• Exklusiv: Mein Roman: Aljenikow und der Terror in der Murmanbahn (2013 - 2016)

    Aljenikow und der

    Terror in der

    Murmanbahn

     

    Von Sebastian Kluth

     

    (Band 3)

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Murmansk, April 2009

     

    Zufrieden zog sich Choi Sung-Yong den lästigen Anzug aus, faltete ihn sorgsam und legte ihn dann vorsichtig über die Stuhllehne. Auch die Krawatte löste er nun mit ein paar schnellen Griffen und brachte sie in dem kleinen Nachtschrank unter. Dann griff er nach seiner Zigarettenpackung, schob sich mit einer fließenden Bewegung einen Glimmstengel in den Mund und trat auf den kleinen und schmutzigen Balkon des Hotels. Choi Sung-Yong blies den Rauch der Zigarette in den grauen Abendhimmel von Murmansk. Die Anspannung der letzten Tage fiel endlich von ihm ab. Erstmals seit vielen Tagen war er wieder ganz für sich allein und konnte zumindest für heute Abend tun und lassen, was er wollte. Choi Sung-Yong überlegte kurz, ob er nicht einen Abstecher ins Hafenviertel zu einer Prostituierten machen sollte. Er wollte sich noch einmal so richtig im fernen Ausland verwöhnen, obwohl ihm die kühle Hafenstadt mit ihren Betonbauten nicht sonderlich gefiel. Doch dann verdrängte er den Gedanken und dachte an seine Disziplin. Er durfte es nicht riskieren, dass man ihn hier entdeckte, wie er frei herumlief. Dies würde zu unnötigen Fragen führen und auch den höchsten politischen Kreisen in Pjöngjang nicht gefallen. Zudem konnte eine einzige dumme Aktion die Früchte jahrelanger Arbeit verderben. Choi Sung-Yong beschloss sich noch anderthalb Wochen zu gedulden. Morgen früh würde er für eine dreißigstündige Fahrt in die Murmanbahn steigen. Danach würde er eine Nacht in Sankt Petersburg bleiben und dann den Zug nach Moskau nehmen. Von dort aus ging es dann mit der altehrwürdigen transsibirischen Eisenbahn bis nach Wladiwostok. Anschließend nahm seine kleine Gruppe einen Privatzug über die Grenze bis in die nordkoreanische Hauptstadt, die er doch irgendwie vermisste. In Pjöngjang war es sauber und es gab keine lärmenden Touristen oder hinterhältigen Verbrecher. Er verfügte dort über einen persönlichen Chauffeur und konnte sich alles nur Erdenkliche leisten, was im Ausland ein Vermögen kosten würde. Er freute sich bereits wieder auf eine angenehme Golfpartie mit seinen Kollegen aus der Arbeiterpartei. Er dachte an das vorzügliche Restaurant im Stadtzentrum, wo es hervorragenden Kugelfisch gab. Seine Gedanken schweiften auch zu einigen Kippumjo-Tanzklubs ab, in denen er sich bald problemlos amüsieren konnte. Choi Sung-Yong malte sich schon das berauschende Willkommensfest aus, als er von einem seltsamen metallischen Klacken zurück in die Realität geholt wurde.

    Choi Sung-Yong blicke zunächst irritiert an der Fassade des Hotels herunter. Von vorne sah das Hotel durch seine Leuchtreklame und den neuen Anstrich noch ganz passabel aus, aber der hintere Teil zeigte sein wahres baufälliges Gesicht. Unter dem Balkon breitete sich ein ziemlich dreckiger Hinterhof aus und dann kamen einige Gassen, die bis zum stinkenden Hafen führten. Für einen Moment hatte Choi Sung-Yong Angst, dass der altersschwache Balkon wegbrechen und er in den Tod stürzen würde. Daher warf er seine Zigarette missmutig in die Tiefe und machte rasch ein paar Schritte zurück in das spartanisch eingerichtete Hotelzimmer.

    Doch dann ertönte das Geräusch wieder. Es war ganz offensichtlich nicht vom Balkon gekommen. Choi Sung-Yong blickte zur Verbindungstür. Dort befand sich das Zimmer des Wissenschaftlers Park Gwang-Jo. Choi Sung-Yong griff an den Türknopf der Verbindungstür und zog prüfend daran. Das Ganze verursachte ein helles und leicht schabendes Geräusch, aber es war nicht dieser Laut, den er jetzt schon zweimal gehört hatte. Zudem pflegte der Wissenschaftler sehr früh zu Bett zu gehen und sehr tief zu schlafen. Es war nun schon fast zehn Uhr abends.

    Choi Sung-Yong hörte erneut dieses metallische Klicken und plötzlich bekam er einen eiskalten Schauer, als er den Ursprung dieses Geräusches fast zufällig orten konnte. Es war die Türklinke seiner Zimmertür, die sich behutsam bewegte. Irgendjemand wollte bei ihm einbrechen!

    Der nordkoreanische Minister wog kurz ab, ob er seine Waffe aus dem Nachttisch nehmen und ein paar Schüsse auf die Zimmertür abfeuern sollte. Er zögerte zunächst, denn seine Disziplin redete ihm wieder ins Gewissen. Wenn er hier im Ausland jemanden erschoss, dann brachte das nicht nur ihren Auftrag in Gefahr, er würde auch bei den politischen Zirkeln seiner Heimat in Ungnade fallen und möglicherweise als Aussätziger in einem kahlen russischen Gefängnis landen. Ganz zu schweigen von dem, was seiner Familie in der Heimat zustoßen würde, wenn er hier unklug agierte. Seine Frau, eine schweigsame Sekretärin des Außenministeriums, die er nie geliebt und die auch ihn nie geliebt hatte, war ihm egal, aber er wollte nicht, dass ihre beiden Söhne oder seine geliebte Mutter in Sippenhaft genommen wurden. Choi Sung-Yong wusste nur zu gut, wie der Alltag in nordkoreanischen Arbeitslagern aussah, denn sein jüngerer Bruder war Leiter eines dieser Lager und machte sich eine morbide Freude daraus bei Familientreffern von den neuesten Foltermethoden zu plaudern.

    All dies ging dem Minister durch den Kopf, doch als die Tür vor ihm aufging und er noch das leise Klingeln eines Dietrichs zu hören glaubte, wurde er zu einer raschen Entscheidung gezwungen. Er musste irgendwo in Deckung gehen!

    Choi Sung-Yong blickte sich panisch um. Er war in seinem Zimmer wie auf dem Präsentierteller. Der Balkon, in dessen Nähe eine wacklige Feuerleiter verlief, war zu weit weg und außerdem war dieser potenzielle Fluchtversuch zu gefährlich für einen unbeweglichen Büroarbeiter mit Halbglatze und Übergewicht wie ihn. Choi Sung-Yong konnte sich in der kleinen Garderobe verstecken. Unter dem Bett gäbe auch eine Versteckmöglichkeit. Wenn er sich beeilte, konnte er vielleicht die Verbindungstür aufschließen und sich ins Zimmer des Wissenschaftlers retten. Was aber war, wenn der Wissenschaftler nebenan schon tot war? War der seltsame Eindringling ein skrupelloser Mörder, der die gesamte nordkoreanische Reisegruppe umbringen wollte? Oder war es doch nur ein einfacher Dieb ohne politische Motive, der sich einfach irgendein Zimmer ausgesucht hatte? Choi Sung-Yong dachte daran, dass der Wissenschaftler und er bei ihrer Ankunft die Zimmer getauscht hatten, da sein Begleiter unbedingt ein Eckzimmer mit freier Sicht aufs Meer haben wollte.

    Der Minister verwarf all diese Ideen und huschte auf Zehenspitzen ins dunkle Badezimmer. Dort verharrte er zwischen der angelehnten Tür und der Duschkabine. Vielleicht konnte er so den Eindringling am ehesten überraschen. Vielleicht hatte er sogar Glück, dass sich der unbekannte Einbrecher weiter in das Zimmer oder auf den Balkon wagte und so konnte Choi Sung-Yong dann einfach entkommen, da sich die Eingangstür unweit des Badezimmers befand.

    Er zuckte wie unter einem Stromschlag zusammen, als die Eingangstür zu seinem Zimmer leicht quietschend aufging und sich eine ganz in schwarz gekleidete Gestalt vorwagte. Der Eindringling war hochgewachsen und sehnig. Er bewegte sich wie auf Samtpfoten. In seiner linken Hand hielt er eine Pistole mit Schalldämpfer und blickte sich behutsam um.

    Choi Sung-Yong drohte das Blut in den Adern zu gefrieren. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und sorgte dort für ein unangenehmes Kribbeln, das sich bis unter seine Gehirndecke ausbreitete. Seine Hände zitterten leicht. Er versuchte seinen flachen Atem zu kontrollieren und schien dadurch noch lauter zu atmen, als er es normalerweise tun würde. Der Minister war sich sicher, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Der seltsame Killer konnte ihn doch kaum mehr überhören.

    Doch der Eindringling in schwarz schlich an der angelehnten Badezimmertür vorbei. Er schien das Schlafzimmer in Augenschein nehmen zu wollen. Choi Sung-Yong konnte sein Glück kaum fassen und tastete sich leicht nach vorne. Langsam griff er an die Seite der Badezimmertür und blickte mit rasselndem Atem in den spärlich beleuchteten Gang vor ihm.

    Seine Blicke trafen die des Eindringlings! Der ungebetene Gast hatte die Situation sofort durchblickt und sich nur zum Schein weiter in das Zimmer vorgewagt. Nun stand er breitbeinig im toten Winkel und hatte ein langes Schwert gezückt und die Pistole mit dem Schalldämpfer in einem Holster abgelegt. Der Minister war wie gelähmt und sein Überlebensinstinkt übernahm nun die Kontrolle über sein intuitives Handeln. Choi Sung-Yong stieß instinktiv die Badezimmertür zu und huschte zur Seite in Richtung Waschbecken.

    Dies geschah gerade noch rechtzeitig denn das scharfe Schwert bohrte sich durch das splitternde Holz der Badezimmertür wie durch heiße Butter. Das Schwert bohrte sich mehrere Zentimeter tief durch die Luft, wo der Minister vor wenigen Sekunden noch gestanden hat. Choi Sung-Yong erkannte nun auch an der Form des Schwertes, dass es sich um ein koreanisches Jin Gum handeln musste. Sofort dachte er daran, dass ihre Mission aufgeflogen war, der Süden Wind von der Sache bekommen hatte und nun darauf aus war, die gesamte Reisegruppe zu eliminieren.

    Choi Sung-Yong suchte sein Heil im Angriff und hoffte auf einen Überraschungseffekt. Sobald der Angreifer seine Klinge aus dem Holz gezogen hatte, zog der Minister die Badezimmertür mit seiner linken Hand auf und schleuderte mit der rechten Hand den erstbesten Gegenstand nach dem Angreifer. In diesem Fall war dies ein Zahnputzglas gewesen, das sein Gegenüber abwehrte, indem er den Griff seines Schwertes hochriss und schützend vor sein Gesicht hielt. Die Flugbahn des Glases wurde abrupt abgelenkt und es prallte dumpf gegen die Garderobe hinter dem Eindringling und fiel dann polternd zu Boden.

    Immerhin hatte Sung-Yong es geschafft seinen Gegner durch diesen Angriff abzulenken. Er sprang vorwärts und warf sich mit aller Kraft in den Gegner, der gerade zum entscheidenden Schlag ausholen wollte. Dieser wurde von der energischen Gegenwehr völlig überrascht und sank ächzend an der Garderobe hinunter, während Sung-Yong ins Straucheln geriet, aber nicht zu Boden ging. Dabei versperrte der Körper des Eindringlings Sung-Yong allerdings auch den Weg zur Zimmertür. Dieser sah nur noch einen Ausweg und hechtete auf die Balkontür zu.

    Doch sein Gegner erwies sich als flexibel. In einer einzigen Bewegung sprang er vom Boden in die Knie und setzte dem Minister mit weiten Schritten nach. Sung-Yong griff im Laufen nach einem Stuhl und warf ihn in Richtung seines Gegners. Dieser wich flink aus, indem er einen Sprung auf Bett machte und sich dann direkt wieder abstieß. Sung-Yong sah den fliegenden Angreifer näherkommen und fühlte sich an einen japanischen Ninja erinnert.

    Dieses Mal wurde der Minister überrumpelt. Sein Gegner prallte ihm seitlich in den Rücken und so wurde er unsanft auf den Balkon gestoßen. Wild mit den Armen rudernd prallte Sung-Yong gegen das Gitter, das bedrohlich quietschte. Der Minister zog sich schwer atmend an dem Geländer hoch und stolperte in die Ecke des Balkons. Auch dieses Mal hatte er Glück, denn sein Gegner ließ sein Schwert niedersausen und traf mit einem hellen Geräusch und einer solchen Wucht das Gitter, dass kleine Funken aufstoben.

    Rasch wandte sich der Unbekannte um und sah nun einen schweißüberströmten und stöhnenden Minister, der wie das Kaninchen vor der Schlange hockte. Sung-Yong blieben nur noch drei Möglichkeiten und er wollte jede von ihnen austesten.

    Er sprang vorwärts und versuchte sich unbeholfen an seinem Gegenüber vorbei zu drängen, doch dessen wuchtiger Fußtritt in seinem Magen bereitete dem verzweifelten Versuch ein rasches Ende. Sung-Yong taumelte ächzend zurück und wartete auf den finalen Schwerthieb, der aber noch nicht kam.

    Also wich er rasch auf Plan B aus. Er wollte mit dem Angreifer reden und ihn irgendwie hinhalten. Der ganze Krach war sicherlich nicht unbemerkt geblieben und es waren bestimmt schon Helfer auf dem Weg um ihm aus der ganzen Misere zu helfen.

    „Bitte töte mich nicht. Ich habe Frau und Kinder. Ich habe nie einer Menschenseele etwas getan. Ich bin doch nur im Auftrag meines Volkes unterwegs.“, begann Sung-Yong mit einem theatralischen Sermon, der ihn selbst anwiderte. Sein Ehrenkodex verbot es ihm eigentlich so um sein Leben zu betteln. Aber in solch einer Situation, in der es hart auf hart kam, wusste er sich nicht mehr anders zu helfen.

    Sein Gegenüber hatte für diese Floskeln kein Mitleid übrig. Er machte einen Ausfallschritt nach vorne und stieß dem Minister den Schwertknauf in den Solarplexus. Dieser beugte sich japsend nach vorne, wo ihn sofort das Knie des Gegners unter dem Kinn traf.

    Tausend Sterne schienen vor den Augen des Ministers zu explodieren und grausame Wellen des Schmerzes stachen wie glühenden Nadeln in seinen gesamten Körper. Seine Vorderzähne lösten sich mit einem Ruck aus seinem Mund und als er selbigen instinktiv wieder zumachte biss er sich auf die Zungenspitze und schmeckte sofort einen ekligen süßlichen Blutstrom. Sung-Yong spuckte einen Blutschwall und zwei Zähne aus und hob abwehrend die Arme. Durch einen Tränenschleier sah er, wie sein Gegner mit einer Hand nach seiner Pistole nestelte.

    Warum spielte der Gegner mit ihm und demütigte ihn? Warum machte er nicht kurzen Prozess mit ihm? Mit einem Mal wurde Sung-Yong wütend und frisches Adrenalin wurde durch seinen Körper gepumpt. Er stieß sich vom Geländer ab und trat dem Angreifer gegen die Hand, die gerade erst die Pistole mit dem Schalldämpfer gezückt hatte.

    Der Überraschungsangriff hatte dem Gegner nicht wirklich weh getan, doch er wurde dadurch so überrascht, dass er die Waffe fallen ließ, zwei Schritte nach hinten wich und in eine gebückte Abwehrstellung ging, die Sung-Yong an Taekwondo erinnerte.

    Das war genau das, was er sich erhofft hatte und was er benötigte, wenn er seine dritte und letzte Chance nutzen wollte. Denn dafür brauchte er Platz.    

    Sung-Yong wirbelte herum, nahm kurz Anlauf, zog sich am Balkongelände hoch und sprang dann in Richtung der Feuerleiter, die vielleicht zwei Meter entfernt vom Hoteldach bis in den Hinterhof verlief. Dabei schloss der Minister verkrampft die Augen und versuchte nicht nach unten zu blicken. Er litt unter Höhenangst und hatte es bislang in dieser extremen Situation noch geschafft, diese zu unterdrücken. Dieser innere Dämon war nun das letzte, was er in dieser lebensgefährlichen Situation gebrauchen konnte.

    Der Aufprall gegen die Feuerleiter raubte Sung-Yong den Atem. Er schürfte sich dabei sein linkes Knie auf, stieß sich den linken Brustkorb und prallte mit seinem blutigen Mund gegen das rostige Eisen. Irgendwie schaffte der Nordkoreaner es mit beiden Händen zuzugreifen, wobei der spröde Rost ihm die Finger aufschürfte. Einige wenige Augenblicke drohte die Wucht des Aufpralls Sung-Yong dennoch in die Tiefe zu stürzen, doch langsam gelangte er sein Gleichgewicht und seinen Orientierungssinn zurück und schwang sich zur Seite, um ein paar Sprossen zu ertasten.

    Sung-Yong überlegte rasch, ob er nach oben oder nach unten klettern sollte. Er befand sich im zwölften von fünfzehn Stockwerken. Er entschied sich auf das Dach zu klettern und dort nach einem Rückweg ins Innere des Hotels zu suchen. Wenn er sich auf den Weg nach unten machte, dann würde ihn der flinken Angreifer entweder rasch einholen oder ihn einfach in Ruhe vom Balkon aus wie einen dummen Vogel abschießen. Wenn der Minister die drei Stockwerker rasch genug erklomm, konnte er vielleicht sogar seinen Gegner von dort oben behindern. Dieser Gedanke spornte ihn zusätzlich an.

    Der Minister hatte gerade ein paar Sprossen erklommen, als die Feuerleiter unsanft durchgerüttelt wurde und bedrohlich quietschte. Panisch blickte Sung-Yong nach unten und sah die schwarze Gestalt unter ihm, die weitaus sanfter als er selbst gelandet war und geradezu die Feuerleiter hinauf zu gleiten schien. Nach wenigen Sekunden packte der flinke Angreifer das rechte Bein des Ministers, der mit dem anderen nach hinten in etwas Hartes trat. Er hörte seinen Gegner stöhnen und der Griff lockerte sich etwas, sodass der Nordkoreaner rasch ein paar Sprossen erklimmen konnte.

    Doch dann gerieten auf einmal beide Beine in die schraubstockartige Umklammerung des unnachgiebigen Gegners und drückten ihn in die Tiefe. Sung-Yong versuchte sich aus dem Griff zu befreien, doch dadurch geriet lediglich die Feuerleiter in Bewegung und fing an zu knirschen.

    Plötzlich löste sich mit hellem Geräusch eine Halterung direkt links oberhalb des Nordkoreaners aus der Verankerung. Grauer Putz rieselte auf ihn herab und die Feuerleiter schwankte leicht zur Seite. Verkrampft versuchte sich Sung-Yong an den Sprossen festzuhalten und schloss zitternd die Augen.

    Dabei bemerkte er kaum, wie sich der Griff um seine Beine löste und der mutige Angreifer neben ihm die Feuerleiter erklomm und plötzlich auf einer Höhe mit ihm war. Trotz der bedrohlichen Lage zog der Angreifer mit einer flüssigen Bewegung sein Schwert aus dem Schulterhalfter unter seinem Anzug und schlug damit nach dem Nordkoreaner, der sich so gerade noch auf die andere Seite der Leiter schwingen konnte. Die Klinge schlug sirrend gegen das Metall der Sprossen.

    Doch der Mann in schwarz wollte dem ungleichen Duell nun scheinbar ein schnelles Ende bereiten. Sein wuchtiger Kinnhaken traf den Nordkoreaner auch durch die Sprossen hindurch auf der anderen Seite. Der Hieb ließ ihn aufstöhnen und eine Hand von den Sprossen nehmen, um sich instinktiv das Blut von dem geschundenen Mund zu wischen.

    Diesen kurzen Moment der Unachtsamkeit nutzte der unbekannte Angreifer aus, indem er sich auf die andere Seite der Feuerleiter schwang und seine Klinge in die ungeschützte Seite des Ministers rammte. Mit einem schmatzenden Geräusche bahnte sich die Klinge einen blutigen Weg durch das Fleisch. Tief in den Körper hinein bohrte der Angreifer das Jin Gum, um es danach mit einer ruckartigen Bewegung wieder aus dem Gegner herauszuziehen.

    Sung-Yong blickte ungläubig auf die klaffende Wunde unterhalb seines Bauches, als sich auch schon der nächste Streich in seinen ungeschützten Hals bohrte. Der Nordkoreaner spürte wie eine warme, dickflüssige Substanz in Strömen aus seiner Wunde spritzte. Zunächst geschah dies fontänenartig und benetzte die weißgraue Fassade des Hotels, die rostbraune Feuerleiter und die schwarze Kleidung des mysteriösen Mörders. Danach wurde dieser Strom langsamer und unregelmäßiger. Sung-Yong hielt sich nur noch mit einer Hand an der Feuerleiter fest und alles um ihn herum schien sich wie im Karussell zu drehen.

