiger und zwischenmenschlicher mit der Brasilianerin nun mindestens ebenbürtig fühlte. Der Gedanke an ein Erfolgerlebnis, welche bislang eher sehr spärlich gesät gewesen waren, gab dem schottischen Polizisten unter diesen Vorzeichen neuen Antrieb.
Thomas bog um die Ecke und kroch nun in einem Winkel von vielleicht zwanzig Grad tiefer in Richtung des Gewölbes. Der Gang schlängelte sich bald, um nach einigen Minuten in einer Spirale zu münden, die kreisförmig immer weiter in die Tiefe führte. Thomas bewegte sich schnell voran, aber die drückende Hitze in dem eigentlich so kalt wirkenden Gang, sowie auch die Enge und der zahlreiche Staub um ihn herum machten ihm gehörig zu schaffen. Thomas wurde immer ungeduldiger, legte öfters Pausen ein, um auf seine Begleiter zu warten, hielt inne und sinnierte darüber nach, wann der Gang endlich zu einem Ende kommen könnte.
Er hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben und war in eine motivationslose Monotonie verfallen, bewegte sich auf allen Vieren wie ein Roboter vor und zurück, als er plötzlich einen anderen, weicheren Untergrund unter seinen Beinen spürte.
Thomas hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als der Untergrund plötzlich nachgab und er abrupt und fast ungebremst in einen dunklen Schacht stürzte. Thomas versuchte noch instinktiv zu reagieren und sich irgendwo festzuhalten, doch er hatte eng zusammengekauert im Gang gehockt und fühlte sich auch jetzt wie ein unbewegliches und eingeschnürtes Paket.
Er hatte nicht einmal mehr die Zeit, einen erschrockenen Schrei auszustoßen und stürzte in ein dunkles Loch, wobei er aus den Augenwinkeln heraus ein flackerndes Licht bemerkte. Bevor er sich über dieses Bild bewusst werden konnte, schlug Thomas grob auf einer harten Fläche auf, die unter ihm geräuschvoll zersplitterte, sodass sein Fall nur gebremst, aber noch nicht gestoppt worden war. Thomas fiel hilflos weiter, bis er nach wenigen Sekundenbruchteilen schon wieder hart auf einem staubigen und festen Boden aufkam.
Ein dumpfer Schmerz wanderte durch seinen lädierten Rücken und er stöhnte geräuschvoll auf. Über sich sah er ein zersplittertes Holzbrett, jenseits davon eine schattige Öffnung an der Decke, wo er das Gesicht der schönen Brasilianerin mehr erahnte, als erkannte. Ächzend fuhr Thomas sich durch die Haare, schloss die Augen und ordnete seine Gedanken.
„Ist bei dir alles in Ordnung, Thomas?“, fragte Elaine Maria da Silva halb spöttisch, halb besorgt und beugte sich mit ihrem Oberkörper nach unten.
„Ich bin in Ordnung.“, brüllte Thomas entnervt zurück, tastete im Dunkeln halb blind nach seiner Taschenlampe, die neben ihm zu Boden gefallen war.
Energisch schaltete er sie ein, doch es erfolgte keine Reaktion, das Licht blieb aus. Fluchend wiederholte er diesen Vorgang einige Male, doch die Lampe war offensichtlich durch den Sturz in Mitleidenschaft gezogen worden.
Ungeduldig richtete Thomas sich auf, schirmte seine Augen mit den Händen ab und sah in dem relativ breiten und hohen Gang über sich ein Flackern. Neben dem zerstörten Holzbrett befand sich ein stabileres Gerüst, das durch einen tunnelartigen Gang in eine größere Höhle führte, aus der dieses mysteriöse Leuchten kam.
Neugierig richtete sich Thomas auf, warf noch einen ergebnislosen Blick in den kleinen Vorraum, und stolperte dann auf eine kleine Holzleiter zu, die an den Durchgang angelehnt worden war. Mühsam erklomm er die knappe Distanz und wandte sich in dem Moment um, als seine brasilianische Begleiterin mutig nach unten gesprungen war, dabei jedoch vorsichtiger vorgegangen war, als ihr neuer Partner. Die mysteriöse Schönheit kam federnd auf einem noch intakten Teil des Holzbrettes auf und tänzelte instinktiv einen Schritt nach vorne, woraufhin auch das bedrohliche Knarren und Quietschen der alten Konstruktion gnädig verstummte.
