by Sebastian Kluth
Kapitel 87: Samstag, 04 Uhr 10 Archive
Der junge Schotte eilte jetzt seiner neuen Partnerin hinterher und ein ungutes Gefühl breitete sich dabei in seinem Magen aus, während ihm der Schweiß in den stickigen Katakomben aus allen Poren rann. Thomas fürchtete, dass bei Abdullah nun ebenfalls alle Sicherungen durchgebrannt waren und fragte sich bange, wann es wen als Nächstes treffen würde. Die Situation wurde immer bedrohlicher und komplexer und es fehlte in der Gruppe an einem kühlen Kopf, der die Dinge unter Kontrolle halten konnte. Mamadou und Thomas versuchten sich zwar in dieser Rolle, doch auch sie hatten verständlicherweise nur mäßigen Erfolg, denn selbst mit Mamadou war eine langsame und seltsame Veränderung vorgegangen, die Thomas noch nicht vollends verstand.
Abdullah Gadua war inzwischen wieder in den baufälligen Schacht gekrochen, der hinter der Stelle seines Einsturzes zu einer Röhre geführt hätte, die sie direkt seitlich in das Archiv gebracht hätte. Der schmale Gang lag in einer schattigen Nische nahe dem kurzen Verbindungsgang, den Thomas jetzt mit großen Schritten durchquerte.
Elaine Maria da Silva hatte sich mit einem erstaunlich sportlichen Klimmzug fast wieder in den Schacht gezogen. Thomas eilte heran, als er merkte, dass die Brasilianerin mit der letzten Koordination noch Schwierigkeiten hatte. Energisch griff er ihr an die Hüften und drückte seine Partnerin weiter in die Höhe. Seine Hände rutschten dabei ein wenig nach oben und streiften das wohl geformte Gesäß der Brasilianerin, die jetzt in den flachen Gang hineinkroch und sich zu ihrem Helfer umwandte.
Thomas sprang mit keuchendem Atem zur Öffnung, bekam den zersplitterten Holzrand der Öffnung zu fassen, wobei sich ein Splitter geräuschvoll in seine Hand bohrte. Thomas zuckte zusammen und verzerrte qualvoll das Gesicht, als ein dicker Blutstropfen aus der Wunde hervorquoll und in die Tiefe tropfte. Der Schmerz zwang ihn fast dazu loszulassen und erneut in die Tiefe zu fallen. Sein Körper zitterte schon und der schottische Polizist biss die Zähne zusammen und versuchte Stärke zu zeigen.
Da ergriff Elaine Maria da Silva seinen verletzten Arm und zog Thomas mit einer ungeheuren Kraftanstrengung entgültig zurück in den Gang. Mit ihrer zweiten Hand griff sie nach dem Hemd des Schotten und zerrte ihn somit noch höher. Thomas Jason Smith kletterte nun auch selbst noch ein Stück und sackte schließlich schnaufend und völlig erschöpft in dem Gang zusammen. Die Brasilianerin streichelte ihm kurz durch die Haare, verlor ihre Zeit jedoch nicht mit romantischen Spielereien und wurde plötzlich sehr energisch.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren. Lass uns hoffen, dass der Vorsprung noch nicht zu groß ist.“, bemerkte die Brasilianerin, wandte sich um und kroch wendig und schnell wie eine grazile Schlange durch den engen Gang und bewegte dabei ihr Gesäß aufreizend hin und her.
Thomas war von der neuen hilfsbereiten und energischen Seite der sonst so unnahbaren und mysteriösen Brasilianerin beeindruckt und bekam unwillkürlich wieder eine Gänsehaut. Er spürte eine seltsame Wärme in seiner Brust und spürte mit jeder Faser seines Körpers, dass er der mysteriösen Dame absolut verfallen war.
Er zwang sich zur Konzentration und robbte nun, den Schmerz in seiner rechten Hand, in der das Blut pochend und dumpf aus der Wunde strömte, ignoriernd, krampfhaft weiter voran. Der Schotte wusste bereits, dass sein Weg ein langer und anstrengender werden würde, doch er wollte sich davon dennoch nicht demotivieren lassen.