    Der Nordkoreaner dachte erneut an seine Disziplin und versuchte sich trotz des enormen Blutverlustes und der unvorstellbaren Schmerzen auf etwas zu konzentrieren. Er blickte in das Gesicht seines Mörders, das zwar unter einer Kapuze verborgen lag, aber nun ihm hellen Schein des Mondes, der sich soeben seinen Weg durch eine graue Wolkendecke gebahnt hatte, klar sichtbar wurde. Sung-Yong sah, dass er es mit einem jungen Mann zu tun hatte, dessen Gesicht ebenmäßig und ausdruckslos vor ihm lag. Der Angreifer hatte zudem ganz eindeutig koreanische Züge. Lediglich in seinen schmalen Augen loderte ganz kurz eine gefährliche Flamme, als der Mann in schwarz seinem Gegner einen wuchtigen Tritt in den Unterleib gab.

    Sung-Yong stöhnte auf und schaffte es nicht mehr sich mit einer Hand an der Feuerleiter festzuhalten und stürzte wie in Zeitlupe in die Tiefe. Blut rann über seine Lippen und ein fast schon apathisches und mattes Schimmern hatte sich in seinen Blick gelegt, als er durch die kalte Nachtluft dreizehn Stockwerke in die Tiefe stürzte.

    Weit über sich sah er noch die dunkle Gestalt, die wie ein unheilbringender Kolkrabe auf der lädierten Feuerleiter hockte und ihm emotionslos nachblickte.

    „Bruder!“, stöhnte Sung-Yong noch. Dann raubte ihm der brutale Aufschlag auf den uneben gepflasterten und geteerten Hinterhof alle Sinne und hüllte ihn in ewige Dunkelheit ein.

     

    *

     

                    Park Gwang-Jo wurde von einem andauernden Krachen und Rumpeln geweckt und steckte seinen Kopf zunächst noch tiefer in seine Kissen. Doch es nützte wenig, denn der Lärm ging weiter und an Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Der Wissenschaftler versuchte sich auf den Lärm zu konzentrieren. Fast klang es so, als würde jemand im Nebenzimmer einen Actionfilm gucken. Oder ein Handwerker oder Hausmeister reparierte irgendetwas und ging dabei nicht sonderlich behutsam vor. Vielleicht trieb auch jemand neckische Sexspielchen mit einer der zahlreichen Prostituierten, die von der Hafengegend zum Hotel kamen und von reichen Reisenden ein wenig Geld verdienen wollten. All diese Dinge gingen Park Gwang-Jo durch den Kopf, doch mit einem Mal stockten seine Gedanken und er schreckte von seinem Bett hoch.

                Dem Wissenschaftler fiel siedend heiß ein, dass nicht irgendwer im Nebenzimmer wohnte, sondern der hochrangige Minister Choi Sung-Yong. Park Gwang-jo kannte dessen Vorliebe für harten Alkohol, leichte Frauen und riskante Wettspiele, aber eigentlich war Minister Choi Sung-Yong eher ein ruhiger Zeitgenosse. Wenn er sich etwas amüsierte, dann an der Hotelbar, in einer nah gelegenen Spielothek oder im schäbigen Hafenviertel, aber nicht in seinem Hotelzimmer. Die Gefahr, dass der strenge Botschafter, der sie begleitete, einen Bericht über ein mögliches Fehlverhalten im Ausland an Pjöngjangs höchste Kreise adressieren würde, war ebenfalls recht hoch und niemand aus der Reisegruppe wollte zukünftig auf die privilegierten Auslandsreisen verzichten oder gar bei dem Regime in Ungnade fallen.

                Wenn der Krach also nicht auf irgendwelche Orgien des Zimmernachbars zurückzuführen war, was konnte dann dahinter stecken?

                Der Wissenschaftler rappelte sich verschlafend gähnend auf und schlich behutsam zur abgeschlossenen Tür, welche die beiden Hotelzimmer voneinander trennte. Dann lauschte er behutsam und runzelte angestrengt die Stirn. Der Lärm aus dem Nebenraum war verklungen.

                Park Gwang-jo war aber von Natur aus ein misstrauischer und vorsichtiger Mensch. Auf der anderen Seite wollte er auch nicht einfach ins Zimmer des Ministers platzen, falls er mit seinem Verdacht doch falsch lag und dieser sich  mit irgendwelchen Prostituierten im Hotelbett amüsierte.

                Daher wählte der schrullige Mitfünfziger eine andere Herangehensweise. Er zog sich rasch an, trat dann vorsichtig in den verlassenen Hotelflur, ging zur Tür des Nachbarn und klopfte zunächst einmal leise an.

                Kaum hatte seine Faust die Zimmertür berührt, da gab diese auch schon nach und schwang nach innen. Park Gwang-jo brach der Angstschweiß aus und er atmete flach durch den Mund. Sein schrecklicher Verdacht bestätigte sich, als er vorsichtig ins Hotelzimmer des Ministers blickte.

                Dort herrschte ein heilloses Chaos. In der Mitte der Badezimmertür befand sich ein großes Loch, das dort vermutlich irgendeine Waffe gewaltsam eingefügt hatte. Im Bereich des Schlafzimmers waren einige Stühle achtlos umgestoßen worden. Die Bettdecken waren zerwühlt oder eher zertrampelt, so als ob jemand darüber gelaufen wäre. Die Tür zum Balkon stand auf und ein schneidend kalter Wind hatte Einzug gehalten.

                Park Gwang-jo rechnete mit dem schlimmsten. War sein Zimmernachbar ausgebeutet worden? Hatte man ihn vom Balkon gestoßen? War er womöglich gar entführt worden? Wer konnte dahinter stecken? Vielleicht war es der südkoreanische Geheimdienst. Möglicherweise hatten ihre russischen Handelspartner sie auch übers Ohr gehauen. Vielleicht war der Minister auch intern von jemandem aus der nordkoreanischen Delegation beseitigt worden, weil er zu viel über das neue Abkommen wusste oder sich in irgendeiner Weise der Regierung gegenüber despektierlich verhalten hatte. Dann kam Park Gwang-jo aber noch ein andere Gedanke, der ihm durch Mark und Bein ging und geradezu das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mit einem unangenehmen kalten und tiefen Kribbeln im Nacken dachte er daran, dass der unbekannte Täter sich vielleicht bei der Zimmertür vertan hatte und es in Wirklichkeit eigentlich auf ihn abgesehen hatte. Der Minister hatte auf seine Bitte hin nämlich bei ihrer Ankunft das Zimmer mit ihm getauscht. Der Wissenschaftler hatte ein etwas geräumigeres Zimmer mit besserem Blick haben wollen, wo er in seiner wenigen Freizeit ungestört an seinen Memoiren arbeiten wollte.

                Der Instinkt sagte dem Wissenschaftler, dass er sich sofort auf dem Absatz umdrehen und fliehen sollte. Am besten sollte er seine anderen Begleiter wecken und Alarm schlagen. Vielleicht war es sogar das Beste, die lokalen Behörden zu verständigen, bevor es noch zu diplomatischen Missverständnissen kommen würde. Dann aber dachte er daran, dass eine ängstliche Flucht ihn wie einen erbärmlichen Schwächling aussehen lassen würde. Er würde sich nicht nur zum Gespött seiner Begleiter machen, sondern möglicherweise auch wegen seines unehrenhaften Vorgehens bei der Regierung in Ungnade fallen. Dann dachte er auch daran, dass der unbekannte Täter noch irgendwo in der Nähe sein konnte. Vielleicht war Park Gwang-jo der einzige, der ihn noch stellen oder wenigstens zu Gesicht bekommen konnte. Nur er konnte jetzt Licht ins Dunkel bringen und herausfinden, was mit dem Minister wirklich geschehen war.

                Park Gwang-jo gefielen diese Gedankengänge überhaupt nicht, doch er hatte längst eine Entscheidung getroffen. Ein so renommierter Wissenschaftler wie er wollte sich nicht für den Rest seines Lebens als Feigling abstempeln lassen. Er wollte zumindest nachsehen, ob er seinen Zimmernachbarn oder den Täter irgendwo erspähen konnte.

                So trat der Wissenschaftler langsam auf den Balkon zu, auf dem irgendetwas passiert sein musste. Offensichtlich war in dem Hotelzimmer eingebrochen worden und es hatte sich ein Kampf zugetragen. Da sein Nachbar es wohl kaum an dem Eindringling vorbei in den Flur geschafft hatte und ebenfalls nicht durch die Zwischentür in sein Zimmer gekommen war, bestand nur die Möglichkeit, dass er in Richtung des Balkons getrieben worden war. Zudem führte die Schneise der Zerstörung eindeutig dorthin.

                Der Wissenschaftler setzte zitternd einen Schritt vor den anderen, umging nervös schwitzend die umgestoßenen Stühle und trat dann geräuschvoll räuspernd auf den Balkon. Schwarz lag die unheilvolle Nacht vor ihm und leichter Schneefall hatte selbst Ende April wieder eingesetzt und blockierte ihm ein wenig die Sicht.

                Behutsam trat er an das lädierte Gitter und warf einen unsteten Blick in die Tiefe des Hinterhofes, als ihn ein seltsam quietschendes Geräusch ablenkte. Park Gwang-jo blickte instinktiv zurück in das Hotelzimmer und dann zur Seite, doch die Gefahr kam von schräg oben auf der Feuerleiter.

                Ein schwarzer Schatten stürzte auf den rüstigen Wissenschaftler, der von dem brutalen Zusammenstoß gegen das instabile Balkongitter gestoßen wurde und unter dem Gewicht des Gegners überrascht aufschreiend in die Knie ging. Einen Moment lang befürchtete der Wissenschaftler, dass dies sein Ende sei und dass der baufällige Balkon unter dem Gewicht der beiden einfach nachgeben würde. Aber zu seinem Erstaunen hielten sowohl der Balkon als auch das Gitter den Zusammenstoß aus.

                Park Gwang-jo spürte ein unangenehmes Stechen in den Rippen und einen gleißenden Schmerz in seinem linken Knie. Doch dies war erst der Beginn der Leidenszeit für ihn. Der mysteriöse schwarze Schatten war deutlich agiler und ausdauernder als er selbst. Zunächst rappelte sich sein Gegner in rasender Schnelle wieder auf, drückte sein Knie in die Magengrube des Wissenschaftlers und deckte dessen ungeschütztes Gesicht mit heftigen Hieben ein, die abwechselnd von rechts und links kamen. Dabei rutschte dem Wissenschaftler die runde Brille von der Nase und wurde von seinem Gegner mit einem gelenkigen Fußtritt vom Balkon gefegt. Zwölf Stockwerke tiefer hörte man nur noch ein unbedeutendes leises Klirren.

                Gwang-jo sah seinen Gegner nur noch als verschwommene Gestalt, denn ohne seine Brille war er extrem weitsichtig. Zudem hatte er hilflos zitternd die Arme hochgerissen, sein ganzes Gesicht wirkte seltsam angeschwollen und auch die Schmerzenstränen verklärten seinen Blick. Gwang-jo konnte nicht einmal sagen, wer ihn da so rüde attackierte.

                Die Gegenwehr des Wissenschaftlers war auf ein Minimum gesunken und er hatte mit seinem Leben beinahe schon abgeschlossen, als die Schläge seines Gegners plötzlich abbrachen. Die Tortur war Gwang-jo wie eine Stunde vorgekommen, in Wirklichkeit war aber höchstens eine Minute vergangen. Der Nordkoreaner hörte zunächst nur das Rauschen des Blutes in seinen Ohren, bis er eine polternde Männerstimme vernahm. Er brauchte eine Weile um zu realisieren, dass hier nicht sein Gegner zu ihm sprach, sondern dass der ganze Lärm irgendeinen anderen Bewohner des Hotels geweckt hatte, der nun seinem Unmut freien Lauf ließ.

                Park Gwang-jo merkte wie sich die harte Umklammerung des Gegners kurz lockerte und blickte angestrengt an seinem Gegner vorbei. Eine Etage und schräg rechts über ihnen tobte ein zerzaust wirkender Russe mit einer leicht bekleideten Dame auf seinem Balkon und hatte die beiden Kämpfer offensichtlich noch nicht entdeckt, weil er dafür einfach schon zu betrunken war.

                Scheinbar wollte die mörderische Schattengestalt auch weiterhin unentdeckt bleiben, denn sie sprang kurz auf und blickte nervös nach oben. Dabei hatte sich die Gestalt so abgedreht, dass der Wissenschaftler wieder nicht das Gesicht seines Peinigers erspähen konnte.

                Dieser wollte nun scheinbar kurzen Prozess mit ihm machen. In einer flüssigen Bewegung ging das Phantom in die Knie und holte in einer wuchtigen Drehung zu einem kraftvollen Kinnhaken aus, der sämtliche Sterne unter der Schädeldecke des Wissenschaftlers explodieren ließen. Dabei biss der behäbige Intellektuelle sich auch noch auf die Zunge und seine beiden oberen Vorderzähne wurden erbarmungslos heraus gerissen. Der Rest der Welt versank nun völlig in den grellen Farben des Schmerzes.

                Park Gwang-jo sah nur noch schemenhaft, dass sein Gegner aufsprang und wie ein Geist geradezu ins Hotelzimmer flog und mit diesem irgendwann verschmolz. Dann hörte Gwang-jo nur noch das lärmende Grölen des immer noch ahnungslosen Proleten und das dämliche Kichern seiner oberflächlichen Begleiterin über ihm, die ihm vielleicht unbewusst das Leben gerettet hatten. Dann betäubte eine gnädige und tiefe Bewusstlosigkeit die sich in immer schnelleren Spiralen drehende Welt aus Schmerz. So lag der Wissenschaftler zusammengekauert wie ein hilfloser Embryo auf einem Balkon im siebten Stockwerk eines schäbigen Hotels und wurde langsam bis in die Morgenstunden von einer weichen weißen Schneedecke eingebettet.

     

    *

     

    Sergej und Vitali saßen am Bahnhof von Murmansk und hingen ihren Gedanken nach. Sergej las einen russischen Science-Fiction-Roman und rauchte eine finnische Zigarettenmarke. Vitali schaute sich auf der Anzeige seiner Spiegelreflexkamera noch einmal die Aufnahmen an, die er in den letzten Tagen gemacht hatte und trank dabei eine kleine Flasche Kwas. Beim Durchklicken der Bilder kamen viele unheimliche Erinnerungen zurück, die Vitali immer noch nicht so richtig einordnen konnte.

    Sein Freund und Kollege Sergej und er waren von Sankt Petersburg nach Murmansk aufgebrochen um bei einer Ausgrabung von Sergejs Bruder Boris dabei zu sein. Ihre Reise hatte schon unter keinem guten Stern gestanden, als Sergejs Lada schlapp gemacht hatte und sie per Anhalter mit einem Lastkraftwagenfahrer namens Piter weiterfahren mussten. Am ersten Wirtshaus in einem Außenbezirk von Murmansk wären sie dann beinahe Opfer einer Brandstiftung und einer Schießerei geworden, als ein Jugendlicher ganz offensichtlich mehrere Archäologen vertreiben oder gar umbringen wollte. Dieser Jugendliche kam aus einem völlig abgeschiedenen Dorf, das von einem brutalen Schamanen und einer kalten Waisenhausleiterin tyrannisiert wurde. Die Dorfbewohner waren gegen die Ausgrabungen, weil sie dort die Stätte einer unheilvollen Gottheit aus dem Eis vermuteten. Als Sergej und Vitali an der Ausgrabungsstätte ankamen, hatten dort zwei weitere jugendliche Kriminelle sowie der Schamane und sein Leibwächter eine Schneise der Verwüstung angerichtet. Tatsächlich war dann ein seltsames Wesen aus den Katakomben gekommen, das auf dem ersten Blick einem Eisbären nicht unähnlich gewesen war. Allerdings war dieses Monstrum weitaus gigantischer gewesen und hatte nur auf Tod und Vernichtung gesonnen. Vitali hatte bald realisiert, dass es sich bei diesem Wesen nicht um ein wildes Tier, sondern um eine dämonische Mutation handelte. Das Agnus Dei, das er vor wenigen Tagen erst von einem Mönch in Sankt Petersburg erhalten hatte, hatte auf die Präsenz der schwarzen Magie reagiert und Vitali hatte das Monster vertreiben können, bevor es in einer tragischen Explosion völlig auseinandergefetzt und verschüttet wurde. In den darauffolgenden Tagen waren Sergej und Vitali mehrmals in das abgeschiedene Dorf gekommen, das eine unheimliche Ausstrahlung auf sie hatte. Das Militär hatte die streckenweise schrulligen Dorfbewohner inzwischen vorübergehend in der Umgebung von Murmansk untergebracht und mit Hilfe vieler Sozialarbeiter und Psychologen eine Art Resozialisierungsprogramm in die Wege geleitet. Die archäologischen Ausgrabungen waren hingegen einstimmig abgebrochen worden. Boris war gestern Abend nach all den unfassbaren Ereignissen fast schon überhastet aufgebrochen um einen Kollegen bei einer Ausgrabung am Onegasee im Oblast Karelien zu unterstützen.

    Sergej und Vitali hatten noch einige Fragen des Militärs beantworten müssen, hatten eine Artikelserie über das Resozialisierungsprogramm der Dorfbewohner abgewickelt und noch jede Menge Landschaftsaufnahmen gemacht. Sergejs Chefredakteur war von der Artikelreihe hellauf begeistert gewesen. Da Vitali seit seinem Umzug von Moskau nach Sankt Petersburg noch keine Arbeit gefunden hatte, war ihm die Beteiligung an dieser Artikelserie durchaus wichtig und tatsächlich hatte Sergejs Chefredakteur vorgeschlagen, dass man sich ja mal zu dritt treffen könnte. Vitali hoffte, dass er bald einer regelmäßigen Arbeitstätigkeit nachgehen konnte. In den Medien war das geheimnisumwobene Thema der seltsamen Dorfbewohner jedenfalls eine absolute Sensation. Die Wahrheit um die Gottheit aus dem Eis wussten jedoch nur diejenigen, die den unvorstellbaren Ereignissen damals beigewohnt hatten.

    Sergejs Chefredakteur hatte den beiden angeboten noch zwei weitere Wochen in Murmansk zu bleiben, für alle Spesen aufzukommen und sie beide großzügig zu entlohnen, aber die beiden hatten das Angebot nach kurzem Überlegen ausgeschlagen. Auf der gesamten Umgebung lag eine drückende Stimmung und beide wollten so schnell wie möglich wieder zurück nach Sankt Petersburg. Sergejs Lada war abgeschleppt und in eine Werkstatt nach Murmansk gebracht worden, aber zur Reparatur bedurfte es neuer Ersatzteile aus Toljatti, deren Lieferung sich über Wochen hinziehen konnte. Sergej hatte mit seinem Chefredakteur einen Kompromiss gefunden. Vitali und er durften zurück nach Sankt Petersburg und die Überfahrt des reparierten Ladas würde ebenfalls bezahlt werden, wenn die beiden eine Woche lang an einer Fernsehsendung teilnehmen und exklusiv über ihre Erlebnisse vor Ort in Murmansk berichten würden. Eigentlich wollten beide die schrecklichen Ereignisse so schnell wie möglich hinter sich lassen, aber sie hatten dann doch zähneknirschend zugestimmt und kurz darauf hatte man ihnen zwei Tickets für eine Reise in der ersten Klasse der Murmanbahn von Murmansk nach Sankt Petersburg zukommen lassen.

    Jetzt warteten die beiden Journalisten darauf, dass der Zug abfahrtbereit war. Er war zwar schon in den Bahnhof eingefahren, aber es mussten noch einige Abteile angekoppelt und gewartet werden. In zwanzig Minuten wollten die beiden einsteigen und zwanzig Minuten später würde es dann mit etwas Verspätung los gehen. Vitali war noch nie dreißig Stunden lang Zug gefahren, doch irgendwie freute er sich darauf. Er hoffte inständig, dass er sich bei der langen Fahrt ein wenig ablenken und auch etwas entspannen konnte.

    Auf einmal stieß Sergej seinen Freund und Kollegen an und nickte in Richtung einer breiten Treppe, die ins Bahnhofgebäude führte. Dort kam ein Mann mit schon leicht angegrautem Haar, der überaus elegant angezogen war und mit seinem aufrichtigen Lächeln einfach sympathisch wirkte. Begleitet wurde er von einer etwas korpulenteren, aber durchaus attraktiven und ebenso herzlich wirkenden Dame. Die beiden hatten Sergej und Vitali gerade erspäht, hoben die Hand zum Gruß und kamen mit weiten Schritten auf sie zu.

    Vitali stand freudig auf und ging mit offenen Armen auf den Polizisten Mitrofan und die Wirtin Margartita zu. Die vier begrüßten sich äußerst herzlich.

    „Das ist aber nett, dass ihr gekommen seid, um euch zu verabschieden.“, bedankte sich Vitali artig, doch Mitrofan schüttelte triumphierend den Kopf.

    „Nein, meine Freunde, es kommt noch viel besser. Nach den ganzen Ereignissen hat man mich zum Rapport nach Moskau bestellt und mir tatsächlich eine Reise mit der Murmanbahn und einem Anschlusszug in Sankt Petersburg spendiert. Ich habe die Herren vom Inlandsgeheimdienst FSB sogar davon überzeugen können noch ein zweites Ticket zur Verfügung zu stellen.“, erklärte Mitrofan und warf Margarita ein charmantes Lächeln zu, was diese leicht erröten ließ.

    „Nun ja, nach dem Stress der letzten Tage brauche ich ohnehin etwas Ablenkung. Meine Cousine Diana übernimmt für die nächsten beiden Wochen das Gasthaus.“, erklärte die bodenständige Wirtin und konnte sich selbst ein Lächeln nicht mehr verkneifen.