Die Autorin lächelte ihr Gegenüber charmant und überlegen an, Thomas nahm dies grimmig hin, doch seine Bitterkeit wich aus dem Gesicht, als die Brasilianerin rasch auf ihn zueilte und ihre heißen Lippen fordernd gegen die des verwirrten Schotten presste. Thomas fühlte sich wieder wie elektrisiert und schloss mit einem angenehmen Stöhnen die Augen.
In diese kurzlebige Idylle funkte Abdullah Gadua dazwischen, der ebenfalls in die Tiefe gesprungen war, ebenfalls auf einer intakten Platte aufkam, sich instinktiv über die Schulter abrollte und mit dem verschreckten Paar fast in Kollision geraten wäre. Spritzig und frisch richtete er sich auf, während Elaine und Thomas rasch und fast beschämt Abstand voneinander nahmen und ihrem Begleiter fast gleichzeitig die Hand reichten, um ihm aufzuhelfen. Abdullah zwinkerte den beiden wissend zu und trotz der so ernsten Situation, mussten alle drei Anwesenden herzhaft lachen. Außer ihnen waren alle anderen Gäste in der Bibliothek geblieben. Thomas fragte sich mit einem unbehaglichen Gefühl, was sie wohl bei ihrer Rückkehr erwarten würde.
Abdullah Gadua klopfte sich Staub und Dreck von seinen edlen Anziehsachen und machte dann aber den ersten Schritt auf den kurzen Zwischengang zu, der direkt in ein kleines Gewölbe mündete, welches durch einige Petroleumlampen erhellt war, die nie völlig abzubrennen schienen. Ehrfürchtig sahen sich die drei Ankömmlinge in dem hohen Verließ um und betrachteten nachdenklich die hohen, rostigen und kalten Regale, in denen zahlreiche gebundene Bücher, Ordner und kleinere Kunstgegenstände standen.
Direkt ins Auge fiel ihnen eine Art Schrein in der Mitte der überschaubaren und doch groß wirkenden Halle. Zwei schwere Holzschatullen mit Glasvitrinen und Sicherheitsschloss standen auf einer Art steinernem Podest. Beide waren durch eine hölzerne, geschnitzte Trennwand voneinander abgeschnitten.
Neugierig trat Thomas näher und zitterte vor nervöser Anspannung. Angestrengt blickte er auf die gläserne Oberfläche, unter der zwei edle und eingebundene Bücher lagen, auf denen in verschnörkelter Schrift stand, dass diese Bücher die Testamente von der Schlossherrin und dem Schlossherrn beinhalteten.
Noch viel überraschender war aber die Tatsache, dass eines der Schlösser weniger intakt war, als man vorher geglaubt hatte. Das Schloss zur Schatulle der am Grab ihres Vaters gestorbenen Schlossherrin verzeichnete einen kleinen, aber sehr feinen Riss. Zögerlich rüttelte Thomas an dem Schloss, das sofort aufsprang und ebenmäßig durchgesägt zu sein schien. Verwundert runzelte Thomas die Stirn. Wer könnte von dem Gang gewusst und ein Interesse an diesem Testament gehabt haben?
Thomas hatte sofort eine Idee, klappte die Glasvitrine aus und entnahm daraus das durchaus schwere, gebundene Testament. Eifrig überschlug der schottische Polizist die ersten Seiten, bevor er auf ein relativ aktuelles Dokument stieß, dessen Papier versiegelt und noch klar und weiß war. Ein flüchtiger Blick auf das Datum bestätigte Thomas, dass das neue, geheimnisumwitterte Testament der Spanierin, erst vor etwas mehr als einem Monat neu notariell beglaubigt worden war.
Viel interessanter als diese bestätigende Entdeckung war jedoch der Inhalt des Testamentes, der den triumphierenden Thomas in seiner Vorahnung bestätigte und ihm doch gleichzeitig Angst machte.
Nervös wandte er sich zu seinen anderen Begleitern um, die ebenfalls ungläubig auf das Papier starrten und Thomas dann aufgeregt zunickten. Sie alle mussten die Entdeckung zunächst verdauen, bevor sie darüber sprechen und Schlüsse ziehen konnten.
Schließlich war es die gewohnt forsche Elaine Maria da Silva, die das Thema wieder aufgriff und Thomas dabei eindringlich und seltsam ernst ansah.
„Dieses Dokument könnte in der Tat der Schlüssel zu einer unglaublich komplexen Verschwörung sein. Damit hätte ich nicht gerechnet!“, bemerkte sie und blickte ihre männlichen Begleiter erwartungsvoll an.