Nach einiger Zeit, in der er nur schleppend vorankam, war er es leid und riss sich die Splitter einzeln aus der Hand, was zwar sehr schmerzhaft war, ihn jedoch beim Kriechen weniger behinderte.
Thomas hatte den Anschluss an die beiden Begleiter schon verloren und zwang sich zu noch größerer Anstrengung. Schweißgebadet kroch er die endlos lange Spirale in die Höhe und erreichte unter Schmerzen und Erschöpfung schrecklich wieder den Knick, der in Richtung des Kamins in der Bibliothek führte. Er war bereits an das diffuse Dunkel in dem dreckigen Gang gewöhnt gewesen, sodass das Licht ihn blendete und er nur sehr ungeschickt und irritiert weiter nach vorne kroch. Sein Körper war mit Staub und Spinnweben bedeckt, seine Wunde pochte pulsierend und sein Herz schlug so laut, dass dessen Geräusch sogar dumpf in seinem Schädel wiederhallte.
Der schottische Polizist gab ein bemitleidenswertes, aber kämpferisches Bild ab, als er wieder in die Bibliothek stolperte, sich den Staub aus den Augen wischte und ächzend erhob.
Langsam öffnete er die Augen und nahm gerade noch war, wie Abdullah Gadua, auf den alle Augen gerichtet waren, sich auf den schwedischen Lehrer stürzen wollte, der mit grimmiger Miene und erhobener Faust in Richtung des Speisesaals zurückgewichen war. Abdullah hatte instinktiv einen soliden Kerzenständer ergriffen, der neben ihm auf einem kleinen Tisch stand. Mamadou hatte gar nicht mehr die Gelegenheit seine Waffe zu ziehen, sondern versuchte sich gedankenschnell zwischen die beiden neuen Kontrahenten zu stellen.
Es war wohl eher Zufall, dass Abdullah Gadua im selben Moment angriffsbereit den Arm erhoben hatte und wutschnaubend nach vorne lief, als der Ghanaer im letzten Moment entschieden mit seinem robusten Körper in seine Laufrichtung sprang, sich dabei noch ächzend zur Seite drehte und dabei wuchtig mit dem Kerzenständer in Berührung kam, der ihn kurz und trocken am Hinterkopf traf. Der Afrikaner verdrehte die Augen und sank unmittelbar zusammen. Wie ein nasser Sack fiel er in sich zusammen und lag benommen auf dem Bauch auf einem der alten Teppiche.
Abdullah Gadua stockte in seinen Angriffsbemühungen und blickte den Kerzenständer in seiner Hand wie einen unheilvollen und ihm völlig fremden Gegenstand an. Mit einem verschreckten Schaudern ließ er die Waffe fallen, als ob sie plötzlich glühend heiß geworden wäre. Dumpf schlug die Waffe neben dem regungslosen Mamadou auf. Seinen ursprünglich geplanten Angriff vergaß Abdullah mit einem Mal, sackte ebenfalls in sich zusammen und kroch kopfschüttelnd und entsetzt auf sein versehentliches Opfer zu.
Aus den Augenwinkeln herausbemerkte Thomas, dass selbst Marilou bei dieser Reaktion verwundert den Kopf schüttelte und abfällig lächelte. Björn Ansgar Lykström war ebenfalls sowohl perplex, als auch erleichtert, da er einem brutalen Konflikt durch einen unglücklichen Zufall noch einmal ausgewichen war.
Thomas verließ seine Beobachterrolle und eilte ebenfalls auf seinen bewusstlosen Kollegen zu. Sanft, aber bestimmt drängte er den ängstlich schwitzenden Abdullah zur Seite, der wie ein schuldbewusstes Häufchen Elend wirkte. Seine wütende Entschlossenheit war einer fast infantilen Hilflosigkeit gewichen.
„Pack mit an! Wir tragen ihn dort hinten auf die Couch!“, befahl Thomas dem nervösen Täter, der zunächst eifrig, dann aber wieder benommen nickte und erst nach nochmaliger Aufforderung auch wirklich zur Hilfe eilte.