    Vitali freute sich für die beiden. Es war ein offenes Geheimnis, dass die beiden sich mehr als nur sympathisch fanden und Vitali fand, dass die beiden einfach perfekt zueinander passten, obwohl vermutlich gut zwanzig Jahre zwischen ihnen lagen. Margarita war vielleicht Mitte dreißig, Mitrofan hingegen bestimmt fast sechzig Jahre alt.

    Mit einem Mal verfinsterte sich Mitrofans Miene, als er eine Reisegruppe etwas abseits von ihnen im hinteren Bereich des Bahnhofs erblickte. Vitali folgte seinem Blick und sah eine Gruppe Koreaner, die mit zwei Russen etwas abseits standen und dabei seltsam ernst wirkten und sich scheinbar bewusst von den übrigen Reisenden abschotteten. Mitrofan hob die Augenbrauen, legte seine Stirn in Falten und blickte angestrengt über seine Brille hinweg zu der Gruppe hinüber.

    „Was hast du denn? Magst du kein Kimchi oder warum guckst du so kritisch?“, fragte Sergej und versuchte die Stimmung aufzuheitern.

    „Es gefällt mir nicht, dass dieses Grüppchen mit uns reist.“, gab Mitrofan knapp zurück.

    „Vom Verhalten her wirken sie auf mich wie ein paar verklemmte Geschäftsmänner oder Politiker.“, analysierte Vitali.

    „Es handelt sich um eine Delegation aus Nordkorea. Die Herren haben im selben Hotel genächtigt, in dem man auch mich untergebracht hatte. Heute Morgen gab es ziemlich große Aufregung. Einer der Mitreisenden ist spurlos verschwunden und als ein weiterer Mitreisender nach dem Verschwundenen suchen wollte, wurde dieser im Hotelzimmer des Verschollenen bewusstlos geschlagen.“, berichtete Mitrofan knapp.

    „Ich schätze mal, da hat jemand von der Reise in den Westen profitiert um sich abzusetzen. Wahrscheinlich hat der Kerl einfach seinen Bewacher niedergeschlagen und sitzt jetzt schon irgendwo in einem Bus im Norden Finnlands oder Norwegens.“, schätzte Vitali.

    „Warum sollte einer aus den privilegiertesten Kreisen Pjöngjangs sich in den Westen absetzen? Damit bringt er höchstens alle seine Freunde und seine gesamte Familie in Gefahr. Die nordkoreanische Regierung entsendet nur die treuesten Vertreter ihrer Regierung. Ich denke, dass da irgendwer einen Anschlag oder eine Entführung angezettelt hat.“, erläuterte Mitrofan besonnen.

    „Vielleicht sollten wir den nächsten Zug morgen früh nehmen.“, warf Sergej nach einigen Minuten unangenehmen Schweigens ein.

    „Jetzt habt euch nicht so! Es wird wohl kaum jemand einen prall gefüllten Reisezug entern und dort Angst und Schrecken verbreiten. Ich möchte jedenfalls nicht noch einen Tag länger in dieser sinisteren Stadt bleiben.“, hielt Vitali dagegen.

    Mitrofan reagierte auf den Einwand nicht und starrte weiter in die Richtung der Reisegruppe. Margarita folgte dem sorgenvollen Blick ihres Begleiters, während Sergej ratlos die Schultern hob. Die anfänglich so gute Stimmung hatte auf einmal umgeschlagen und niemand wollte eine Entscheidung für alle treffen.

    Diese wurde ihnen abgenommen, als ein schriller Pfeifton ertönte und der inzwischen zusammengekoppelte Zug schwer schnaufend vorfuhr. Es herrschte jede Menge Betrieb am Bahnhof, wo erstaunlich viele Pagen, Polizisten, Schaffner und Soldaten patrouillierten. Ein besonders herausgeputzter, eifriger und junger Page kam strahlend auf sie zu und schielte gierig auf ihre Gepäckstücke, die er zum Zug bringen wollte, wobei er sich wohl ein großzügiges Trinkgeld ausmalte.

    „Ach, was soll es. Bei so vielen Polizisten und Soldaten wird ums wohl kaum etwas passieren.", sprach Vitali Seine Gedanken laut aus, doch mit den Erinnerungen an die vergangenen Tage wirkte es eher so, als könne er sich selbst kaum mit seinem eigenen Zweckoptimismus überzeugen. Sie alle hatten gelernt, dass das Unmögliche möglich werden konnte und man immer auf das beste hoffen, aber auf das schlimmste gefasst sein musste.

     

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    Die vier Russen hatten sich ein gemütliches Viererabteil gefunden. Die Ledersitze waren zwar etwas alt und verblichen, aber durchaus gemütlich. Die Fenster waren leicht blind, aber im oberen Bereich hatte man dennoch einen exzellenten Blick nach draußen, wo gerade die vorgelagerten Bahnhofsgebäude und einige alte Lagerhallen vorbeizogen. Vitali freute sich wie ein kleines Kind, dass es jetzt wieder in seine neue Heimat ging. Er freute sich auf ein paar Tage der Ruhe und der Entspannung und vor allem auch auf ein Wiedersehen mit seiner Freundin Eva Maëlle Lavoie. Ein Lächeln stahl sich bei den wärmenden Gedanken auf sein Gesicht.

                Da wurde die Tür zu ihrem Zugabteil plötzlich aufgerissen und zwei kräftige Typen traten ungebeten ein. Allerdings handelte es sich dabei nicht etwa um Schaffner oder Soldaten, sondern um einen Koreaner, der die vier Insassen gar nicht weiter beachtete und ungebeten an die Gepäckablagen über ihren Sitzen heranging und diese mit groben Griffen und kalten Blicken kontrollierte.

                Der fast schon kämpferisch angezogene Asiate, der weite traditionelle Kleidung trug, stand im krassen Kontrast zu dem edel gekleideten Russen, der dem Treiben mit verschränkten Armen zusah und dessen arrogantes Lächeln förmlich ins Gesicht eingemeißelt schien.

                Vitali wollte schon protestieren, biss aber die Zähne zusammen und zog es vor die beiden seltsamen Eindringlinge nicht zu provozieren. Sein Freund Sergej war hingegen weitaus heißblütiger und richtete sich wutentbrannt auf. Da ihn der Koreaner geflissentlich übersah, wandte er sich an den aalglatten Russen.

                „Was hat das zu bedeuten? Warum durchsuchen Sie uns? Mit welchem Recht nehmen Sie sich das heraus?“, wollte Sergej schnaubend wissen und Vitali gab ihm einen leichten Tritt gegen das Schienbein, um ihn zur Vernunft zu bringen. Er hatte keine Lust in irgendeine Auseinandersetzung mit Nordkoreanern und ihrer Begleitung zu geraten. Vor allem nicht nach der Geschichte, von denen Mitrofan ihnen vor einer guten halben Stunde berichtet hatte.

                „Keine Angst, meine Dame und meine Herren. Das geschieht alles nur zu Ihrer eigenen Sicherheit. Sie wollen sich doch nicht etwa den Routineuntersuchungen zum Wohle aller Reisender entgegenstellen und sich somit selbst zur potenziellen Gefahrenquelle machen, oder?“, fragte der schmierige Russe mit einem falschen Grinsen, wobei er seine letzte Frage mit einer klirrenden Kälte und einem starren Blick aus kaltblauen Augen vorgetragen hatte.

                Sergej antwortete nichts und blickte grimmig in die Runde. Der Russe grinste weiterhin breit und blockierte den Weg nach draußen. Mitrofan blickte betreten auf seine Fußspitzen. Margarita drückte sich ganz eng ans Fenster und starrte verkrampft auf die trostlosen Plattenbauten der Vororte von Murmansk. Vitali blickte einfach ins Leere. Der Asiate ignorierte sie alle auch weiterhin und öffnete soeben den kleinen Koffer Margaritas. Die Stimmung in dem kleinen Abteil war drückend unangenehm. Sergej setzte sich wie in Zeitlupe wieder hin und sah, wie der schmierige Russe zufrieden nickte. Am liebsten hätte Sergej ihm das Lächeln mit den Fäusten aus dem Gesicht geschlagen, aber er wollte niemanden unnötig in Gefahr bringen.

                „Meine Dame und meine Herren, wenn Sie nun bitte der Reihe nach aufstehen würden, könnten wir sie kurz durchsuchen. Danach gehen wir getrennte Wege und genießen unsere lange Reise.“, schlug der Russe vor und sprach dabei in einem überfröhlichen Tonfall zu ihnen, den manche Erwachsene gerne bei Hunden oder kleinen Kindern anwandten, was Vitali schon immer gehasst hatte.

                Vitali ergab sich seinem Schicksal und wurde routinemäßig von dem schweigsamen Koreaner abgeklopft. Der Journalist holte sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche, sowie auch seine Haustürschlüssel und sein Sonnenbrillenetui. Dem arroganten Russen fielen noch die Kamera und das Agnus Dei auf, die beide um den Hals des Journalisten hingen.

                „Sind Sie von einer Sekte oder so?“, fragte der Russe mit herablassenden und grenzdebilen Tonfall.

                „Nein, ich bin ein ganz gewöhnlicher orthodoxer Christ. Ich glaube an einen gütigen Gott. Ich brauche keinen schwergewichtigen Führer, der mich unterjocht und mir befielt, was ich zu tun und zu lassen habe.“, konnte sich Vitali nicht verkneifen zu sagen.

                Für einen Moment blickte der schweigsame Asiate Vitali ganz fest und kalt in die Augen. Er sagte kein Wort, doch Vitali wusste auf Anhieb, dass die beiden von nun an Todfeinde sein würden. Mit seiner unbeherrschten Aussage hatte er einen absoluten Frevel begangen. Erst nach einigen Sekunden wandte sich der Koreaner ab und klopfte nun auch Sergej mit festen Griffen ab.

                „Pack mich nicht so an, das kannst du mit deinen Freunden in der Sauna machen, wenn es in eurem Drecksloch so etwas gibt.“, zischte nun  auch Sergej unbeherrscht und die Stimmung drohte nun vollends zu kippen.

                „Passt besser genau auf, was ihr so sagt. Ihr könntet es irgendwann einmal bereuen.“, drohte der schmierige Russe mit klirrender Stimme und trat ein wenig weiter ins Abteil hinein.

                Der schweigsame Asiate packte Sergej noch fester und mechanischer an und ließ erst nach zwei Minuten von ihm ab. Danach war Mitrofan an der Reihe, der sich bereits demonstrativ erhoben und die Arme erhoben hatte. Dadurch fiel der Blick aller Beteiligten direkt auf seine Dienstwaffe.

                „Nanu, Opa, was haben wir denn da? Wem hast du die denn abgenommen?“, fragte der einschüchternde Russe spöttisch.

                „Ich bin Polizist.“, erwiderte Mitrofan knapp, aber nicht ohne Stolz.

                „Klar doch und ich bin Doktor Schiwago.“, gab der Andere spöttisch zurück, doch da hatte Mitrofan bereits seine Papiere gezückt und hielt sie dem Russen knapp unter die Nase, wobei er den unheimlichen Koreaner geflissentlich ignorierte.

                „Hör mal Opa, du bist hier gewiss nicht im Einsatz. Du kannst wahrscheinlich nicht einmal mehr richtig mit so einer Knarre umgehen, du gehörst doch zum alten Eisen. Die kannst du uns schön abgeben und am Ende der Reise kriegst du sie wieder.“, schlug der Russe respektlos vor und es war eindeutig, dass dies weniger ein Ratschlag, als ein drohender Befehl war. Doch Mitrofan konnte wieder überraschend kontern.

                „Ich bin gewissermaßen auf Dienstreise. Der FSB hat mich zum Rapport bestellt. Ich bin einer der leitenden Ermittler im Fall der Aushebung des isolierten Dorfes bei Murmansk gewesen, bei der es auch einige Todesfälle gegeben hat. Ich habe Kontakte bis in die höchsten Kreise in Moskau und Umgebung. Und glauben Sie mir, ich werde alle meine Kontakte spielen lassen, um herauszufinden wer Sie beide sind, damit Sie für Ihre unverschämten Drangsalierungen entsprechend gemaßregelt werden.“, gab Mitrofan mit klarer und fester Stimme zurück und sah wie sein Gegenüber momentan erbleichte.

                Der Asiate tat so, als würde er die gesamte Diskussion überhören und bat mit einem unwirschen Handzeichen nun die verängstigte Margarita sich zu erheben. Da legte sich Mitrofans Hand auf die breite Schulter des Asiaten.

                „Das werden Sie jetzt schön lassen und alle beide aus unserem Abteil verschwinden.“, knurrte Mitrofan drohend und entsicherte mit einer erstaunlich schnellen Bewegung seine Dienstwaffe.

                Der Asiate harrte seelenruhig aus und blickte Mitrofan eisig in die Augen ohne auch nur ein Wort zu verlieren oder sich irgendwie beeindruckt zu zeigen. Er schien viel mehr zu lauern und auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Sein russischer Begleiter hingegen wollte es nicht aufs Ganze gehen lassen und war von Sekunde zu Sekunde erst zornesrot, dann kreidebleich im Gesicht geworden. Der Asiate blickte ihn erwartungsvoll an und schließlich wog der Russe seinen Kopf zur Seite.

                „In Ordnung, lass uns gehen.“, sagte er zu dem Koreaner, der die Entscheidung emotionslos hinnahm und von weiteren Durchsuchungen Abstand nahm, um still aus dem Abteil herauszutreten.   

                Der schmierige Russe konnte sich im Angesicht seiner Niederlage einen gehässigen Kommentar jedoch nicht verkneifen.

                „Wenn einer von euch uns auch nur in irgendeiner Weise während dieser Fahrt in die Quere kommt, dann werde ich weniger besonnen als jetzt reagieren.“, knurrte der kräftige Russe und schloss wuchtig die Abteiltür, um die nächsten Gefangenen zu schikanieren.

                Margarita, Mitrofan, Sergej und Vitali fühlten sich, als seien sie im falschen Film gelandet und setzen sich benommen hin. Margarita schluchzte dabei ängstlich und Mitrofan klopfte ihr beruhigend auf die Knie. Vitali und Sergej blickten sich grimmig an und besonders letzteres schnaubte verächtlich.

                „Ich hatte doch gesagt, dass wir besser den morgigen Zug genommen hätten.“, stellte er fest und dieses Mal wiedersprach ihm niemand mehr. 

     

    *

               

    Nach dem stressigen Zusammentreffen brauchte Sergej erst einmal eine kurze Zigarettenpause. In der Nähe des Speisewaggons gab es eine kleine Aussichtsplattform, wo man in Ruhe rauchen, an die frische Luft gehen und ein paar Landschaftsbilder machen konnte. Sergej kniff die Augen im wirren Schneegestöber zusammen und fluchte über die nasskalte Temperatur. Nicht einmal das Rauchen machte ihm auf dieser elenden Murmanbahn mehr Spaß. Sergej wollte lediglich ein paar Züge inhalieren und dann wieder zurück zu seinen Reisebegleitern kehren.

    Sergej hatte sich gerade einen der billigen Glimmstängel angezündet und einen ersten Zug genommen, als er irgendwo hinter sich ein geräuschvolles Poltern hörte. Zunächst konnte er den Lärm nicht einordnen. Nachdenklich blickte er in den engen Flur in Richtung des Speisewagens, der jedoch verlassen vor ihm lag. Auch im anderen Waggon gab es außer einer gebrechlichen älteren Dame, die gerade verängstigt von der Toilette kam, nichts zu sehen.

    Da widerholte sich das Poltern und Sergej glaubte entfernt einen Kampfschrei und kurz darauf ein schmerzhaftes Stöhnen zu hören. Jetzt realisierte der Journalist, dass die Geräusche von oben kamen. Irgendetwas war auf dem Dach des Speisewagens los.

    Sergejs erster Instinkt war seinen Freund und Kollegen Vitali zu rufen, aber Sergej war einfach ein eitler Draufgänger, der sich und anderen keinerlei Schwächen offenbaren wollte. Zudem siegte seine unnachgiebige Neugier und gab schließlich den Ausschlag. Sergej sah seitlich der Plattform eine kleine Leiter, die auf das Dach führte.

    Der Journalist warf seine Zigarette ins Schneegestöber, setzte vorsichtig erst einen und dann beide Füße auf die Leiter und machte sich dann im Schneegestöber an den kurzen Aufstieg. Der Zugwind spielte mit seiner weiten Kleidung und durch den dichter werdenden Schnee war Sergej rasch durchnässt. Als er den Rand des Daches erreichte, harrte er kurz aus und spähte vorsichtig über selbigen hinweg um nicht direkt erkannt zu werden.

    Das dichte Schneegestöber behinderte zunächst seine Sicht, doch dann sah Sergej am anderen Ende des Daches zwei dunkel gekleidete Gestalten, die am Boden miteinander rangen und sich gegenseitig zur Seite stießen. Die unten liegende Gestalt befreite sich mit einem martialischen Brüllen aus der Umklammerung des Gegners, hebelte dessen Griff aus, klemmte dessen Standbein mit seinen eigenen Beinen ein und drückte sich dann so sehr mit Schwung zur Seite, dass der eben noch Unterlegene plötzlich die Oberhand gewonnen hatte. Dabei rückte das kämpfende Paar langsam aber stetig auf dem rutschigen Dach zur Seite.

    Sergej wusste nicht, ob er eingreifen sollte oder nicht. Er befürchtete, dass dieser Kampf in einer Katastrophe enden könnte. Einer der beiden Kontrahenten würde vermutlich vom Zugdach gestoßen werden und den heftigen Aufprall wohl kaum unbeschadet überstehen. Auf der anderen Seite wollte Sergej nun doch nicht so draufgängerisch sein und sein Leben für zwei Unbekannte riskieren.

    In diesen Momenten wendete sich das Blatt in dem erbitterten Kampf wieder. Der Unterlegene stieß seinen Kopf unter das Kinn des Gegners, der überrascht zurückzuckte. Dann rammte der Unterlegene seinem Gegner das Knie in die Magengrube, drückte den Oberkörper des Angreifers wuchtig mit beiden Händen nach oben, packte dann dessen Arme und drückte den übertölpelten Kontrahenten mit seinem anderen Bein in die Höhe. Dann legte der Unterlegene seine ganze Wucht in den Tritt, der seinen Gegner über ihn selbst hinweg drückte. Der Gegner wirbelte hilflos durch die Luft, prallte direkt am Ende des Zugdaches auf und rutschte auf dem nassen Metall weiter zur Seite. Da bekam der dunkel gekleidete und kräftige Mann plötzlich Übergewicht und drohte ins Leere zu fallen. Im letzten Moment griff er im Fallen nach einer Begrenzungsstange auf dem Zugdach und pendelte nun unstet im rauschenden Fahrtwind über den vorbeirauschenden Gleisen. Sein Gegner robbte sich gewandt über das Dach auf ihn zu, holte zum Fausthieb aus und verpasste das Gesicht des Gegners nur deshalb, weil dieser endlich mit der zweiten Hand die Begrenzungsstange ergriffen und sich instinktiv zur Seite gehangelt hatte. Verzweifelt versuchte sich der Unterlegene in die Höhe zu ziehen, doch der zweite Haken des Gegners traf ihn dieses Mal unter dem Kinn und ließ ihn zurückzucken.

    Da ertönte plötzlich das laute Hupen eines entgegenkommenden Zuges, das Sergej so erschrak, dass er beinahe selbst von der Leiter gefallen wäre. Alle drei Männer wandten sich instinktiv um und ihre Blicke trafen sich.

    Sergej erkannte nun, dass es sich bei dem dunkel gekleideten Kämpfer, der so sehr in der Bredouille war und mit einer Hand über dem Abgrund hing, um den schweigsamen Koreaner handelte, der ihn vor etwas mehr als zehn Minuten noch durchsucht hatte. Auch der andere Kämpfer schien asiatische Züge zu haben und nachdem dessen Blick den entgegenkommenden Zug registriert hatte, fixierte er den russischen Journalisten, der sich seltsam ertappt fühlte.

    Da ertönte das energische Hupen des entgegenkommenden Zuges erneut und riss alle drei Männer aus ihrer abwartenden Erstarrung. Der unsympathische Kämpfer, der Sergejs Reisegruppe drangsaliert hatte, versuchte sich mit einem letzten kräftigen Klimmzug aufs rettenden Dach zu ziehen, doch der wuchtige Tritt seines agilen Gegners traf ihn direkt in die Magengrube. Der Unterlegene klappte zusammen wie ein Schweizer Taschenmesser, bekam rasch Übergewicht und kippte wie in Zeitlupe nach hinten. Noch bevor der Verlierer auf den Gleisen aufschlug, wurde er bereits vom heranrasenden Zug erfasst und brutal zur Seite geschleudert. Der abgebrochene Todesschrei des Opfers ging Sergej durch Mark und Bein.

    Als der Journalist seinen Blick wieder aufrichtete, traf er den des überlebenden Kämpfers. Sergej realisierte rasch, dass er soeben Zeuge eines Verbrechens geworden war, von dem niemand etwas erfahren sollte und er deshalb in höchster Gefahr schwebte. Der Asiate fixierte ihn regungslos und schien sich jedes Detail von ihm einzuprägen. Endlich reagierte der Russe, kletterte panisch in die Tiefe und wäre dabei beinahe noch auf den glitschigen Stangen der Leiter abgerutscht. Sein Herz pochte so laut und stark, dass es in seinem Brustkorb wehtat und der Journalist zitterte am ganzen Körper, als er auf der metallischen Plattform landete und endlich wieder Boden unter den Füssen hatte. Sergej rannte weiter, rutschte dabei weg, schlug sich das rechte Knie auf, rappelte sich wieder auf und taumelte panisch zurück in den Waggon, aus dem er vor wenigen Minuten noch gekommen war, um endlich zur Ruhe zu kommen und sich etwas abzulenken. Dieses Vorhaben war gehörig schief gegangen.