„Diese Sache gibt dem, was bisher geschehen ist, möglicherweise eine ganz neue Dimension.“, pflichtete Abdullah der schönen Autorin bei.
Lediglich Thomas reagierte zögernd und besah sich die Entdeckung noch einmal genauer, bevor auch er die Inhalte vorsichtig und seine Worte behutsam während thematisierte.
„Hier haben wir es tatsächlich schwarz auf weiß. Magdalena Osario enterbt ihren Gatten von allen familiären Erbgütern, abgesehen von dem Schloss selbst und dessen Grundbesitz und überträgt alle Erbstücke, das Geld und die Kunstobjekte ihrem Geliebten Björn Ansgar Lykström. Die Werte dieser Erbschaft werden notariell auf etwa fünf bis sechs Millionen Pfund geschätzt.“, zitierte Thomas ein wenig aus dem Testament.
Abdullah blickte erst den schottischen Polizisten, dann seine brasilianische Partnerin und dann das Testament an, als ob sie für ihn bedrohliche oder weltfremde Objekte wären. Dann nickte er grimmig und entschlossen und ein unheimliches Flackern huschte kurz durch seine verklärten Augen. Thomas hatte dies schon bei dem fanatischen Gwang-jo bemerkt, wenn er mit diesem einige Wörter gewechselt hatte und dieser unheimliche Wiedererkennungseffekt verursachte ihm jetzt schon böse Bauchschmerzen und eine ängstliche Vorausdeutung auf eine kommende Eskalation. Die harten Worte seines Begleiters bestätigten die unheilvolle These nur noch.
„Fünf Millionen Pfund sind wohl ausreichend, um an Macht zu gewinnen, alle Mitwisser auszuschalten und gegen die Gesetze der Vernunft, Liebe und Moral zu handeln. Björn Ansgar Lykström hat auf mich schon immer suspekt gewirkt. Es wird endlich Zeit ihn in die Opferrolle zu schieben und den Spieß des Spiels um Leben und Tod umzudrehen.“, murmelte Abdullah Gadua mit gepresster Stimme, schickte dieser ein böses Lachen hinterher und wandte sich bereits von dem dunklen Verlies, das ihm gar nicht behagte, mit neuer und wütender Entschlossenheit wieder ab.
„Abdullah, warte noch! Eine übereilige Reaktion macht nur noch alles viel schlimmer!“, mahnte die Brasilianerin und streckte ihre Hand nach dem Arm des Schweden aus, doch dieser blockte ihren Griff grob ab und funkelte sie kalt an.
„Schlimmer als es jetzt ist kann es gar nicht mehr kommen.“, urteilte er mit harter Stimme und wandte sich mit strammen Schritt von seinen beiden Begleitern ab.
Thomas und Elaine Maria da Silva sahen sich bedeutungsschwanger an. Stöhnend verstaute der junge Polizist nach einem kurzen Zögern und letzten aufmerksamen Blick das Buch mit der testamentarische Darstellung wieder in der Vitrine, während seine Partnerin bereits dem wutschnaubenden Abdullah Gadua hinterhereilte, der in diesem Moment auf die Öffnung an der Decke im anderen Raum zusprang und sich elegant und rasant wieder in den alten und instabilen Gang zurückzog, um diesen zu durchqueren und im Gefühl des Racheverlangens wieder zur illustren Gästeschar zu stoßen.
Thomas nahm sich trotz der brenzligen Situation allerdings noch die Zeit auch nach dem testament des toten Österreichers zus ehen, doch seine Schatulle war mehrfach verschlossen und unangetastet geblieben. Es hatte sich darauf gar eine dicke Staubschicht gelegt. Thomas schloss daraus, dass der Direktor im Todesfall sein erbe vermutlich ganz normal auf seine spanische Frau übertragen hätte. Da nun beide tot aren, erachtete der schottische Polizist dies allerdings eher als unwichtig.
So wandte auch er sich endlich von den Vitrinen ab, warf noch einen Blick durch die Höhle, in der alte Zeitungen, Dokumente, Aktenordner und sogar alte Gesellschaftsspiele, sowie ein verfallener Billardtisch gelagert waren.
Thomas riss sich von dem Anblick los, als er den fordernden Ausruf seiner brasilianischen Partnerin hörte. Da wusste er, dass er keine Zeit mehr zu verlieren hatte und seine Benommenheit war wie von Geisterhand auch zu dieser ungewöhnlichen Uhrzeit wieder verschwunden.