Mit zitternden Händen drückte er den Körper des robusten Afrikaners in die Höhe, während Thomas trotz seiner Verletzung kräftig anpackte und seinen verletzten Kollegen mit verbissenem Gesicht ebenfalls in die Lüfte stemmte. Gemeinsam trugen die beiden ihn, von den anderen Gästen nur staunend oder neugierig angestarrt, zu der nächsten Couch, wo Thomas seinen Kollegen in eine stabile Seitenlage bettete. Erleichtert stellte er fest, dass der Puls noch in vollem Gange war, doch der schottische Polizist bemerkte mit ungutem Gefühl die riesige, dunkle Beule, die sich bereits jetzt am Hinterkopf des eher kahlen Ghanaers gebildet hatte und einen gelblich-orangenen Farbton hatte. Wenigsten war die dünne Kopfhaut aber nicht aufgeplatzt und sein Kollege hatte kein Blut verloren.
Aufgeregt suchte Thomas nach einer Möglichkeit diese Wunde zu kühlen und kam tatsächlich zu einem Entschluss, während die restlichen Gäste sich nun doch in einem Halbkreis um den Verletzten scharten.
„Ich werde jetzt in die Küche gehen und dort nach Eis suchen. Vielleicht finde ich dort auch eine Art Handtuch, sodass wir seine Wunde kühlen können. Gleichzeitig hole ich noch eine Flasche Wasser. Behaltet meinen Kollegen solange im Auge!“, mahnte Thomas und sah das mechanische und monotone Nicken der meisten Gäste.
Ohne länger darüber nachzudenken eilte der junge Polizist durch das offenstehende Portal in den düsteren Speisesaal. Trotz der bereits frühen Morgenstunde konnte er keinen Sonnenstrahl der aufgehenden Sonne erkennen. Der Wolkenvorhang war immer noch völlig dicht, der Regen prasselte monoton gegen die großen Scheiben. Im diffusen Licht erblickte Thomas im naheligenden Garten sogar einen umgeknickten Baum, der in der Nähe der Vogelhäuser lag. Die Vegetation hatte ihren Tribut an die tagtäglichen Stürme gezollt, die fast schon Ausmaße einer Naturkatastrophe annahmen.
Thomas wollte bereits weiter in Richtung Küche gehen, als er in der Nähe jenes Baumstamms plötzlich einen dunklen Schatten bemerkte, der sich langsam und irgendwie humpelnd auf das Schloss zu bewegte. Thomas kniff die Augen zusammen und ein heißer Schreck zuckte durch seine Glieder, als er die zottelige Gestalt zu erkennen glaubte.
Es handelte sich zweifellos um den gespenstischen Wolf, den der Butler erschossen oder schwer verletzt haben wollte. Doch das Tier war am Leben und hatte wohl nun auch gemerkt, dass es beobachtet wurde. Sein kalter, grauer Blick traf Thomas bis ins Mark und er schauderte, als er an seine bisherigen Begegnungen mit diesem scheinbar unbesiegbaren Biest dachte.
Kaum hatte er diesen Gedankengang zu Ende geführt, als sich der Wolf abwandte und auf die uneinsehbare Rückseite des Schlosses zulief. Trotz der gedrückten Stimmung und der brisanten Ereignisse war Thomas heilfroh, dass er in diesem unheilvollen Schloss eine Art Refugium gefunden hatte, das ihn vor dem unbarmherzigen Wetter und dem mordlustigen Wolf schützte.