     

    *

     

                Vitali trat aus seinem Abteil, um die nächste Toilette aufzusuchen. Auf dem engen Gang wäre er beinahe mit einer älteren Dame zusammengestoßen, die sich in großer Eile an ihm vorbeidrückte. Vitali wurde hart gegen ein Fenster gepresst, verkniff sich aber einen Kommentar gegenüber der Frau. Er fragte sich stattdessen, was die ältere Dame so sehr erschreckt haben könnte. Sein erster Verdacht war, dass auch sie gerade auf erniedrigende Weise durchsucht worden war, doch da fiel sein Blick auf die klappernde und offenstehende Toilettentür weiter hinten im Gang.

                Als Vitali näher kam, bemerkte er, dass ein ausgestrecktes Bein verhinderte, dass die Toilettentür zufiel. Vitali bekam sofort ein flaues Gefühl im Magen und sein ungeheurer Verdacht bestätigte sich alsbald. Auf der Toilette lag in verkrümmter Haltung ein regungsloser Mann mit weit aufgerissenen Augen vom Todeskampf, in dessen Kehle sich eine Metallschlinge eingedrückt hatte. Vitali erkannte den Toten auch sogleich wieder. Es handelte sich um den unfreundlichen Russen, der seine Begleiter und ihn vor gut zehn Minuten noch durchsucht hatte. Nun lag er brutal ermordet vor ihm und Vitali war klar, dass dieser Anblick der alten Dame einen ungeheuren Schrecken eingejagt haben musste.

                Vitali hörte plötzlich hektische Schritte und ihm fiel siedend heiß ein, dass der potenzielle Mörder noch ganz in der Nähe sein musste. Abrupt fuhr Vitali herum und hatte bereits die Fäuste zum Kampf erhoben, als er in der abgekämpften Gestalt auf dem Gang seinen Kollegen Sergej erkannte, der völlig durchnässt war und richtig abgekämpft wirkte.

                „Vitali, du wirst nicht glauben, was mir gerade passiert ist.“, begann sein Kollege, der völlig außer Atem war, sich an der Flurwand abstützte und mit dem freien Arm den Schweiß vom Gesicht wischte.

                „Verdammt, das wollte ich auch gerade sagen.“, bemerkte Vitali trocken und nickte zur Seite in Richtung des erdrosselten Russen.

                Sergej blickte zunächst verständnislos drein und wurde dann bleich, als er den Toten sah und auch sofort erkannte.

                In dem Moment ging hinter den beiden die Tür zu ihrem Abteil auf und Mitrofan trat auf den Gang. Sergej und Vitali winkten ihn nervös herbei und als der alte Polizist die Leiche sah, wurde er ganz bleich.

                „Verdammt, was machen wir denn jetzt?“, fragte Sergej, der sich immer noch nicht beruhigt hatte.

                „Wir müssen den Vorfall unbedingt melden. Ihr beide geht in den Speisewagen, da wird sicher jemand vom Personal sein. Ich halte hier am Tatort die Stellung, damit hier niemand mögliche Spuren verwischt.“, schlug Mitrofan vor, der sich rasch wieder gefasst hatte.

                Der Zug rumpelte, als er über eine Unebenheit zu fahren schien und die drei Gefährten wurden kurz durchgerüttelt. Dann nickte Vitali und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter.

                „Das klingt nach einem Plan. Komm mit, Sergej. Wir sind gleich wieder zurück!“, versprach Vitali und die beiden Journalisten ließen Mitrofan kurz allein.

     

    *

     

                Mitrofan wollte eigentlich nichts angefasst haben, aber seine Neugier war doch zu groß gewesen. Er hatte ein großes und sauberes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche befördert, es um seine Hand gewickelt und schob das Sacko des Toten ein wenig zur Seite. Sein Blick fiel auf eine Innentasche, in der ein schwarzes Portemonnaie war. Mitrofan ergriff dieses und klappte es vorsichtig auf. Dabei fiel sein Blick auf einige Visitenkarten, auf denen er das Antlitz des Toten mit einigen Informationen finden konnte. Laut las Mitrofan, was er da sah.

                „Mikhail Iwanowitsch Gorkow, stellvertretender Geschäftsführer der Chemiefirma Gorkow und Söhne, Wladiwostok.“, las Mitrofan laut vor.

                Der Polizist suchte nach weiteren Informationen und stieß in einer anderen Tasche im Innenfutter des Sackos auf einen Notizblock. Umständlich klappte Mitrofan diesen auf und las eine längere Liste mit koreanischen und russischen Namen.

    Mitrofan entschied sich den Notizblock einzustecken und setzte seine Durchsuchung fort. Im Innenfutter fand er eine klobige Brosche mit dem Konterfei des Ewigen Präsidenten Kim Il Sung und dem Logo der nordkoreanischen Arbeiterpartei. Mitrofan legte die Brosche zurück ins Innenfutter und ertastete einen Umschlag, den er mühsam hervorzog.

    Plötzlich richteten sich Mitrofans Nackenhaare auf. Er konnte nicht einmal mehr sagen, warum dies geschah. Er spürte plötzlich, dass Gefahr im Verzug war. Vielleicht hatte er einen unsteten Schatten gesehen oder einen nervösen Windhauch gespürt. Als heißkalte Schauer von seinem Nacken bis tief hinunter ins Steißbein rannen und Mitrofan sich wie in Zeitlupe umdrehte, wusste er instinktiv, dass seine Reaktion zu spät kam. Er kniff noch die Augen zusammen und zog seine Schultern hoch, als ein dumpfer Schlag an seinem Hinterkopf explodierte und er schwer nach vorne fiel. Noch bevor Mitrofan den Schmerz spürte oder auf dem Boden aufschlug, hatte ihn bereits der Mantel der tiefen Bewusstlosigkeit umfangen.

     

    *

     

                Margarita fühlte sich im Viererabteil auf einmal sehr einsam. Sergej war bereits vor einer Viertelstunde aufgebrochen um kurz rauchen zu gehen. Vor weniger als zehn Minuten war dann Vitali gefolgt, der mal auf die Toilette gehen musste. Vor etwas mehr als fünf Minuten hatte dann auch Mitrofan sie allein gelassen um mal an die frische Luft zu gehen. Sie hatte es vorgezogen im Abteil zu bleiben, um auf die Gepäckstücke aufzupassen. Jetzt bereute sie diese Entscheidung. Sie dachte an den unangenehmen kräftigen Russen und den schweigsamen Koreaner und wollte ihnen nicht allein im Zugabteil begegnen. Sie fragte sich, warum die drei Männer sich so lange Zeit ließen. Ängstlich fragte sie sich, ob ihnen nicht doch etwas zugestoßen war.

                Schließlich hielt es die Gastwirtin nicht mehr länger aus. Sie stand auf, öffnete die Abteiltür und trat vorsichtig in den Gang. Sie kniff vorsichtig die Augen zusammen und konnte dann kaum glauben, was sie weiter hinten im Gang sah. Dort lagen die regungslose Gestalt des aufdringlichen Russen, der ihre Reisegruppe vor einer Viertelstunde aufgesucht hatte, auf der Toilette und direkt daneben und halb im Gang ihr geliebter Mitrofan, der ebenfalls mindestens bewusstlos zu sein schien. Über den beiden hockte eine dunkle Gestalt, die sich schnell wie ein Schatten bewegte und Margarita noch nicht bemerkt zu haben schien.

                Nur mühsam unterdrückte die Gastwirtin einen Schrei und presste sich entsetzt und schwer atmend ihre Hände auf den Mund. Tränen traten ihr in die Augen und ihr wurde kurz schwindlig. Dann hatte sie ihre Fassung wieder einigermaßen zurückgewonnen, schüttelte aber immer noch fassungslos den Kopf.

                „Oh mein Gott, das darf doch nicht wahr sein.“, flüsterte sie heiser.

                Da legte sich plötzlich von hinten eine feingliedrige Hand um sie und irgendjemand drückte ihr ein erbärmlich stinkendes Tuch vor Augen und Nase. Margarita schüttelte sich und wollte sich irgendwie zurück ins Abteil drängen, doch eine zweite Hand hielt sie wie eine Klaue umklammert und so kam sie nicht weit genug.

                Dann wurde Margarita kontinuierlich schwarz vor Augen. Sie spürte noch wie sie zusammensackte und die Arme des unbekannten Angreifers sie erstaunlich sanft auffingen. Danach versank Margaritas Welt in konturloser Dunkelheit.

     

    *

     

                Auf dem Weg in den Speisewagen hatten sich Vitali und Sergej kurz über die sich inzwischen überschlagenden Ereignisse in der Murmanbahn ausgetauscht und gegenseitig auf den aktuellsten Stand gebracht.

                Mit angemessener Eile traten die beiden in den durchaus gemütlich eingerichteten Speisewaggon der ersten Klasse. Vitali analysierte mit seinem fotografischen Gedächtnis in Sekundenschnelle die Lage und nahm alle Anwesenden kurz in Augenschein.

                An einem kleinen Zweiertisch saßen ein elegant gekleideter Russe und eine atemberaubend schöne Koreanerin im schwarzen Abendkleid, die sich ein alkoholisches Getränk gönnten. An der Theke saß ein weiterer Koreaner, der sich mit einem Glas Wasser begnügte und aufmerksam eine russische Tageszeitung studierte. Ansonsten waren noch ein älteres russisches Ehepaar, das Karten spielte, eine finnische Familie mit Vater, Mutter und zwei Söhnen und eine ganze Reihe von Soldaten anwesend.

                Vitali entschied sich dagegen sofort mit einem der Soldaten zu sprechen und trat stattdessen auf den jungen Schlacks zu, der hinter der Theke gerade ein paar Gläser Wodka vorbereitete.

                „Entschuldigung, gibt es hier irgendwo einen Verantwortlichen, dem wir ein Verbrechen melden können, das sich hier im Zug ereignet hat.“, sprach Vitali den Jungspund möglichst leise und unauffällig an.

                „Was? Ein Verbrechen hat hier im Zug stattgefunden? Das ist ja schrecklich! Da sprechen sie am besten mit dem Oberschaffner. Der hat ein kleines Büro weiter vorne im Zug. Da müssen sie noch drei weitere Waggons durchqueren. Es befindet sich direkt hinter dem Abteil für die Zugführer. Was genau ist denn passiert?“, fragte der Barmann so laut und naiv, dass sich praktisch die Blicke aller Anwesender auf Vitali und seinen Begleiter richteten. Die anwesenden Soldaten blickten sich bereits nervös an, griffen erstaunlicherweise aber nicht weiter ein.

                Vitali wäre am liebsten im Boden versunken und wollte so schnell wie möglich aus dem Speisewaggon verschwinden. Er nickte Sergej zu, marschierte nervös auf den Ausgang des Waggons zu und speiste den unglücklich agierenden Jungspund mit ein paar Floskeln ab.

                „Unserer Begleiterin ist von einem Russen die Handtasche abgenommen worden.“, log Vitali um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und der Barmann schien den Köder zu schlucken.

                „Ach so, machen Sie sich nichts draus. So etwas geschieht hier ständig. Am besten ist, man trägt immer alle Wertsachen direkt bei sich in den Hosen-und Jackentaschen.“, schwadronierte der kräftige Jungspund mit nervösem Lispeln.

                Seinen Ratschlag hörten Sergej und Vitali schon nicht mehr, denn sie hatten den Speisewaggon zügig verlassen.

    Dann kam auch langsam Bewegung in die anderen Anwesenden. Der Koreaner mit der Zeitung stand gemächlich auf, leerte sein Glas Wasser in einem Zug, zückte einen Geldschein und klemmte ihn unter das Glas. Dann setzte er einen braunen Schlapphut auf und verließ den Speisewaggon durch dieselbe Tür wie kurz zuvor die beiden russischen Journalisten.

    Das russisch-koreanische Pärchen musterte den Mann mit dem Schlapphut finster, tuschelte dann nervös und brach dann ebenso hektisch in die andere Richtung auf. Der Russe klemmte noch schnell einen viel zu hohen Schein unter sein Glas und nickte dem Barmann flüchtig zu, der die Geste mit einem dämlichen Grinsen verfolgt hatte. Im Hinausgehen nickte der Russe auch einem der Soldaten zu, der die Geste erwiderte und sich den beiden anschloss, als diese den Waggon verließen. Ein weiterer Soldat brach hingegen in die gegenüberliegende Richtung auf. Plötzlich befanden sich nur noch zwei verbliebene Soldaten, das alte russische Ehepaar und die finnische Familie im Speisewaggon. Der ältere Russe trat nun schlurfend an den Tresen und schüttelte missmutig den Kopf.

     

    „Was die jungen Leute heutzutage immer für einen Stress haben, nicht wahr?“, fragte er den Barmann, der froh war endlich einen neuen Gesprächspartner zutexten zu können.

     

    *

     

                „Wir werden verfolgt.“, stellte Sergej lapidar fest, nachdem er mehrmals einen Blick über seine Schulter geworfen hatte.

                Auch Vitali hatte bemerkt, dass der Koreaner, der eben noch mit einer Zeitung im Speisewaggon gesessen hatte, überstürzt aufgebrochen war und es eilig hatte mit ihnen Schritt zu halten. Doch nicht nur der Koreaner hatte sich an ihre Fersen geheftet. Hinter ihm folgte im Stechschritt ein Soldat, der recht finster aussah. Der Koreaner blickte auch bereits nervös über seine Schulter und schien sich zu fragen, ob es der Soldat nun auf die beiden Journalisten oder auf ihn selbst abgesehen hatte.

                Da ging plötzlich die Tür eines Zugabteils hinter Vitali und Sergej auf und ein zweiter Soldat stellte sich dem Koreaner breitbeinig in den Weg. Der wollte sich herumwerfen, doch da war bereits sein Verfolger auf dem Posten, packte den Koreaner mit einer Hand grob am Arm und legte die andere auf seinen Mund. Sein Gegenüber hatte eine Waffe gezückt und gab seinem Kollegen zu verstehen, dass er den Koreaner in das leere Zugabteil führen sollte, aus dem er gerade aufgetaucht war. Nach wenigen Sekunden war die rasche Intervention auch wieder vorbei. Die Tür zum Abteil schlug zu und plötzlich war es in dem Bereich des Zuges totenstill.

                Vitali und Sergej tauchten schwer atmend in eine kleine Nische ab, die am Ende des Waggons zu einem Waschraum führte. Die beiden blickten sich kopfschüttelnd an.

                „Verstehst du, was hier vorgeht?“, fragte Sergej atemlos und spürte nach der kurzen Hetzjagd und der Aufregung der letzten Minuten ein unangenehmes Seitenstechen.

                Bevor Vitali seine Theorie erörtern konnte, ging plötzlich die Tür zum Waschraum auf und ein weiterer Soldat stand mit einem Mal vor ihn. Er hielt fast schon lässig eine Kalaschnikow fest und blickte die beiden Journalisten aus kalten blaugrauen Augen an. Er ging einen Schritt zur Seite und machte eine eindeutige Kopfbewegung.

                Vitali und Sergej wussten, dass protestieren bei einem russischen Soldaten absolut keinen Sinn machte. So traten sie in den Waschraum und hofften, dass sie dort alle Missverständnisse aus dem Weg räumen konnten.

                Der Soldat schloss hinter ihnen die Tür ab und blieb breitbeinig vor diesem einzigen Ausgang stehen. Vitali sah sich nach anderen Fluchtmöglichkeiten um. Es gab da noch ein blindes Fenster über einem Waschbecken, das recht groß war. Nutzlos war hingegen ein ganz kleines Fenster oberhalb der zwei Toiletten. Die Ecke des Raumes war ebenfalls eine Sackgasse. Dort gab es noch zwei gegenüberliegende Duschstellen und einen Wickeltisch. Gegenüber den beiden Toiletten gab es noch zwei Pissoirs.

                „Hören Sie, ich glaube, dass es sich hier um ein ganz unglückliches Missverständnis handelt.“, begann Sergej nervös.

                Doch dem Soldat war nicht nach reden zu Mute. Kommentarlos trat er vor, drehte seine Kalaschnikow und stieß deren Lauf grob in Sergejs Magengrube. Der ging keuchend in die Knie und stützte sich mit hoch rotem Kopf an einem der Pissoirs ab. Der Soldat hingegen behielt Vitali im Blick und trat wieder zurück an die Eingangstür.

                Vitali selbst war einige Schritte zurück gewichen und hatte die Arme erhoben. Scheinbar wartete der Soldat auf irgendetwas. Vielleicht würde schon bald sein Vorgesetzter eintreffen und das unglückliche Missverständnis würde sich dann in Wohlgefallen auflösen. Solange hielt Vitali es für klug einfach den Mund zu halten und abzuwarten. Sergej hatte diese Lektion auf die schmerzhafte Variante lernen müssen und rappelte sich jetzt stöhnend wieder auf.

                Da hörten sie alle plötzlich ein lautes Klirren auf dem Gang. Es klang geradewegs so, als ob dort ein Fenster zerbrochen wäre. Der Soldat zuckte überrascht zusammen, drehte sich so, dass er die beiden Journalisten immer noch im Blick hatte, aber vorsichtig die Tür aufschließen und dann langsam aufziehen konnte.

                Dabei blieb es nicht. Der Soldat sah irgendjemanden dort im Gang, legte plötzlich seine Kalaschnikow an und trat einen Schritt aus dem Waschraum heraus.

                „Stehen bleiben!“, rief er irgendjemandem zu und entsicherte seine Waffe geräuschvoll. Die beiden Journalisten beachtete er in diesem Moment schon nicht mehr.

                Doch der Soldat hatte die Rechnung ohne den heißblütigen Sergej gemacht. Der nutzte die Gunst der Stunde und sprang impulsiv in den Gang. Der Soldat drehte sich verwirrt um, doch Sergej hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Seine Faust krachte gegen die ungeschützte Schläfe des Soldaten, der benommen zur Seite taumelte und gegen eine wacklige Seitenwand krachte.

                Sergej setzte nach und trat dem Soldaten in die ungeschützte Magengrube. Der beugte sich ächzend vornüber und glitt langsam an der Seitenwand hinunter. Sergej versuchte ein drittes Mal nachzusetzen und den Soldaten mit einer Reihe von Kinnhaken einzudecken. Doch dabei war der verbissene Journalist so sehr in seinem Element, dass er in seiner Rage nicht bemerkte, wie der Soldat die Schläge ungedeckt hinnahm und stattdessen mit einer Hand die Kalaschnikow zur Seite drehte und plötzlich damit in Sergej ungeschützte Seite stieß.

                Der Journalist erstarrte, als er seinen fatalen Fehler realisierte und erkannte, dass ein einziges Fingerzucken seines Peinigers ausreichen würde, um ihm einen tödlichen Schuss zu verpassen. Das blutverschmierte Gesicht des Soldaten wurde zu einem hässlichen Lächeln, während Sergej kalkweiß wurde und sich ganz vorsichtig und mit erhobenen Armen aufrichtete. Der Soldat rappele sich ebenfalls langsam wieder auf und drückte dabei auch weiterhin seinen Maschinengewehrlauf in die Seite des Jounalisten.

                Da flog von der Seite auf einmal ein Schatten heran, der dem Soldaten mit einem gezielten Tritt die Kalaschnikow aus der Hand trat. Der Soldat stolperte nach hinten und drohte auf den Boden zufallen, doch da war der schnelle Angreifer bereits heran. Er packte den Soldaten am Hemdkragen und zog ihn wieder in die Höhe. Dann schlug der Gegner mit einem blitzschnellen Handkantenschlag zu, der den Soldaten am ungeschützten Nacken traf.

                Erst wurde das Gesicht des Soldaten daraufhin puterrot, dann phasenweise kalkweiß und am Ende verdrehten sich seine Augen und der schwere Mann ging hart und bewusstlos zu Boden, wobei er sich seinen Kopf noch an einem Fensterrahmen stieß.

                Vitali trat langsam zu dem wie erstarrt wirkenden Sergej und begriff erst jetzt, was sich in den letzten Momenten abgespielt hatte. Der unbekannte Angreifer war scheinbar irgendwie von draußen gekommen, wie man an dem zersplitterten Fenster auf der anderen Seite des Ganges feststellen konnte.

                Der unbekannte Retter packte den bewusstlosen Soldaten mit erstaunlicher Leichtigkeit auf seine Schultern, drängte sich kommentarlos an den beiden Journalisten vorbei in den Waschraum und legte den Körper des Besiegten in der ersten Toilettenkabine ab. Der wendige Angreifer setzte den Mann auf die Toilette, schloss die Tür von innen ab, sprang dann fast geräuschlos auf den Toilettenkasten und zog sich von dort mit einem Klimmzug über die abgrenzende Seitenwand und landete geschmeidig wie ein Raubtier wieder in der Mitte des Waschraumes.

                Sergej nutzte die professionelle Geschäftigkeit des dunkel gekleideten Mannes, um sich ganz nah an Vitali zu drücken und ihm atemlos etwas mitzuteilen.

                „Das ist der Typ, den ich oben auf dem Dach gesehen habe.“, bemerkte er und Vitali konnte ein unstetes Zittern aus der Stimme seines Kollegen heraushören.

                Der geschmeidige Angreifer wusch sich gerade schnell die Hände an einem Waschbecken, blickte dann ausdruckslos die beiden Journalisten an und wollte sich dann anscheinend wieder dem Ausgang zuwenden, als sie alle von draußen Stimmen mehrerer Soldaten hörten, die wohl gerade im Begriff waren das zerstörte Fenster zu inspizieren. 

                Instinktiv blickten sich Sergej, Vitali und der unheimliche Kämpfer an. Sie saßen hier in der Falle.

     

    *

     

    Margarita hörte von irgendwoher ein lautes und monotones Böllern. Bald spürte sie das unangenehme Geräusch am ganzen Körper. Bei jedem Pulsieren sandte ihr zermarterter Kopf schmerzhafte Schockwellen aus. Die Pein brachte die Wirtsfrau langsam zurück in die Realität. Zunächst sah sie alles um sich herum nur verschwommen. Wenige Meter vor ihr waren ein paar ölverschmierte mechanische Geräte. Über ihr befand sich ein Wirrwarr aus  metallischen Drähten und Leitungen. Zu ihrer Rechten sah sie nervös blinkende Anzeigen, Tachometer und Uhren. Margarita realisierte, dass sie sich in einem kleinen, dreckigen Maschinenraum befand.

    Dann blickte die Russin nach links, wo sie eine schlanke Frau sah, die im Schatten der schmutzigen Tür ausharrte und hin und wieder durch das fast blinde Fenster irgendwo nach draußen auf einen Gang blickte. Die Dame hatte noch nicht bemerkt, dass Margarita das Bewusstsein wiedererlangt hatte.

    Der Russin fiel Stück für Stück wieder ein, was vor ihrer Bewusstlosigkeit passiert war. Sie war aus ihrem Abteil gegangen, um nach ihren drei Begleitern zu schauen. Sie erinnerte sich, dass halb auf der Toilette und halb im Gang die bewusstlose Gestalt eines Mannes gelegen hatte, der ihre kleine Reisegruppe unfreundlich bedrängt hatte. Margarita sah ebenfalls die regungslose Gestalt ihres geliebten Mitrofans vor sich. War es zwischen den beiden Männern zum Kampf gekommen? Das konnte sich Margarita bei dem besonnen Mitrofan eigentlich nicht vorstellen. Sie hatte nach ihrem Liebsten sehen wollen, doch es hatte sich offenbar jemand von hinten an sie herangeschlichen, ihr ein stinkendes Tuch vors Gesicht gedrückt und sie danach verschleppt. Margarita schmeckte immer noch eine leichte Bitternis in ihrem Mund. Sie blickte benommen auf ihre altmodische Armbanduhr und stellte fest, dass sie vielleicht fünfzehn bis zwanzig Minuten bewusstlos gewesen sein mochte. Warum hatte man sie betäubt und entführt? Wo war Mitrofan?

    Die Wirtsfrau stöhnte geräuschvoll, als sie versuchte sich langsam aufzurichten und die schlanke Frau schräg vor ihr zuckte zusammen und trat jetzt aus dem Schatten hinter der Tür. Margarita stellte jetzt fest, dass es sich bei ihr um eine attraktive Asiatin handelte. Beschwichtigend hob die junge Frau die Hände und machte Margarita mit einigen Gesten klar, dass sie sich ruhig verhalten sollte. Warum agierte die Asiatin so seltsam? Warum versteckte sie sich mit ihr in einem Maschinenraum? Waren sie beide hier in Gefahr?

    Margarita hatte ihre hektischen Gedanken kaum geordnet, da hörte sie schwere Schritte auf dem Gang. Die Asiatin glitt zurück in den toten Winkel hinter der Tür, atmete tief durch und zog eine kleinkalibrige Pistole. Erneut machte sie Margarita mit Gesten klar, dass sie sich nicht von der Stelle rühren sollte.

    Die schweren Schritte stoppten unheilschwanger. Die Spannung in dem Maschinenraum war nun so intensiv, dass Margarita schwitzend nach der dicken Luft schnappte. Die Asiatin hatte ihre Augen geschlossen und bewegte nervös ihre Lippen im geräuschlosen Selbstgespräch. Dabei lief ihr der Schweiß über das feinporige Gesicht, das mit einem Mal sehr angespannt wirkte. Tief atmete die Dame mit der kleinkalibrigen Pistole durch.

    Da bewegte sich mit einem Mal langsam die rostige Türklinke. Wie in Zeitlupe wurde die Tür mit einem unheilvollen Knarren aufgestoßen und eine schlanke und hochgewachsene Gestalt trat langsam ein. Margarita wusste, dass sie sich in dem kleinen Maschinenraum unmöglich verstecken konnte. Sie tat das erstbeste, was ihr einfiel. Die russische Wirtsfrau kauerte sich zusammen und stellte sich bewusstlos. Dabei blieben ihre Augen vorsichtig geöffnet, um zu sehen, was nun passieren würde.

    Die Asiatin hatte sich in die tiefste Nische des toten Winkels hinter der Tür versteckt und hielt ihre kleinkalibrige Pistole nervös umklammert. Der dürre Mann stand im Zwielicht der geöffneten Tür und verharrte dort minutenlang.

    Margarita musterte den Neuankömmling so gut wie es ging. Er war groß und schlank. Er steckte in einem schwarzen Anzug und trug eine schwarze Sonnenbrille. Seine großen dunklen Augenringe konnte man dennoch sehen, da sie bis unter der Sonnenbrille hervorragten. Sein Haar war kurz, tiefschwarz und hing wirr von seinem Kopf herab. Lediglich die blutroten Lippen stachen aus den emotionslosen und schmalen Gesichtszügen hervor. Auffällig waren auch die schwarzen Stulpenhandschuhe, deren Enden abgeschnitten waren. Die Finger des Mannes waren blass und feingliedrig und die Fingernägel ungewöhnlich lang und ein wenig gekrümmt. Die Haut des Mannes war erstaunlich blass und doch glaubte Margarita auf Grund von kleinen Äußerlichkeiten wie dem Körperbau, dass sie einen jungen Asiaten vor sich stehen hatte.

    Minutenlang geschah nichts, doch dann passierte alles ganz schnell. Der Neuankömmling schien die Situation perfekt erfasst zu haben und versuchte die beiden Frauen nach Momenten der Starre überrumpeln zu wollen. In einem unwahrscheinlichen Kraftakt bückte sich der Asiate, hob mit einer ruckartigen Bewegung beim ersten Versuch die Tür aus ihren Angeln und stürzte mit diesem Schild in Richtung der Asiatin, die plötzlich in der Falle saß. Ihre Waffe fand kein Ziel, sie konnte auch nicht die Flucht nach vorne wagen und war auf einmal eingekesselt. So zog sich die junge Frau nervös in ihre Nische zurück während der dürre Mann sie mit der Tür als Hindernis unbarmherzig zurückdrängte. Da schnellte sein rechter Arm plötzlich hervor und packte das Handgelenk der jungen Asiatin wie ein Schraubstock und drückte unbarmherzig zu. Die junge Dame schrie überrascht auf und ließ ihre kleinkalibrige Waffe nach wenigen Sekunden fallen. Ihr Gegner schien trotz seiner schmächtigen Statur fast schon übermenschliche Kräfte zu haben.

    Sobald die Asiatin unbewaffnet war, ließ der dürre Mann von der aus der Angel gehobenen Tür ab und packte nun mit beiden Händen den Hals seiner Gegnerin. Mit seiner linken Hand drückte er fest zu, sodass die junge Dame geräuschvoll röchelte und ganz blass wurde. Mit der rechten Hand drückte der dürre Mann den Kopf der Dame langsam zur Seite, schob ihre Haare nach hinten und strich mit seinen langen Fingernägeln geradezu genüsslich über den freigelegten Hals der Asiatin. Margarita beachtete er in diesen Momenten überhaupt nicht.

    Die Russin war von diesen Ereignissen völlig überrumpelt worden und fragte sich verzweifelt, wie sie reagieren sollte. Zunächst dachte sie daran zu fliehen. Sie könnte sich irgendwie aufrappeln und hoffen, dass die beiden Kämpfenden so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie durch die inzwischen aus den Angeln gehobene Tür entkommen konnte. Auf der anderen Seite hatte die Russin Angst. Die Asiatin schien zwar nicht direkt böswillig zu wirken, aber aus irgendeinem Grund hatte sie Margarita doch entführt. Die Wirtsfrau traute der jungen Asiatin nicht so ganz. Zumal war die Dame bewaffnet. Vielleicht würde sie von der Waffe Gebrauch machen, wenn Margarita versuchen würde zu fliehen. Als noch gefährlicher stufte sie jedoch den Mann in schwarz ein. Er wirkte durch und durch brutal und unheimlich und würde Margarita schnell überwältigen, wenn er ihre Flucht bemerken sollte. Was blieb Margarita aber an anderen Optionen noch übrig? Sie könnte weiterhin versuchen sich bewusstlos zu stellen in der Hoffnung, dass man sie in Ruhe ließ, aber diese feige und passive Haltung war riskant. Sie hätte die Möglichkeit in den Kampf einzugreifen und der Asiatin zu helfen, aber wenn die junge und gewandte Frau schon nicht den Hauch einer Chance zu haben schien, wie sollte es dann die Wirtsfrau mit dem dürren Mann aufnehmen? Es blieb auch die Möglichkeit sich auf die Seite des dürren Mannes zu schlagen, in der Hoffnung, dass dieser sie dann verschonen würde. Auch diese Option gefiel Margarita gar nicht, denn erstens wäre sie für den agilen Kämpfer nur ein Klotz am Bein und zweitens konnte sie nicht einfach auf dessen Gnade spekulieren. Dann blieb noch die Möglichkeit einfach nach Hilfe zu rufen, in der Hoffnung, dass irgendjemand in der Nähe war und sie aus dieser misslichen Lage befreien konnte. Margarita dachte dabei vor allem an Mitrofan, Sergej und Vitali. Wenn die Hilferufe aber umsonst waren, dann würde Margarita erst recht die Wut ihrer Gegner auf sich ziehen und mit dieser Aktion vielleicht endgültig ihr eigenes Todesurteil unterschreiben. Egal wie Margarita die Sache auch drehte und wendete, sie konnte sich mit keiner Lösung auch nur ansatzweise anfreunden und so blieb sie starr und entsetzt zusammengekauert auf dem schmutzigen Boden des Maschinenraums sitzen und verfolgte den Kampf zwischen der inzwischen entwaffneten junge Asiatin und dem einschüchternden dürren Sonderling. Was sie nun zu sehen bekam sollte Margaritas Leben auf ewig verändern.

    Der schwarze Mann drückte mit seiner rechten Hand weiterhin die Kehle der jungen Gegnerin zu und blickte ihr tief in die schreckgeweiteten Augen. Dann beugte er sich plötzlich nach vorne, lachte heiser und entblößte dabei sein perfektes weißes Gebiss, das fast schon klingenhaft aufblitzte. Dadurch sah Margarita auch die beiden längeren Zähne im Oberkiefer, die sich ruckartig in die dünne Haut am freigelegten Hals der Asiatin bohrten. Die junge Frau schrie wie am Spieß, als das Blut fontänenartig aus ihrer Halsschlagader spritzte und dabei den schwarzen Anzug und das bleiche Gesicht des dürren Mannes benetzte. Die Qualen der jungen Frau schienen den dürren Mann noch weiter anzuspornen. Er verfiel in wilde Raserei und grub seine Zähne immer wieder und immer tiefer in den ungeschützten Hals der Asiatin. Ihre Schreie wurden zu einem hilflosen Gurgeln und die junge Frau fing im Griff ihres Gegners konvulsisch an zu zittern. Der Mann in schwarz grub geradezu sein ganzes Gesicht in die blutenden Wunden der Gegnerin und gab dabei widerwärtig schmatzende und schlürfende Geräusche von sich. Die Asiatin war nach wenigen Sekunden verstummt und hing leblos und blass in den Armen ihres Mörders, der alles um sich herum vergessen zu haben schien.

    Margarita erwachte wie aus einer Trance. Sie wurde mehr von ihrem Instinkt als von ihrem Verstand geleitet. Sie rappelte sich mühsam auf und bekam ein flaues Gefühl im Magen. Margarita ging in die Knie und übergab sich geräuschvoll. Ihre Würgegeräusche vermischten sich mit ihrem eigenen hysterischen Schluchzen. Dies alles schien den Mann in schwarz nicht zu stören. Er hatte sein Opfer inzwischen vor sich auf den Boden gelegt und saugte wie in Ekstase weiterhin das Blut aus dem Hals der jungen Asiatin bis ihr einst schöner Körper eine nahezu völlig entleerte Hülle war.

    Auf allen vieren rutschte Margarita über den schmutzigen Boden auf die Ausgangstür zu. Sie hatte hämmernde Kopfschmerzen, sah ihre Umgebung nur verschleiert und nasser Schweiß klebte ihr bei jeder Bewegung am Körper. Die Wirtsfrau versuchte nur auf den Boden zu blicken und die widerlichen Geräusche zu ihrer Rechten soweit es ging zu ignorieren. Stück für Stück kam sie dem Ausgang näher. Sie schloss ihre Augen, die voller Schweiß brannten und tränten und versuchte die wenigen Zentimeter bis zum vermeintlich rettenden Ausgang mit letzter Kraft zu überwinden.

    Da stieß sie plötzlich gegen ein Hindernis. Margarita hob langsam den Kopf und war zunächst verwirrt, da sie keinen Schatten vor sich sah. Dann erkannte sie jedoch die dünnen Beine des ganz in Schwarz gekleideten Wesens, das vor ihr stand und mit blutverschmiertem Grinsen triumphierend auf sie hinab starrte.

    Margarita wollte sich in adrenalingepeitschter Panik herumwerfen und einfach nur so viel Distanz wie möglich zwischen sich und dem unheimlichen Mörder bringen, doch der reagierte erneut schneller als erwartet, packte die Wirtsfrau an den Armen und zerrte sie in einem Ruck hoch, als ob sie federleicht wäre. Dann drückte er Margarita unbarmherzig gegen die Wand. Die Russin stieß sich den Kopf an einem zischenden und glühend heißen Ventil. Margarita schrie überrascht auf und schien endgültig aus ihrer Schockstarre zu erwachen. Sie schrie laut auf, erst vor Schmerz und dann um Hilfe, bis sich die knochige Klaue ihres Gegners um ihren Hals legte und wie eine Schlinge langsam und stetig fester zudrückte, sodass ihre Stimme langsam erstickte.

    Margarita schlug hilflos um sich, doch selbst als sie es schaffte ihrem Gegenüber einen Kinnhaken zu verpassen, sodass sogar die Sonnenbrille des dürren Mannes auf den Boden fiel, lockerte dieser seinen Griff kein bisschen und führte sein schauriges Werk unbeeindruckt zu Ende. Margarita konnte nun in die pechschwarzen und blutunterlaufenen Augen des Mannes blicken. Es war, als ob sie in einen dunklen Schlund blicken würde und sie konnte in diesem Blick keinerlei menschliche Emotion erkennen, sondern lediglich animalische Gier. Der dürre Mann entblößte auch Margarita seine inzwischen blutverschmierten Zähne, die wie scharfe Klingen blitzten. Das spitze Gebiss wurde zu einem diabolischen Lächeln, das Margarita das Blut in den Adern gefrieren ließ.

    Während der dürre Asiate sein neues Opfer weiter unbarmherzig mit seiner rechten Hand würgte, spielte seine linke Hand mit dem lockigen Haar der Wirtsfrau und schob es genüsslich und sadistisch langsam zur Seite und dann nach hinten, bis der Hals der Wirtsfrau ganz frei lag. Margarita war inzwischen kaum mehr bei Bewusstsein und bekam fast gar keine Luft mehr. Dunkle Schleier legten sich vor ihre Augen und vernebelten ihre Sinne.

    Doch kurz bevor die gnädige Bewusstlosigkeit ihr das schlimmste Leid ersparen konnte, blitze plötzlich ein roter Schleier des Schmerzes vor ihren Augen auf, als sich die Zähne ihres Gegners geräuschvoll in ihren Hals bohrten. Margarita spürte wie der dürre Asiate ungestüm den roten Lebenssaft aus ihr heraussaugte. Mit jedem gierigen Schluck fühlte sich Margarita schwächer und ausgelaugter.

    Irgendwann spürte Margarita aber etwas Neues in sich. Es war zunächst so, als ob eine Art Bewusstsein, das nicht ihr gehörte, von ihr Besitz ergriff. Es fühlte sich an, als ob sich eine neue Persönlichkeit in ihr formen würde. Zunächst wehrte sich Margarita gegen dieses neue Bewusstsein, doch irgendwann empfand sie ganz neue Emotionen. Sie spürte wie sich der unbändige Blutdurst ihres Gegners auf sie übertrug. Das Gefühl, was vor wenigen Sekunden noch abstoßend und lebensbedrohlich gewesen war, regte sie jetzt an. Margarita spürte wie ihre Brustwarzen hart wurden, wie ihr kalte Schauer über den Rücken liefen und wie ihre Intimsphäre angenehm feucht wurde. Gleichzeitig zuckten abartige Gedanken durch ihren Kopf. Sie hatte auf einmal Lust sich ihrem Gegner ganz hinzugeben. Sie wollte, dass er jeglichen Lebenssaft aus ihr heraussaugte. Sie wollte seine Dominanz spüren. Sie wollte sich ihm sexuell hingeben. Dann spürte sie plötzlich selbst einen Durst, der ihre ganze Existenz umfasste. Margarita gierte plötzlich nach Blut und dieser Drang nahm sie so sehr ein, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Die neue Persönlichkeit nahm immer mehr Besitz von ihr ein und fusionierte irgendwann mit den kläglichen Resten ihrer ursprünglichen Seele.

    Irgendwann wurde der Blutdurst wieder schwächer. Margarita merkte nur noch schemenhaft wie der dürre Asiate ihren Körper fast schon behutsam wie ein Künstler auf dem Boden ablegte und ihr geradezu zärtlich über das Gesicht strich. Sie realisierte kaum mehr, dass der Mann in schwarz ihr langsam ihr Kleid auszog, ihren Körper Stück für Stück mit seinen Händen entdeckte und sich dabei selbst auszog. Margarita schwebte in einem kontroversen Bewusstseinszustand zwischen erotischer Ekstase und kompletter körperlicher Erschöpfung. Dieser wirre Schleier durchbrach kurz, als der dürre Mann über ihr in sie eindrang und sich in rhythmischen Bewegungen mit ihr vereinte. Margarita spürte irgendwann einen tauben Orgasmus wie durch einen Schleier. Auf der einen Seite war es so, als ob sie eine gewisse Scham dabei empfand und sich mental gegen diesen Akt sträubte. Auf der anderen Seite schien auch ein Teil ihrer neuen Persönlichkeit Kontrolle über sie zu gewinnen, der die Ekstase genoss und sich ihr zügellos hergab. Ihr Partner schien zu spüren, dass Margarita noch nicht einhundertprozentig ihm gehörte und nicht ganz bei der Sache war. Diese Erkenntnis machte den dürren Mann wütend und so zog er das Tempo an. Seine Bewegungen wurden fordernder, brutaler und abgehackter. Sein Atem ging nur stoßweise, die Gier glühte in seinen Augen und immer wieder bohrte er seine Zähne in den geschundenen Hals der Wirtsfrau, die nun apathisch unter ihm lag.

    Margarita registrierte nur noch, dass ihr Partner einen Orgamus hatte und wie sein Geschlecht ungezügelt in ihr vibrierte. Dann ließ er grimmig von ihr ab und wandte sich der Asiatin zu, die immer noch reglos auf der anderen Seite des Maschinenraumes lag. Grob und brutal wie ein Vergewaltiger riss er der hübschen Dame die Kleider vom Leib und drang bald auch in sie wie in einen gefühlslosen Gegenstand ein, obwohl er erst wenige Minuten zuvor einen Orgasmus gehabt hatte. Die unheimliche Gestalt schien vor Potenz nur so zu strotzen. Dabei stöhnte und schrie der dürre Mann, während die Asiatin fast regungslos die Schande über sich ergehen ließ. Margarita realisierte in einem letzten Aufbäumen ihrer geschundenen alten Seele, dass ihr Anblick dem der hilflos zuckenden apathischen Asiatin sehr ähnlich gewesen sein musste.

    Als der dürre Mann schließlich erneut zum Orgasmus gekommen war, ließ er auch von seinem zweiten Opfer ab und blickte plötzlich auf einen Neuankömmling, der regungslos in der Tür gestanden und die letzten Minuten kommentarlos beobachtet hatte. Er ähnelte dem brutalen Mörder wie ein eineiiger Zwilling. Auch der Neuankömmling war hochgewachsen, hager und ganz in schwarz gekleidet. Er trat auf den Mörder und Vergewaltiger zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

    Margarita realisierte noch seltsam neutral, dass sie es hier mit zwei Vampiren zu tun haben musste, die in diesem Moment gemeinsam den Maschinenraum verließen und die beiden Frauen nicht einmal mehr eines Blicks würdigten. Dann erfasste sie die Todesangst ihrer ursprünglichen Persönlichkeit, die sich ein letztes Mal in ihr gegen die neue Präsenz auflehnte. Diese erneute emotionale Anstrengung war dann zu viel für die geschundene Wirtsfrau. Alles um sie herum fing an sich spiralförmig zu drehen, als ob sie viel zu viel Alkohol getrunken hätte. Sie merkte nicht einmal mehr, dass sie sich noch geräuschvoll übergab, bevor sie schließlich ihr Bewusstsein verlor.