Thomas fühlte sich unbehaglich ertappt, als er merkte, dass seine Gedanken abschweiften und er den eigentlichen Grund seiner Eile fast vergessen hätte. Schuldbewusst wandte er sich von den Scheiben ab und rannte im Halbdunkel in Richtung der Küche, wo vor wenigen Stunden noch das letzte Opfer zu beklagen gewesen war. Man hatte den toten Fatmir Skola provisorisch weggeschafft und auch in der Bibliothek hatte Thomas den Körper nicht mehr gesehen. Er vermutete, dass sein Kollege, während seiner Abwesenheit im Geheimgang zu dem Aufbewahrungsort der Testamente, einige Leute dazu aufgefordert hatte die Leiche zu den anderen Opfern zu schaffen, die man allesamt in einen kühlen Raum am Eingang des Kellers gelegt hatte. Dort befanden sich auch zwei Särge, in denen die ersten Opfer lagen, doch die anderen hatte man einfach nur daneben legen können, sodass der Raum wie ein makabres Massengrab wirkte. Der Gedanke daran ließ Thomas erschaudern, doch er musste innerlich zugeben, dass diese Lösung besser war, als wenn man die Toten an Ort und Stelle hätte liegen lassen. Er versetzte sich in die Rolle der Gäste, welche die Opfer hatten tragen müssen, doch diese unangenehme Arbeit war immer noch besser, als fortwährend in einem Raum mit einem Toten zu sitzen, der vor kurzem noch sehr lebendig gewesen war. Trotz seines Berufes als Polizist hatte Thomas eine gewisse Angst vor Leichen und spürte bei deren Anblick in der Pathologie beispielsweise immer eine lähmende Kälte.
Endlich erreichte der Schotte die Küche, umging den Raum mit der schweren und grauen Gasflasche, die immer noch an Ort und Stelle lag, und trat stattdessen auf einen kleineren Gefrierschrank zu, den er aufriss. Ein dumpfes Summen schlug ihm entgegen. Thomas fand einige Eiswürfel in einem Fach und sah an einer kleinen Spüle ein feines, weißes Handtuch, welches er sich über die Schulter warf. Eilig erstellte er einen improvisierten Kühlbeutel, beäugte sein Ergebnis kritisch und war doch notdürftig zufrieden. Energisch nickend schlug er den surrenden Gefrierschrank zu und eilte wieder schleunigst aus der Küche heraus, in der er sich sehr unwohl fühlte, zumal er an diesem Ort selbst vor wenigen Stunden um sein Überleben gegen den durchgedrehten Koreaner gekämpft hatte. Mit fast jedem Ort im Schloss und auf der Insel verband Thomas inzwischen bestimmte unangenehme Erinnerungen, die ihn beinahe wie Traumata zu verfolgen schienen. Er fragte sich ernsthaft, ob er sich jemals wieder von diesen Ereignissen erholen würde und sich in psychiatrische Behandlung geben müsste, falls er die nächsten Stunden überhaupt überleben könnte.
Mit raumgreifenden Schritten eilte der missmutige Polizist zurück in die Bibliothek und sah einige Gäste besorgt über den Ghanaer gebeugt. Mürrisch eilte Thomas heran, drängte die Gäste beiseite. Rasch presste er den Eisbeutel an die immer stärker anschwellende Wunde am Hinterkopf des Afrikaners, die wie ein überdimensionaler Bluterguss aussah. Mamadou war noch immer bewusstlos und Thomas musterte seinen Kollegen besorgt. Er fragte sich auch wieder, warum sein Kollege sich zuletzt so seltsam benommen hatte.
Thomas führte diesen Gedanken nicht weiter aus, da dieser durch eine Entdeckung abrupt unterbrochen wurde. Erschrocken fuhr der Schotte zusammen, fixierte eine bestimmte Stelle am Körper des Ghanaer und zwinkerte mit den Augen, um sich zu versichern, ob er nicht auf Grund seiner Erschöpfung und der unmöglichen Uhrzeit einer Sinnestäuschung erlegen war. Nervös klopfte er den Körper, vor allem auch die Taschen der Hosen und Hemden an dem Körper des Bewusstlosen ab und wandte sich dann mit steinerner Miene zu den Gästen, die ihn in Erwartung einer weiteren Hiobsbotschaft beunruhigt ansahen. Thomas nahm das Verhalten der einzelnen Anwesenden in Sekundenbruchteilen auf, bevor er mit der Sprache endlich herausrückte.
„Wer von euch hat die Waffe meines Kollegen in meiner kurzen Abwesenheit an sich genommen?“