     

    *

     

                Langsam lichtete sich der schwarze Schleier der Bewusstlosigkeit und brachte Mitrofan zurück in die triste Realität. Der alternde Polizist spürte einen dumpfen Schmerz an seinem Hinterkopf und als er diesen vorsichtig betastete, fühlte er dort eine stark angeschwollene Beule. Seine Pein verteilte sich allerdings auch auf seinen Rücken, da Mitrofan die letzten Minuten in ziemlich ungemütlicher Haltung und auf engstem Raum verbracht hatte. Als der Polizist sich orientieren wollte, empfing ihn nur Schwärze, Staub und der Gestank irgendwelcher Reinigungsmittel. Lediglich ein paar Zentimeter vor seinen Füssen bemerkte der Polizist ein diffuses Licht unter einer Tür.

                Mühsam quälte sich Mitrofan auf die Beine und tastete stöhnend nach der Klinke dieser Tür. Er zog daran, aber die Tür war abgeschlossen. Erschöpft sank Mitrofan zurück. Ihm fehlten derzeit die Kraft und das passende Werkzeug um die Tür aufzubrechen und aus diesem Gefängnis, das wohl eine Art Abstellkammer war, zu entkommen. So konzentrierte er sich auf mögliche Geräusche aus dem Gang und ging die seltsamen Ereignisse der vergangenen Stunde noch einmal mental durch.

                Das letzte, an was Mitrofan sich erinnerte, war, dass er den Leichnam eines ungehobelten Geschäftsmannes aus Wladiwostok untersucht hatte und daraufhin niedergeschlagen worden war. Vermutlich war der Mörder noch am Tatort gewesen und wollte Mitrofan aus der Schusslinie haben. Die Tatsache, dass er noch am Leben war, brachte Mitrofan zu dem Schluss, dass er wider Willen in eine Spirale der Gewalt geraten war, die eine Nummer zu groß für ihn war und in die bedrohliche Geschäftsmänner, eine mysteriöse nordkoreanische Delegation und vielleicht sogar das russische Militär und die russische Regierung involviert waren. So gesehen war es vielleicht sogar das Beste für Mitrofan abseits des Geschehens in einem Abstellraum zu sitzen.

                Doch dann gab sich der Polizist einen Ruck und legte seine träge Selbstgefälligkeit ab. Sein unbestechlicher Gerechtigkeitssinn kam wieder zurück. Der russische Geschäftsmann mochte ein Unsympath gewesen sein, aber er war dennoch brutal ermordet worden! Die Zugreisenden waren derzeit nicht mehr in Sicherheit! Würde es bald schon weitere Todesopfer geben und konnte die Lage endgültig eskalieren? Was war wohl aus den tapferen Journalisten Sergej und Vitali geworden, die ebenso wie er vom Regen in die Traufe geraten waren und sich nun unbedarft in einen brenzligen Konflikt einmischten, indem sie um Hilfe bitten wollten? Ging es der charmanten Wirtsfrau Margarita gut und befand sie sich noch wie abgesprochen in ihrem Zugabteil?

                All diese quälenden Fragen und Ungewissheiten, auf die Mitrofan keinerlei Antworten kannte, nagten an dem Polizisten und ließen ihn zunehmend in Unruhe verfallen. Da hörte er mit einem Mal Schritte im Gang, die vor seiner Tür verstummten. Die Gestalt vor der Tür warf einen Schatten auf den schmalen Lichtspalt unter der Tür und machte sich hörbar am Schloss zu schaffen. Sekunden später ging die Tür auf und Mitrofan hatte sich bereits lauernd aufgerichtet.

                Der Kinnhaken traf den wachsamen Polizisten dennoch völlig unerwartet. Mehr überrascht als verletzt taumelte er zurück und stieß gegen einen mit dreckigen Lappen gefüllten Putzeimer, der geräuschvoll umfiel. Mitrofan selbst prallte gegen ein Regal, das unter seinem Gewicht erzittert und plötzlich fielen mehrere staubige Plastikflaschen mit veralteten Reinigungsmitteln hinunter und trafen ihn schmerzhaft an Kopf und Schultern. Mitrofan krümmte sich zusammen und glitt an der Wand zu Boden.

                Sein Gegner wartete nicht länger ab und trat entschlossen auf den hilflosen Mitrofan zu. Der Polizist betrachtete sein Gegenüber flüchtig. Es war ein drahtiger Asiate mit kaltem und analytischem Blick, der vielleicht Ende zwanzig oder Anfang dreißig war und in seiner Hand eine perfekt zusammengeschnürte Metallschlinge hielt. Siedend heiß fiel Mitrofan ein, dass auch der russische Geschäftsmann mit solch einer Metallschlinge erwürgt worden war. Stand ihm nun dasselbe unmenschliche Schicksal bevor?

                Mitrofan sollte dies nie erfahren, denn in diesem Moment ertönte ein panischer Hilfeschrei weiter hinten aus dem Gang. Der Polizist musste nicht lange überlegen um zu begreifen wer sich dort in einer misslichen Lage befand. Er hätte die sonst so beruhigende und melodische Stimme unter Tausenden wiedererkannt. Es handelte sich um einen Hilfeschrei seiner geliebten Margarita.

                Der Schrei brachte den eben noch so zielstrebigen Asiaten völlig aus dem Konzept. Er hielt in seinen Bewegungen inne und trat vorsichtig rückwärts zurück in den Gang. Dann schien er jemanden entdeckt zu haben und ließ die Metallschlinge achtlos fallen. Stattdessen schob der junge Asiate seinen langen schwarzen Mantel zur Seite und ergriff eine Art zusammengeklappte Armbrust, die der Asiate in Sekundenschnelle zusammenbaute. Dann griff er nach seinem kleinen schwarzen Rucksack und entnahm diesem einige Bolzen oder kleine Pfähle. Weniger Augenblicke später war die antiquitiert wirkende Waffen einsatzfähig. Bevor der wendige Asiate jedoch dazu kam in den Angriffsmodus überzugehen, ergriff aber der bislang noch unsichtbare Gegner die Initiative und Mitrofan dankte in diesem Momenten Gott, dass er immer noch abseits des Gefechts in der Abstellkammer lag.

                Vor ihm ließ sich der Asiate ansatzlos auf den Boden fallen und rollte sich geschickt ab, als ein Feuerlöscher seinen Kopf nur knapp verfehlte und stattdessen geräuschvoll ein Glasfenster zerschlug. Dies war allerdings erst der Beginn des Kampfes, denn plötzlich sah Mitrofan eine zweite Gestalt mit fast unmenschlicher Akrobatik quer die Seitenwand hochlaufen. Der wendige Angreifer war ebenfalls Asiate und ganz in Schwarz gekleidet. Er wirkte trotz seines scheinbar jungen Alters und seiner unfassbaren Wendigkeit auf Grund seiner extrem blassen Haut und des brüchigen blutroten Mundes schon seltsam verbraucht. Der mysteriöse Angreifer stieß sich von der äußeren Zuginnenwand ab und zückte fast simultan zwei spitze Dolche, die auf den Mann mit der Armbrust zielten.

                Der Mann mit der Armbrust hatte erneut das Nachsehen, denn der Gegner war viel zu schnell, als dass er einen präzisen Schuss mit seiner komplizierten Waffe hätte abgeben können. Erneut blieb ihm nur die Flucht, indem er mit einem geschmeidigen Hechtsprung den Angriff des Gegners unterlief, sich schnell abrollte und nun mit der Zuginnenwand im Rücken dem Mann mit den Dolchen gegenüberstand.

                Der unheimliche Gegner stand nun direkt vor der Abstellkammer, in der Mitrofan benommen auf dem Boden lag. Er musterte die seltsame Gestalt und merkte sofort, dass mit ihr irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Zum einen war da ein elender fauler Gestank, den er auf Grund seines Berufes nur zu gut kannte. Von dem blassen Mann mit den Dolchen ging ein widerlicher Geruch von Moder und Verwesung aus, der dem labilen Mitrofan fast den Magen umdrehte.

                Doch das allein war nicht alles. Etwas Anderes störte ihn an der Erscheinung des blassen Kämpfers. Zunächst realisierte Mitrofan nicht, was so ungewöhnlich an der Gestalt war, die direkt vor der Abstellkammer verharrte und nur Augen für ihren Gegner hatte. Als Mitrofan dann aber den flackernden Schatten des Angreifers mit der Armbrust vor einem Zugfenster und im diffusen Licht eines Tunnels sah, in den der Zug gerade ratternd einfuhr, fiel der Groschen endlich. Der blasse Angreifer mit den Dolchen warf keinen Schatten!

                Und da war noch etwas Anderes! Mitrofan blickte auf das Zugfenster, in dem sich der verschwitzte Rücken des Mannes mit der Armbrust spiegelte und er erkannte darin sogar sich selbst, wie er mit blassen Gesicht in einem Chaos aus Besen, Putzeimern und Reinigungsmitteln in der Abstellkammer lag. Die Gestalt des anderen Angreifers sah er in der Fensterspiegelung jedoch nicht! Es sah so aus, als wären nur der erschöpfte Mitrofan und der kampfbereite Mann mit der Armbrust in diesem Teil des Zuges. Zunächst glaubte Mitrofan an einer banale Sinnestäuschung und dass ihm sein verwirrter Kopf nach all den Anstrengungen der letzten Stunde einen Streich gespielt hatte. Doch er ahnte bereits, dass er die Wahrheit instinktiv nicht akzeptieren wollte und verzweifelt nach einer rationalen Erklärung suchte, die es aber nicht gab. Wäre Mitrofan allein gewesen, so hätte er sich vermutlich irgendeine Schwäche eingeredet, aber da war noch der junge und wachsame Asiate, der eben ganz eindeutig einen Schatten warf und von dem Neuankömmling brutal attackiert worden war. Nach den unfassbaren Ereignissen um die Gottheit aus dem Eis hatte Mitrofan gelernt, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als er sich vorstellen konnte. Früher hatte er bizarre Phänomene wie diese banalisiert, doch seine Einstellung dazu hatte sich grundlegend geändert. Hier schien er es erneut mit einem Wesen zu tun zu haben, dass nicht komplett menschlich war und über unheimliche Kräfte zu verfügen schien.

                Mitrofan hatte seine verwirrende Analyse kaum zu Ende gesponnen, als sich die beiden Kontrahenten vor ihm fast ansatzlos wieder duellierten und nach der starren Pause jeweils auf eine Unaufmerksamkeit des Gegners zu hoffen schienen. Der schattenlose Mann schleuderte mit der linken Hand einen Dolch in Richtung seines Gegners, der erneut reagieren statt selbst angreifen musste. Der geschmeidige Angreifer mit der Armbrust wagte einen Hechtsprung nach vorne und schaffte es dabei zum ersten Mal selbst in den Angriff überzugehen. Damit überraschte er seinen unheimlichen Gegner, der von dem hektisch abgeschossenen Pflock noch heftig am rechten Oberarm gestreift wurde. Ein Teil seiner schwarzen Kleidung wurde dabei sogar völlig zerfetzt. Ein normaler Mensch hätte auf diese Verletzung wenigstens mit einem Schrei oder einem Stöhnen reagiert, aber der Mann in schwarz wirbelte fast schon elegant zur Seite und positionierte sich breitbeinig vor der Abstellkammer, um seinem Gegner wieder ganz  gegenüber zu stehen.

                Der Kämpfer mit der Armbrust wusste, dass er seinen übermenschlichen Gegner nur mit List und Schnelligkeit besiegen konnte. Daher feuerte er noch während er sich aus seiner hockenden Position aufrichtete einen weiteren Pflock auf seinen Kontrahenten ab.

                Mitrofan realisierte, dass er sich plötzlich selbst in der Schussbahn befand. Doch der rüstige Polizist konnte sich derzeit nicht aus seiner misslichen Lage befreien und hatte Glück hilflos zwischen den Putzeimern auf dem Boden zu liegen. Der Pflock des stillen Kämpfers verfehlte den rasant agierenden Mann in schwarz nur knapp und jagte zischend in die Abstellkammer hinein. Dort fräste sich der Pflock in eine schwere Tonne, die auf einem wackligen Regal über Mitrofan stand. Der Behälter begann bedrohlich zu wackeln, doch das Regal hielt noch und brach nicht über Mitrofan zusammen. Allerdings schoss aus dem Einschussloch eine zähe und chemisch stinkende Flüssigkeit, die dem alternden Polizisten direkt ins Gesicht tropfte. Dieser drehte sich geräuschvoll prustend zur Seite und erkannte am Geruch und Geschmack der purpurfarbenen Flüssigkeit, dass es sich hier um eine Art Waschgel handeln musste. Mühsam rappelte sich Mitrofan auf und stolperte in den toten Winkel der kleinen Abstellkammer. Hier konnte er kaum von irgendwelchen Dolchen oder Pflöcken getroffen werden, behielt aber den energisch geführten Kampf weiterhin im Auge.

                Soeben warf der Mann in schwarz einen weiteren Dolch, der seinen Gegner nur knapp verfehlte und in der hölzernen Tür des Abteils einschlug, in dem vor Minuten noch Mitrofan und seine drei Begleiter gesessen hatten. Der unheimliche Angreifer agierte blitzschnell und schickte bereits einen zweiten Dolch auf die Reise, der den Gegner am Bauch streifte und dann in die Holzwandtrennwand zwischen einem Reiseabteil und dem Gang stecken blieb. Der in die Defensive gedrängte Kämpfer schrie vor Schmerz auf und fluchte in einer Mitrofan fremden Sprache. Dieser Moment der Unachtsamkeit genügte dem erbarmungslosen Kämpfer, der einen dritten Dolch aus seinem weiten Umhang hinter seinem Rücken hervorholte und in einer fließenden Bewegung in Richtung des Gegners schickte.

                Dieses Mal erwischte es den bereits verwundeten Mann mit der Armbrust noch härter. Der Dolch bohrte sich unterhalb seiner linken Schulter geräuschvoll sirrend in die Haut. Der Mann wurde von der enormen Kraft der Attacke buchstäblich mitten im Lauf nach hinten gerissen und landete nun seinerseits inmitten der Putzeimer und Waschmittel der chaotischen Rumpelkammer. Mitrofan zuckte erschrocken zusammen und ihm brach der Schweiß aus, als er realisierte, dass sich das dramatische Ende des mörderischen Duells in seiner unmittelbaren Nähe abspielen würde.

                Schon trat der düstere Angreifer mit den unmenschlichen Kräften mit langsamen Schritten näher, als ob er sich seines Sieges bereits gewiss sei. Der unterlegene Kämpfer drehte sich benommen zur Seite und griff nach der Armbrust, die ihm bei dem Sturz aus den Händen gerissen worden war, doch ein weiterer Dolchwurf mitten in seine rechte Brust riss den drahtigen Asiaten wieder brutal zurück zu Boden. Der Mund des Verlierers öffnete sich schnappend und ein feiner Blutstrahl rann an seinen Winkeln herab. Der Blick des Unterlegenen glitt ins Leere und seine Augen wurden langsam glasig. Der Dolch, der sich beinahe bis zum Schaft in die Brust gebohrt hatte, bewegte sich mit dem langsamer werdenden Herzschlag des Sterbenden auf und ab, bis sich der Verlierer ein paar letzten unkontrollierten Zuckungen ergab und sein Leben ächzend aushauchte.

                Mitrofan hatte den kurzen, aber intensiven Todeskampfes des Mannes mit einer Mischung aus Entsetzen und Erleichterung beobachtet. Er war entsetzt darüber, wie der junge Mann gestorben war. Gleichzeitig dachte er daran, dass das Auftauchen des übermächtigen Gegners ihn vielleicht vor dem Tod bewahrt hatte, da der tote Asiate kurz davor gewesen war ihn mit einer Metallschlinge zu erdrosseln. Allerdings dachte der Polizist daran, dass sein Todesurteil vielleicht nur aufgehoben, aber nicht aufgeschoben worden war.

                Der alte Russe spürte, dass der Mörder nur wenige Zentimeter von ihm entfernt kurz hinter dem Türrahmen zur Abstellkammer stand und sein Opfer musterte. Mitrofan konnte dies freilich nicht sehen oder hören, denn der Unheimliche warf keinen Schatten und gab auch sonst kein Geräusch von sich. Da war nur dieser widerliche Gestank nach Tod und Verderben, der von dem Mann in schwarz ausging. Mitrofan drückte sich noch tiefer in den toten Winkel der Abstellkammer zurück, schloss verkrampft die Augen und betete zu Gott, dass der Unheimliche ihn entweder noch gar nicht bemerkt hatte oder er ihm schlicht egal war.

                Für einige unheilvolle Sekunden geschah gar nichts, dann hörte Mitrofan ein kaum merkliches Rascheln und registrierte, dass sich der widerwärtige Gestank drehte und schleichend langsam verschwand. Der alte Russe nahm all seinen Mut zusammen und spähte um die Ecke des Türrahmens. Dort ging der Unheimliche mit wehendem Umhang weiter den Gang entlang und trat dann in eine kleine Kammer, die wohl eine Art Maschinenraum sein musste. Inzwischen wurde es in diesem Teil des Zuges merklich kälter, da von draußen ein ungemütlicher Schneesturm durch das während des Kampfes zerbrochene Fenster in den Gang wehte. Trotz der klirrenden Kälte und der vermeintlichen Sicherheit, dass Mitrofan dem Tod so gerade noch von der Schippe gesprungen war und sich kein potenzieller Gegner mehr im Gang befand, harrte der Polizist eine Weile aus. Er versuchte erst einmal seinen Herzschlag etwas zu beruhigen und wieder klar zu denken, denn jede überstürzte Entscheidung könnte an diesem verrückten Tag seinen Tod bedeuten.

                Mitrofan erinnerte sich mit einem Frösteln daran, dass er vor wenigen Minuten den gepeinigten Hilfeschrei Margaritas gehört hatte. Der Hilfeschrei war aus der Richtung gekommen, in die nun auch der unheimliche Kuttenträger gegangen war. Mitrofans Herz sagte ihm, dass er unbedingt nachsehen musste, was da vorgefallen war. Sein Verstand aber sagte ihm, dass der erbarmungslose Kuttenträger ihn nicht ein zweites Mal verschonen würde, wenn er seinen Weg kreuzte. Mitrofan zermarterte sich das Gehirn nach anderen Lösungen. Er dachte dabei automatisch an Vitali und Sergej. Sie mussten irgendwo auf der anderen Seite des Zuges stecken. Zu dritt hatten sie sicherlich mehr Chancen Margarita zu helfen und den scheinbar übermächtigen Gegnern gegenüberzutreten. Dabei dachte Mitrofan auch an das geweihte Agnus Dei des mutigen Vitalis, das ihnen im Kampf gegen die unheimliche Gottheit aus dem Eis schon das Leben gerettet hatte.

                Kaum hatte sich Mitrofan dazu durchgerungen die Abstellkammer zu verlassen und nach seinen beiden neuen Freunden zu suchen, als der unheimliche Schattenmann wieder aus dem Gang trat und mit grimmigen und fast schon tadelnden Blick auf eine zweite Gestalt stierte, die nun ebenfalls aus dem Maschinenraum trat. Mitrofan blieb fast das Herz stehen, als er realisierte, dass die zweite Gestalt der ersten bis aufs Haar glich und er es nun mit zwei potenziell unschlagbaren Gegnern zu tun hatte. Was ihn aber noch viel mehr schockte, war die Tatsache, dass sowohl das Gesicht, als auch die Kleidung der blassen Gestalt völlig mit Blut besudelt war und der Unheimliche im Gegensatz zu seinem Begleiter ein wild flackerndes Fieber in seinen Augen hatte.

                Mitrofan fragte sich mit einem flauen Gefühl im Magen, was wohl in dem Maschinenraum vorgefallen war, aber insgeheim kannte er schon die grausige Antwort, obwohl er sie sich nicht eingestehen mochte. Doch für Sentimentalitäten war jetzt ohnehin kein Platz denn nach einem giftigen und heiseren Wortwechsel zwischen den zwei Dunkelmännern, der in Mitrofan geradezu das Blut in den Adern gerinnen ließ, traten die beiden schnurstracks den Gang hinunter und auf sein Versteck zu. Da erst realisierte Mitrofan, dass er nicht mehr versteckt war und geradewegs wie gelähmt im Türrahmen stand und den beiden Unheilvollen wie das Lamm dem Schlächter entgegenblickte. In diesem Moment realisierten auch die beiden Düstermänner, dass sie entdeckt worden waren und der eben noch erbarmungslos kämpfende Anführer unter den beiden Gestalten wies mit seiner knochigen Hand in vorwurfsvoller Entschlossenheit auf Mitrofan. Sein blutbefleckter Begleiter bleckte in gierigem Wahn seine spitzen Zahnreihen und lief schneller und schneller auf den erstarrten Mitrofan vor.

     

    *

     

    Während Sergej und Vitali noch nervös überlegten, was sie den Soldaten erzählen sollten, wenn diese ihren bewusstlos geprügelten Kollegen bei ihnen auf der Toilette finden würden, agierte der wendige Koreaner. Behände sprang er auf eines der Waschbecken und machte sich an dem blinden Fenster zu schaffen, das man allerdings nur kippen und nicht ganz aufmachen konnte. Das schien jedoch kein größeres Hindernis für den flinken Asiaten zu sein, der sich nun mit beiden Händen an der Toilettenwand abstützte und gezielt gegen den Sperrmechanismus des Fensters trat. Diese Prozedur wiederholte er kraftvoll und rhythmisch, verursachte dabei jedoch jede Menge Lärm, der auch bei den Soldaten im Gang nicht unbemerkt blieb. Die beiden Journalisten wurden zunehmend nervöser, aber der schweigsame Asiate schien Nerven aus Drahtseilen zu haben und trat immer wieder gegen die rostigen Scharniere des Fensters.

    Die Türklinke der versperrten Badezimmertür rappelte schon bedrohlich und einige Soldaten klopften aufgebracht dagegen, als das Fenster kreischend aus seinem Rahmen glitt, nach hinten schwang und dann endgültig durch sein Eigengewicht aus seiner Verankerung riss und scheppernd auf das zweite Waschbecken krachte, was durch die Wucht des Aufpralls auseinanderbrach. Der Koreaner schwang sich sofort durch die schmale Öffnung in das Schneegestöber. Dann blickte er kurz zu beiden Seiten und dann zurück zu Vitali und Sergej. Nach kurzem Zögern nickte er den beiden ermunternd zu und zog sich dann mit einem athletischen Klimmzug auf das Zugdach.

    „Verdammt, Vitali, der will, dass wir uns da durch zwängen und ihm aufs Dach folgen!“, bemerkte Sergej und bitterer Sarkasmus schwang in seiner Stimme mit.

    „Das ist auch die einzige vernünftige Idee, die uns jetzt noch bleibt.“, bemerkte Vitali und kletterte mühsam auf das noch intakte Waschbecken.

    Sergej schüttelte entgeistert den Kopf, folgte aber seinem besten Freund. Nervös blickte er zur Tür, die inzwischen unter den gezielten Tritten der fluchenden Soldaten erzitterte und dieser Wucht nicht mehr lange standhalten würde.

    Mühsam zog sich Vitali durch die schmale Fensteröffnung. Sofort ließ ihn das dichte Schneegestöber erblinden und er drohte den Halt zu verlieren. Verkrampft hielt er sich am Fensterrahmen fest und fragte sich, wie es nun weiter gehen sollte. Eine Leiter war weit und breit nicht in Sicht. Er konnte sich ebenfalls nirgendwo zur Seite hangeln. Ihm blieb nur die Möglichkeit sich irgendwie auf das Zugdach zu ziehen und von dort aus zur nächsten Leiter zu kriechen. Vitali warf auch einen ängstlichen Blick in die Tiefe. Der Zug fuhr durch ein schneebedecktes Feld und obwohl der weiße Samt so weich aussah, wusste Vitali genau, dass dies nur Trug war. Ein Sturz aus dieser Höhe und bei dieser Geschwindigkeit konnte ihm selbst im hohen Schnee alle Knochen brechen.

    Hinter ihm wurde Sergej bereits unruhig, da die Tür sich bereits bedrohlich unter den Tritten der Soldaten nach innen bog. In diesem Moment ertönte sogar erstmals ein unheilschwangeres Knirschen. Vitali verfluchte seinen inneren Schweinehunde und wusste, dass er sich jetzt endlich zu einer Entscheidung überwinden musste. Dabei kam er zu dem Schluss, dass selbst ein Sturz in den tiefen Schnee noch besser war als die Schikanen einer Horde erboster Soldaten.

    In diesem Moment tauchte plötzlich das Gesicht des drahtigen Koreaners vor ihm auf, der über das Zugdach robbte und Vitali eine Hand entgegenstreckte. Der Journalist hatte nicht lange Zeit um darüber nachzudenken, ob er dem schweigsamen Fremden vertrauen konnte oder nicht, sondern ergriff dessen Hand, drückte sich Stück für Stück mit beiden Beinen aus dem Fensterrahmen und ergriff mit der freien Hand die Abgrenzung des Zugdaches. Dann klimmte sich Vitali schnaufend in die Höhe, kniff die Augen zusammen und versuchte seine Umgebung komplett auszublenden. Der gewaltige Adrenalinschub in dieser prekären Lage und die erstaunlich kräftigen Arme seines koreanischen Retters halfen dem jungen Journalisten dabei sich Stück für Stück nach oben zu arbeiten, bis er sich endlich aus eigener Kraft auf das extrem kalte Dach ziehen und kurz verschnaufen konnte.

    Eine lange Pause gönnte sich der mutige Russe jedoch nicht, denn er wollte seinem Freund Sergej helfen, für den die Zeit allmählich knapp wurde. Ein Teil der Eingangstür zum Sanitärbereich war bereits aus der Angel getreten worden und jetzt hörte man sogar ein paar gezielte Schüsse auf das Türschloss. Dementsprechend hektisch zog sich Sergej ins Freie und hätte auf Grund des schnellen Fahrtwindes beinahe das Gleichgewicht verloren.

    Da bemerkte Vitali, dass hinter der nächsten steilen Kurve plötzliche eine lange Brücke kam, die über einen trägen Strom führte. Wenn Sergej dort hineinfiel, dann war es definitiv um ihn geschehen. Vitali wollte sich und seinen Freunden anspornen es auf das Dach zu schaffen, bevor der Zug über die holprige Aluminiumbrücke fuhr.

    „Los, Sergej, du packst das! Komm, beeil dich! Nimm unsere Hände!“, rief Vitali seinem Kollegen zu, der ebenfalls mit schreckgeweitetem Blick das nahende Unheil registriert hatte.

    Die Aufforderung seines Kollegen schien Sergej aus seiner Schreckstarre zu erwachen. Mit grimmiger Entschlossenheit ergriff er zunächst die Hand seines Freundes, dann etwas zögerlicher die des drahtigen Koreaners und drückte sich dann mit beiden Beinen vom Fensterrahmen ab. Zu dritt hievten sie Sergej aufs Dach und alle drei brachen erst einmal vor Anstrengung schnaufend zusammen.

    Die Rettungsaktion war keine Sekunde zu früh gekommen, denn mit einem Bersten wurde nun auch der Rest der Toilettentür aus den Angeln gebrochen und eine ganze Horde von Soldaten drang in die sanitären Einrichtungen ein. Es würde nur wenige Augenblicke dauern, bis die Soldaten erkannt hatten, wohin die Flüchtlinge entkommen waren. Schon hörten die beiden Journalisten und der Koreaner hektisch gebrüllte Befehle eines Generals alles sorgsam zu durchsuchen.

    „Komm, Sergej, wir müssen hier weiter!“, rief Vitali durch das Schneegestöber, als er sah wie der Koreaner über das Dach zurück in Richtung des Speisewaggons robbte.

    Auch die beiden Journalisten setzten sich fluchend und weitaus weniger sicher und agil in Bewegung und folgten ihrem unfreiwilligen Partner. Dies geschah keine Sekunde zu früh, denn plötzlich durchsiebten Pistolenkugeln die Decke der Sanitäreinrichtungen, wo das Trio sich noch vor wenigen Sekunden ausgeruht hatte. Die neuerliche Bedrohung spornte die beiden Russen und den Koreanern nochmals an das Tempo zu verschärfen und sich durch das erbarmungslose Schneegestöber in eine trügerische Sicherheit zu begeben.

     

    *

     

    Mitrofan rannte um sein Leben. Immer wieder blickte er über seine Schulter nach hinten. Dort sah er eine bleiche Gestalt, die hastig hinter ihm her humpelte. Das dunkle halblange Haar des Angreifers hing ihm in wirren Strähnen ins kalkweiße Gesicht. Die blutverschmierten Lippen waren dünn wie Strichlinien. Lediglich die Augen hoben sich aus der finsteren Visage ab. Der Angreifer hatte dunkle Ringe um die Augen. Die Augenbrauen waren hingegen unnatürlich buschig. Die Pupillen waren unnatürlich geweitet. Die Augen selbst waren tiefblau wie Gletscherseen, aber darum herum waren feine geplatzte rote Äderchen. Dem Unheimlichen stand eine Gier ins Gesicht geschrieben, die ihn fast wahnsinnig machte. So humpelte der Sonderling in der dunklen und mit Blutspritzern übersäten weiten Kleidung dem alten Polizisten hinterher, dem nach der langen Bewusstlosigkeit noch der Schädel brummte und alle Knochen weh taten. Doch darauf durfte Mitrofan keine Rücksicht nehmen.

                Endlich erreichte der Polizist die Tür, die zum Zwischenraum des nächsten Abteils führte. Hastig drückte Mitrofan die Klinke herunter und erstarrte. Die Tür war abgeschlossen worden. Der Polizist drehte sich kreidebleich um und erblickte den zweiten Angreifer, der in fast schon überheblicher Ruhe weit hinter seinem wilden Kompagnon stand. Der Mann in schwarz hielt triumphierend einen Schlüsselbund hoch und entblößte dann seine weißen und unnatürlich langen Zähne. Mitrofan rann ein unheilvoller Schauer nach dem anderen über den Rücken. Hastig blickte er sich nach einem anderen Ausgang um, doch es gab keinen.

                Mitrofan saß in der Falle. Er kam zu dem Schluss, dass er lediglich zwei Möglichkeiten hatte. Entweder er sprang wie ein Lebensmüder aus dem fahrenden Zug, der gerade über eine rüstige Brücke raste, ins Ungewisse oder er verbarrikadierte sich in einem Zugabteil und hoffte, dass ihm irgendjemand schnell zur Hilfe kam.

                Der Polizist entschied sich für die zweite Variante und stürmte ins nächstbeste Abteil. Der heranstürmende Gegner hatte schon seine feingliedrigen Hände mit den unheimlich langen und gekrümmten Fingernägeln nach ihm ausgestreckt, als Mitrofan die Tür des Abteils zuschlug und abschloss. Dann sah er sich hektisch nach Gegenständen um, mit denen er sich verbarrikadieren konnte.

                Allerdings gab es da kaum Sachen, die ihm nützlich sein konnten. Auf der Gepäckablage waren ein paar altmodische Lederkoffer. Mitrofan zerrte sie herunter und machte sie auf, um nach irgendwelchen Gegenständen zu gucken, mit denen er sich besser verteidigen konnte. Im ersten Koffer waren lediglich gestickte Handtücher, altmodische Kleidungsstücke und ausgetretene Schuhe. Im zweiten Koffer fand er neben Kleidungsstücke ein paar Souvenirs. Dazu gehörten ein dickes Buch über die jungen Jahre der Sowjetunion, eine liebevoll verpackte Modelleisenbahn, eine Matroschka, etwas russische Schokolade, sowie jeweils eine Flasche Wodka und eine Flasche Absinth. Mirofan ergriff die Flasche Absinth und steckte eines der gestickten Handtücker aus dem ersten Koffer in den breiten Flaschenhals. Mit etwas Glück konnte er so eine Art Molotowcocktail improvisieren. Allerdings brauchte er dazu noch ein Feuerzeug. Inzwischen kratzte sein Verfolger mit seinen spitzen Fingernägeln schauerlich an der Tür und lugte mit fiebrigem Blick durch das kleine Fenster.

                Schaudern wandte sich Mitrofan ab und suchte eifrig weiter. Als Nächstes ergriff er einen ledernen Aktenkoffer, in dem sich neben Quittungen über horrende Zahlungen auch jede Menge russisches und nordkoreanisches Bargeld befanden. Mitrofan wollte den nutzlosen Koffer schon bei Seite schieben, als er an ein paar feinen Kratzspuren an der Seite merkte, dass es eine Art Geheimfach unter dem Koffer gab. Der Polizist ergriff die Ecken des Koffers und drückte das Innenfutter nach innen und nach oben, bis es heraussprang. Dann hob er es ganz heraus und blickte auf einige Dokumente, die größtenteils auf Koreanisch und auf Russisch geschrieben worden waren. Mitrofan blätterte das erste Dokument durch und stieß auf skizzenhafte Aufzeichnungen von Apparaten mit Kathetern, Pumpen und Schläuchen, die an einem menschlichen Körper angebracht waren. Dann fand er Bilder von künstlichen Organen, die bei ihm für ein flaues Gefühl in der Magengegend sorgten. Es folgten Schnappschüsse von Laboratorien in weitläufigen Bunkern, die noch aus der Sowjetzeit zu stammen schienen. Darin standen neben komplizierten medizinischen Apparaturen auch zwei mit dunkler Erde gefüllte Särge. Eine Reihe koreanischer und russischer Wissenschaftler hantierten auf diesen Bildern an einigen der Geräte herum. Dann folgten Bilder von zwei sogenannten Testpersonen. Mitrofan erstarrte, als er in den reglosen Gestalten mit den vielen Narben an Stellen, wo sich normalerweise lebenswichtige Organe befinden, die beiden Dunkelmänner erkannte, die ihm nach dem Leben trachteten. Die beiden bleichen Koreaner lagen in dunklen Räumen auf klinisch sauberen Metallliegen, hatten seltsame Maulsperren an, frische Schnittwunden am ganzen Körper und waren an eine komplizierte Apparatur angeschlossen, die ihnen das Blut aus den blassen Körpern extrahierte.

    Langsam begann Mitrofan zu verstehen, dass die beiden Unheimlichen nicht nur Täter, sondern auch Opfer waren. Er begann zu verstehen, dass die nordkoreanischen Gäste mit Hilfe einiger russischer Politiker und Wissenschaftler an einem grausamen Experiment gearbeitet hatten, dass aus normalen Menschen blutrünstige Killermaschinen machen zu schien.

    Doch Mitrofan blieb keine Zeit weitere Informationen zu den grausamen Projekten zusammenzutragen. Er hörte bereits das Klirren eines Schlüsselbundes und sah durch das kleine Fenster des Abteils, dass sein zweiter Verfolger sich an der Tür zum Abteil zu schaffen machte.

    Mitrofan ergriff seinen improvisierten Molotovcocktail und blickte sich hektisch nach einem Feuerzeug um. Da sah er einen alten Mantel, aus dessen Innenfuttertasche eine Zigarrenschachtel herausragte. Mitrofan ergriff den Mantel und durchsuchte alle Taschen nach einem Feuerzeug. In der linken Außentasche wurde er schließlich fündig. Neben einem stinkenden ledernen Portemonnaie fand er dort auch ein edles Zippo mit dem Emblem der nordkoreanischen Arbeiterpartei. Mit zitternden Händen ließ Mitrofan das teure Feuerzeug aufschnappen und eine bläuliche und stinkenden Flamme züngelte nach oben.

    In diesem Moment ertönte ein unheilvolles Klicken und die Tür zum Abteil ging quietschend und ratternd auf. Die beiden bleichen Gestalten blickten Mitrofan triumphierend entgegen. Erneut schickte der besonnene Kämpfer seinen blutverschmierten Kumpanen vor, der Mitrofan beinahe wie ein Betrunkener mit nach vorne gestreckten Armen entgegen stolperte.

    Der russische Polizist realisierte, dass er keine andere Wahl hatte, als selbst in den Angriff überzugehen. Zitternd hielt er seinen improvisierten Molotovcocktail in die Flamme des edlen Feuerzeuges und hoffte, dass sein Plan irgendwie aufging. Das gestickte Handtuch fing langsam an zu lodern und in Flammen aufzugehen, während der gierige Blutsauger ohne Furcht und wie eine Maschine weiter auf sein Opfer zu marschierte. Aus den Augenwinkeln heraus konnte Mitrofan erkennen, wie der zweite Schattenmann plötzlich zusammenzuckte, Mitrofan erst erschrocken und dann grenzenlos wütend anstarrte und seinem Begleiter irgendeine Warnung zu fauchte.

    Doch da war es bereits zu spät. Mitrofan wich so weit es ging nach hinten, bis er mit dem Rücken am Fenster stand und schleuderte dann den lodernden Molotowcocktail auf den gruseligen Vampir, der nur wenige Meter zentral vor ihm stand.

    Mitrofan traf direkt die furchtbare Visage des unerbittlichen Angreifers und umgehend ging selbige in Flammen auf. Der Vampir schrie animalisch und schrill auf. Die gepeinigten Schreie gingen dem hartgesottenen Mitrofan durch Mark und Bein, weil sie trotz allem noch irgendwie menschlich klangen.

    Das Feuer breitete sich rasch aus und die Flammen übertrugen sich auf die weite Kleidung des Unheimlichen. Wie eine lebende Fackel taumelte der Vampir gepeinigt von einer Seite auf die Andere und stürzte dann in grenzenloser Wut auf seinen menschlichen Peiniger zu.

    Mitrofan sprang zur Seite auf die Sitzbank, hielt sich an der Gepäckablage fest und trat seinem Gegner ins Gesicht. Dabei spürte er die drückende Hitze an seinem ganzen Körper. Der Vampir prallte nach hinten und fiel auf die gegenüberliegende Sitzbank zwischen die durchwühlten Koffer. Die wahllos herumliegenden Kleidungsstücke fingen ebenfalls Feuer. Der gepeinigte Vampir wedelte wild mit seinen dürren Armen und stieß dabei die Wodkaflasche um, die von der Sitzbank fiel und zerbrach. Durch die neue Zufuhr an Alkohol, auch wenn dieser nicht so hochprozentig war wie der fast pure Absinth, schossen weitere Flammen empor und bald stand die ganze Sitzbank in Flammen. Die gepeinigten Schreie des Vampirs wollten kein Ende nehmen, selbst als er auf den Boden des Abteils fiel und sich wie wild hin und her rollte, in der vagen Hoffnung die Flammen so ersticken zu können. Aus dem Hintergrund hörte Mitrofan von irgendwoher einen Feueralarm, aber einen Wassersprinkler schien es in der rüstigen Murmanbahn nirgendwo zu geben. Das war zum Einen gut, weil Mitrofans hektisch improvisierter Plan seinen Gegenspieler außer Gefecht zu setzen so aufgehen konnte, aber die schlechte Seite war, dass der mutige Polizist nun langsam selbst in akuter Lebensgefahr schwebte. 

    Mitrofan realisierte nämlich, dass das brennende Abteil bald auch für ihn zur Todesfalle werden konnte. Er blickte zur Tür und sah dort den dämonischen Blick des zweiten Vampirs in dessen kalten Augen sich die Flammen spiegelten. Der Dunkelmann traute sich nicht ins das brennende Abteil zu treten, aber er wollte sein Opfer auch nicht entkommen lassen. In den Augen des Unheimlichen stand ein hasserfülltes Todesurteil geschrieben. Mitrofan kauerte sich hustend auf der Sitzbank zusammen, während die Flammen immer heißer und der beißende Rauch immer dichter wurde.

    Der blutrünstige Vampir konnte der Flammenhölle nicht mehr entkommen. Seine panischen Zuckungen wurden immer langsamer und das gierige Glühen war aus seinen Augen gewichen. Mit einem letzten geplagten Stöhnen fiel sein aschfahles Gesicht mit einem Mal wie Treibsand in sich zusammen und wurde zu feinem Staub. Die tiefen Augenhöhlen und die hohen Kieferknochen wurden langsam sichtbar. Die buschigen Augenbrauen und rebellischen Haarsträhnen waren längst versengt. An Stelle der Nase entstand ein unheimliches blasses Loch, bei dem man nur noch die Nasenscheidewand erahnen konnte. Die dünnen Lippen wurden bald durchsichtig und entblößten das beinahe raubtierartige Gebiss des sterbenden Vampirs.

    Mitrofan führte sich auf eine gewisse Art und Weise zutiefst angeekelt und empfand doch eine euphorische Genugtuung darüber, dass er wenigstens einen der beiden schier übermächtigen Gegner ganz allein erledigen konnte. Als er nun aber von der erbarmungslosen Flammenhölle in die Enge getrieben in sich versank und durch den dichten Rauch den weiterhin regungslosen überlebenden Dunkelmann betrachtete, hätte er sich über ein wenig Hilfe von seinen beiden Begleitern Vitali und Sergej sicherlich nicht beklagt.

     

    *

     

                Die beiden Journalisten steckten selbst in einer äußerst brenzligen Situation, als sie sich Seite an Seite mit einem stummen Koreaner auf dem Zugdach durch den frostigen Fahrtwind Stück für Stück über den Speisewaggon hinweg robbten. Hinter ihnen war noch das gedämpfte monotone Knattern der Waffen zu hören, deren Kugeln sich zerstörerisch durch das Zugdach frästen. Je weiter sich das Trio Zentimeter um Zentimeter nach vorne quälte, desto mehr übertönten wieder der pfeifende Fahrtwind und das schwere Rattern des Zuges die mittlerweile etwas altmodisch gewordenen Waffen der russischen Soldaten. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Gefahr aufgehoben war. Sie war bestenfalls aufgeschoben, denn die drei Gefährten saßen auf dem Zugdach in einer tödlichen Falle, wenn die Soldaten auf die Idee kommen sollten sie von beiden Seiten des Waggons einzupferchen.

    Sie mussten also so schnell es ging vom Zugdach. Das war aber einfacher gesagt als getan, denn der heftige Zugwind, die eisige Kälte und der erbarmungslose Frost machten eine rasche und sichere Fortbewegung nahezu unmöglich. Der schweigsame Koreaner bewegte sich mit seinem drahtigen Körper weitaus schneller als die beiden Journalisten, die sich fluchend und unorthodox fortbewegten. Soeben fuhr der Zug wackelnd auf die lange Brücke und das ungleiche Trio drückte sich flach gegen das Zugdach, um nicht gegen eine tief liegende Querstrebe zu prallen. Eine unangenehme Gänsehaut rann über Vitali gesamten Körper, als er den unangenehme Rostgeruch der Querstreben wahrnahm und der Zug an der Schwelle zur Brücke unangenehm durchgeschüttelt wurde.

    Kurz darauf hörten die beiden Journalisten wieder andere Geräusche, nämlich die heiseren Befehle eines Militärs. Durch den Fahrtwind konnten sie nicht genau verstehen, was gesagt wurde, aber ihnen war klar, dass es ihnen nichts Gutes verheißen würde. Durch den steifen Wind konnten die beiden Freunde auch nicht orten, ob die Geräusche in ihrem Rücken oder vor ihnen erklungen waren. Je weiter die beiden Journalisten nach vorne robbten, desto mehr veränderte sich der Fahrtwind, der mit einem Mal beißender wurde. Zunächst konnte Vitali den aufkommenden Gestank nicht einordnen, doch dann erkannte er ihn wieder. Es war der Geruch von Feuer und Rauch. Irgendwo im Zug musste es brennen. Hatten die Militärs durch ihr ungehobeltes Vorgehen etwa einen Teil des Zuges in Brand gesetzt?

    Ihr koreanischer Begleiter hatte inzwischen das Ende des Waggons erreicht und sich dort zusammengekauert. Er schien den kurzen Sprung auf das Dach des Speisewagens noch nicht wagen zu wollen. Langsam schlossen die beiden Journalisten zu ihm auf und hörten wieder die Stimmen, die sie jetzt besser verstanden. Scheinbar befand sich eine Gruppe Soldaten mit einem General in dem Durchgang zwischen den beiden Waggons. Vitali und Sergej bezogen neben dem Koreaner Stellung und rollten sich so flach es ging zusammen, um dem eisigen Fahrtwind möglichst wenig Widerstand zu bieten. Das gequälte Quietschen der Stahlkonstruktionen der altertümlichen Brücke, über die sich der Zug langsam quälte, zehrte an ihren Nerven und machte es schwierig die Konversation zwischen den Soldaten zu verstehen.

    „Herr General, irgendwo am Ende des Zuges ist ein Feuer ausgebrochen. Das müssen die Begleiter der beiden Russen und des Koreaners sein. Die Scharmützel in diesem Waggon waren lediglich Ablenkungsmanöver. Sie versuchen die nordkoreanische Delegation schrittweise zu eliminieren.“, vermutete ein Soldat mit krächzender Stimme schräg unter dem flüchtigen Trio.

    „Einheit drei soll nachsehen was da los ist. Hauptmann Tarasenko, Sie übernehmen das Kommando. Einheit vier mit Major Kovalev bleibt im Speisewaggon und sichert diesen nach beiden Seiten. Einheit zwei mit Major Dubinin geht auf die andere Seite dieses Waggons. Sichern Sie die drei vorderen Waggons und schützen Sie die beiden Lokführer. Wir müssen eine potenzielle Geiselnahme oder Zugentführung um jeden Preis verhindern. Überprüfen Sie jedes einzelne Zugabteil, sowie die Zugdächer, als auch die Bereiche unter den Waggons in diesem und den vorderen drei Waggons. Weit können die drei Zielpersonen noch nicht gekommen sein. Einheit eins, wir teilen uns auf. Hauptmann Kulmarow, Sie überprüfen mit zwei Soldaten den Bereich unter dem Zug. Der Rest folgt mir aufs Dach. Die Schusserlaubnis ist allen Einheiten ausdrücklich und ohne Vorwarnung erteilt.“, befahl der Anführer in stakkato-artigem Tonfall und machte sich sogleich an den Aufstieg einer Leiter, die bis aufs Zugdach führte.

    Vitali und Sergej warfen sich mit leichenblassen Gesichtern einen bedeutungsschwangeren Blick zu. Wenn jetzt nicht ein Wunder geschah, dann war ihr Leben verwirkt. Für einen Moment überlegte Vitali, ob er sich nicht mit erhobenen Händen stellen, um Gnade bitten und das große Missverständnis aufklären sollte, doch er war vor Schreck wie gelähmt. Er fühlte sich wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange. Sein Blick fixierte die wackelnde Leiter und schließlich den Handschuh des militärischen Anführers, der inzwischen fast den Rand des Zugabteils erreicht hatte.

    Während Vitali und Sergej schreckstarr abwarteten, ergriff ihr koreanischer Begleiter skrupellos die Initiative. In einer flüssigen Bewegung packte er mit der rechten Hand den ungeschützten Arm des Anführers und zerrte selbigen mit schier unmenschlicher Kraft in die Höhe. Dann griff der Koreaner mit seiner linken Hand den Anzug des Gegners und drehte diesen trotz des heftigen Fahrtwindes so von sich weg, dass dieser zum einen nicht an seine Waffe kommen konnte und zum anderen seinen Begleitern die Schussbahn komplett versperrte. Mit einem blitzschnellen Handkantenschlag auf das Handgelenk entwaffnete der Koreaner den Gegner und griff danach schlagartig wieder ins Futter des Anzuges seiner Geisel. Mit der anderen Hand holte er aus seiner eigenen Innentasche ein Messer heraus und hielt es an den ungeschützten Hals des Anführers. Mit seinem linken Fuß fegte der Koreaner die niedergefallene Waffe über das Zugdach und die altersschwache Brücke hinaus in den breiten und größtenteils gefrorenen Strom, den die Waggons gerade überquerten. Dann drückte er sein linkes Knie unbarmherzig ins Rückgrat der Geisel, die schmerzhaft aufschrie.

    All dies war innerhalb von vielleicht fünf Sekunden passiert und Vitali und Sergej lagen immer noch zusammengekauert auf dem Zugdach. Jetzt blickte der stumme Koreaner sie kurz an und machte ihnen mit einer Kopfbewegung klar, dass sie sich aufraffen sollten. Den beiden Journalisten war so unheimlich zu Mute, dass sie nicht einmal erwogen sich dieser Aufforderung zu widersetzen. Was bei dem flinken Koreaner aber einfach wie in einem Film ausgesehen hatte, kostete den beiden stämmigeren Russen jede Menge Kraft, denn sie schafften es im Fahrtwind kaum das Gleichgewicht zu halten und waren zudem vom dichten Schneegestöber geblendet.

    Da hörten sie alle, wie die Soldaten unter ihnen reihenweise ihre Waffen entsicherten und ihnen heiser zuschrien sich zu ergeben und ihren Anführer frei zu lassen. Der kaltblütige Koreaner zog diese Option nicht eine Sekunde lang in Erwägung und blieb ungerührt wie eine mächtige Statue stehen, während der eben noch so großmäulige Militär ängstlich um Gnade winselte.

    Plötzlich feuerte einer der Soldaten einen Schuss ab. Vitali und Sergej duckten sich erschrocken, obwohl sie gar nicht im Schussfeld waren. Ihr koreanischer Begleiter erwiderte die Geste auf seine Weise. In einer flüssigen Bewegung ließ er seinen Arm wie ein Pendel sinken und bohrte die lange und spitze Messerklinge beinahe bis zum Schaft durch den Hosenstoff der Geisel und in dessen rechten Oberschenkel. Sofort zog der Koreaner die klinge wieder aus dem Fleisch und hielt die blutige Waffe an den ungeschützten Hals seiner Geisel, die sich nun schreiend im Griff des Geiselnehmer wandte. Erst verfluchte der Russe den Koreaner, spuckte zu Boden und versuchte sich aus dem Klammergriff zu befreien, doch der Koreaner behielt die Ruhe und Kontrolle und verstärkte stattdessen den Druck auf das Rückgrat des Anführers, der nun seinen Soldaten jammern befahl nicht zu schießen.

     In diesem Moment blickte der Koreaner zurück auf Vitali und nickte nach unten zu den Soldaten. Scheinbar sollte er ihm helfen. Der Russe war ungemein nervös und begab sich nur zögerlich hinter den Koreaner, um möglichst nicht ins Schussfeld seiner Landsmänner zu geraten. Beschwichtigend hob er die Arme und räusperte sich nervös, als er auf vier Soldaten blickte, die sichtbar nervös den Koreaner als auch ihren Anführer ins Visier genommen hatten.

    „Wenn ihr eure Waffen fallen und uns in den hinteren Bereich des Zuges passieren lasst, dann wird eurem Anführer nichts passieren. Wir wollen jedes Blutvergießen vermeiden.“, begann Vitali stotternd und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, drückte der Koreaner die Klinge noch härter gegen die Kehle seiner Geisel, sodass eine feine Blutperle darüber rollte.

    Entsetzt blickten sich die Soldaten an und wussten wohl nicht so recht, wie sie auf die Situation reagieren sollten. Währenddessen zauberte der Koreaner zwei weitere Wurfmesser aus dem Innenfutter seiner Jackentasche und reichte sie nach hinten zu Vitali, der die Waffen mit mulmigem Gefühl ergriff und an die Seite des Koreaners trat. Dann gab er ein Messer an Sergej weiter, der noch ein paar Schritte zurückblieb und vor Aufregung ein stummes Gebet rezitierte.

    Der Koreaner suchte wieder den Blickkontakt mit Vitali, während die Soldaten die Waffen halb gesenkt und halb gehoben hatten und nun ebenfalls per blickkontakt versuchten eine Entscheidung zu treffen. Der Koreaner nickte in Richtung des Rückens seiner Geisel und Vitali runzelte hilflos die Stirn. Er konnte nur erahnen, was der stumme Koreaner von ihm wollte. Er ergriff nun von der rechten Seite aus die Geisel und hob fast schon symbolisch sein Klappmesser in die Höhe, während er mit der anderen Hand zögerlich die Jacke des Militärs ergriff.

    Als der Zug in der Mitte der Brücke über eine extrem holprige Schwelle fuhr, sah der Koreaner seinen Moment gekommen. Ansatzlos drückte er sich an seiner Geisel vorbei, drehte sich und hechtete in derselben Bewegung nach hinten in Richtung der vier Soldaten. Den Rand des Zugdaches ergriff er nur kurz mit beiden Händen um seinen hohen Sprung etwas abzufedern. Dann landete er mit beiden steif nach unten gestreckten Beinen auf dem Oberkörper eines Soldaten, der übertölpelt nach hinten gestoßen wurde und mit dem Kopf zuerst gegen den Türknopf des Speisewaggons prallte. Sofort gingen für den unerfahrenen Soldaten die Lichter aus.

    Noch bevor der ausgeschaltete Gegner zu Boden sank, war der Koreaner sicher auf beiden Beinen gelandet und schleuderte sein Wurfmesser auf den Soldaten, der am weitesten von ihm entfernt stand und schon seine Waffe auf ihn zu richten drohte. Das Messer traf den Gegner in der Schultergegend und er wurde von der Wuchte des Wurfes zurückgeschleudert. Da auf der kleinen Plattform kaum Platz war, trat der strauchelnde Soldat schon beim zweiten Schritt nach hinten ins Leere und stürzte mit lautem Krachen auf die Metallstruktur der endlos langen Brücke. Sein mehr überraschter als gepeinigter Schrei verklang langsam im wilden Fahrtwind.

    Die beiden verbliebenen Soldaten standen so dicht bei dem Koreaner, dass sie sich mit ihren Waffen gegenseitig behinderten. Das nutze der agile Koreaner sofort aus. Er ging in die Knie und holte den ersten Soldaten mit einem Fußfeger in die Kniekehle von den Beinen. Dann stützte sich der Koreaner in der Drehung mit beiden Händen am Boden ab und drückte sich so nach oben, dass seine Schuhe das Gesicht des verbliebenen Soldaten trafen, der schwerfällig das Gleichgewicht verlor und genau auf der Kante der kleinen Plattform landete, sich aber mit einem Reflex noch an deren Rand festklammern konnte. Doch da war der Koreaner schon längst auf beiden Beinen gelandet und trat auf die rechte Hand des Soldaten, der schreiend losließ und mit einem Mal halb über dem Abgrund baumelte. Da ging der Koreaner in die Knie, boxte mit seiner rechten auf die linke Hand des Soldaten und ergriff noch bevor dieser ins Leere fallen konnte dessen Kragen, um ihn vor dem Sturz zu bewahren. Dann wartete er kurz ab und stieß den Soldaten auf eine kleine Plattform auf der Brücke, nachdem sie an einem wuchtigen Betonpfeiler vorbeigerattert waren. Dort ging der Soldat mehr geschockt als wirklich verletzt zu Boden und blickte verdutzt dem Zug hinterher.

    Während der Koreaner noch seinem Gegner nachblickte, hatte sich hinter ihm wieder erstaunlich schnell der Soldat aufgerichtet, den er Sekunden zuvor von den Beinen gefegt hatte. Als der Koreaner herumfuhr blickte er bereits in die zitternde Mündung einer Waffe und in die flackernden blaugrauen Augen eines halbstarken Militärs, der sich nur auf seinen Gegner fokussierte.

    Vitali reagierte mehr aus Reflex, denn aus Kalkül und stieß den immer noch lautstark jammernden Anführer, den er mit dem Wurfmesser bisher mehr schlecht als recht in Schach gehalten hatte, nach vorne über den Abgrund des Zugdaches. Der Mann landete genau auf dem Rücken des Soldaten, der unter dem plötzlichen Druck zusammenklappte und nicht einmal mehr einen Schuss abgeben konnte. Der Koreaner drehte sich blitzschnell zur Seite und drückte sich flach in den linken toten Winkel neben der Tür des Waggons, aus dem das Trio soeben geflohen war und wartete flach atmend ab. Weder der halbstarke Soldat noch sein graubärtiger Anführer richteten sich nach dem Sturz wieder auf. Sie waren wohl bewusstlos. So trat der Koreaner langsam aus dem Schatten hervor und nickte dem bleichen Vitali, der selbst noch nicht begriffen hatte, was er da eben getan hatte, dankbar zu.

    Plötzlich kam der Zug auf das Ende der Brücke zu, das von einer tiefen und breiten Querstrebe markiert wurde. Vitali konnte auf das plötzliche Hindernis selbst nicht mehr reagieren, als er plötzlich ansatzlos nach hinten und flach auf das Zugdach gerissen wurde. Während Vitali noch erstaunt aufschrie, rauschte die rostige Querstrebe nur Zentimeter über seinen Kopf hinweg.

    Mit zusammengekniffenen Augen blickte Vitali auf Sergej, der ihn fest umklammert hielt und ihm dann schief zulächelte. Dann ließ sein Freund von ihm ab und richtete sich hustend auf. Vitali folgte ihm auf wackligen Beinen und schwankte benommen zur Leiter. Unten wartete bereits der Koreaner, der mit einer hektischen Kopfbewegung auf eine weitere Leiter wies, die auf das Dach des Speisewaggons führte.

    „So wie es aussieht, ist unsere Kletterpartie immer noch nicht beendet.“, bemerkte Sergej atemlos hustend.

    „Wenn wir so weiter machen, können wir uns bald bei Iron Man bewerben.“, gab Vitali mit Galgenhumor zurück.

    „Immerhin hast du eine Freundin, die deine gestählten Muskeln begutachten kann.“, flunkerte Sergej zurück und zum ersten Mal seit Stunden huschte wieder sein typisches spitzbübisches Lächeln über sein Gesicht, das auf Vitali geradezu ansteckend wirkte.

    Doch der Journalist wurde schlagartig wieder ernst als er mit gemischten Gefühlen auf die beiden bewusstlosen Soldaten und ihren Anführer blickte. 

    „Erst einmal müssen wir lebend von dieser Terrorbahn herunterkommen.“, gab er finster zurück und machte sich mit dunklen Gedanken an den Abstieg.

     

    *

     

          Irgendwann erwachte Margarita aus ihrer komatösen Bewusstlosigkeit. Es war aber kein Geräusch, kein Licht und auch kein träges schrittweises Aufwachen, das sie wieder zurück in die Realität des verwinkelten Maschineraums brachte. Es war etwas ganz anderes gewesen. Es war etwas aufregend neues, das ihren gesamten Körper in Wallungen brachte. Ein einziger Gedanke kontrollierte die gelähmten Sinne des Wesens, das wie Margarita aussah, aber nicht mehr wirklich Margarita war.

                Sie fühlte sich schwach, müde und ausgezehrt und es gab nur ein Mittel dieses Gefühl der Machtlosigkeit loszuwerden. Margarita brauchte viel Blut. Sie brauchte frisches Menschenblut. Und sie brauchte es sofort.

                Fast mechanisch richtete sich die Russin auf und stieß dabei unbeholfen mit ihrem Kopf gegen ein rostiges Ventil. Doch sie registrierte den Zusammenprall kaum und spürte erst recht keinen Schmerz mehr. Sie war erfüllt von einer animalischen Gier, die alles anderen Sinne einnahm und vernebelte.

                Ihr Blick fiel auf die junge koreanische Schicksalsgefährtin, die ebenfalls aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war und sich mit gierigem Blick und weit von sich gespreizten feingliedrigen Fingern in der dunkelsten Ecke des Maschinenraums verschanzt hatte. Auch Margarita blickte die Koreanerin gierig an, fauchte animalisch und trat ihr wie von einem Magnet gesteuert näher. Doch sie interessierte sich nicht für die junge Frau selbst, sondern für ihre blutbesiedelte Kleidung. Und auch die Koreanerin suchte nicht etwa den Blickkontakt mit Margarita, sondern glitt mit fiebrigem Blick langsam an der blutbefleckten Kleidung der Wirtin herab.

                Fast gleichzeitig hielten die beiden einst so unterschiedlichen und nun sehr gleichen Damen inne und blickten sich erst instinktiv hasserfüllt, dann misstrauisch taxierend und schließlich fast diabolisch verschworen an. Sie realisierten, dass das bisschen getrocknete Blut an ihren Kleidern niemals genug sein konnte, um ihren mörderischen Durst auch nur ansatzweise zu stillen. Nein, sie brauchten literweise frisches Menschenblut.

    Der Blick der beiden Vampire fiel auf die schwere Tür des Maschinenraums, unter der langsam stinkender Rauch in den Maschinenraum eindrang, sodass plötzlich eine Alarmsirene losschrillte und eine grelles rotes Licht aufflackerte, dass den beiden Kreaturen der Nacht nicht nur in den Augen, sondern auch in der Seele weh tat. Dieses helle Leuchten verursachte ihnen hämmernde Kopfschmerzen, die kurzzeitig sogar die ungesteuerte Gier zurückdrängten. Gleichzeitig war der Alarm aber auch das Startsignal für die beiden Schattenwesen. Margarita trat stoisch zur Tür des Maschinenraums, hob sie kinderleicht aus den Angeln und schleuderte sie krachend gegen eines der hintersten Abteile des Zuges. Die Koreanerin folgte ihr leicht hinkend, aber dennoch völlig elektrisiert.

    Da erblickten die beiden den ganz in Schwarz gekleideten Vampir, der vor einem lichterloh brennenden Feuer stand, das den beiden anderen Vampiren schmerzhaft in den Augen brannte. Der andere Vampir hielt einen respektvollen Abstand zum Feuer, schien aber nicht die schmerzhaften Flammen selbst, sondern etwas jenseits des reinigenden Brandes zu fixieren.

    Instinktiv wandte er sich um, denn er konnte die Gier seiner beiden neuen Gefährtinnen geistig wie körperlich spüren. Diese realisierten, dass der Mann in schwarz ihr neuer Mentor war und ihnen helfen würde sich in ihrer neuen infernalischen Bestimmung in dieser neuen alten Welt zurecht zu finden.

    Die beiden vernahmen seinen mentalen Befehl laut und deutlich, als der kräftige Vampir auf den brennenden Zugabteil wies. Dort drinnen gab es das, wonach sich derzeit  alles in den beiden neugeschaffenen Vampiren verzehrte. In diesem Zugabteil gab es ihr einziges Lebenselixier, nämlich literweise frisches Menschenblut.

    Träge, aber langsam immer zielsicherer und irgendwann fast schon hektisch stolperten die beiden Vampirfrauen ihrem Mentor entgegen und empfingen seinen Befehl immer lauter und deutlicher. Immer noch wies er mit seiner knöchernen Hand auf den hilflos eingepferchten Menschen, der dort im Abteil einer erbarmungslosen Flammenhölle ausgesetzt war. Diese Flammen würden auch den beiden Vampirfrauen unfassbare Schmerzen zubereiten, aber die bittersüße Belohnung war so euphorisierend, revitalisierend und verlockend, dass sie alle nur vorstellbaren Schmerzen zwischen Himmel und Hölle wert waren. Nur mit diesem einen sinnlich verinnerlichten Befehl und Ziel traten die beiden Frauen fauchend zu ihrem Mentor und fixierten nun erstmals den hilflosen Mitrofan hinter dem wilden Flackern des Feuers und dem dichten Schleier des sich mehr und mehr ausbreitenden Rauches.

    Margarita machte bereits einen ersten Schritt in Richtung des Abteils, als ihre Sinne gestört wurden und sie und ihre koreanische Schicksalsgefährtin plötzlich ein neues Ziel ausmachten. Es näherten sich zwei weitere Lebewesen, prall gefüllt mit bittersüßem  und sogar noch jüngerem und frischerem Blut.

    Auch ihr Mentor schien dies zu spüren, aber aus irgendeinem Grund  konnte der erfahrene Vampir seine innernsten Instinkte kontrollieren und unterdrücken. Wiederholt und vehement forderte er seine beiden neuen Lehrlinge auf in das Zugabteil einzudringen und dem alten Mann jenseits des Feuerwalls den wertvollen Lebenssaft auszusaugen, doch der Drang nach Frischblut in Margarita und ihrer koreanischen Begleiterin war noch stärker als die mentale Kontrolle ihres Mentors. 

    In diesem Moment ging die Tür zum hintersten Waggon auf und zwei Gestalten traten erst zögerlich, dann behutsam und schließlich zielstrebig auf die drei Vampire zu.