• Kapitel 12

     

    Kapitel 12: Mittwoch, 18 Uhr 30, Thomas Zimmer


    Thomas war eben erst aus der Dusche gestiegen, die ihm richtig gut getan hatte. Er hatte fast eine Stunde lang das Wasser mal eiskalt, mal glühend heiß über seinen Körper laufen lassen und so seine Müdigkeit und Erschöpfung ein wenig verdrängt. Dabei hatte er sich einige Gedanken zu den letzten Ereignissen gemacht und versucht mit sich selbst ins Reine zu kommen, was ihm dennoch irgendwie schwer gefallen war.

    Zunächst war da Jeanette. Wie stand er zu ihr? Er hatte trotz ihren diversen Liebeserfahrungen geglaubt, eine gewisse Aufrichtigkeit oder Leidenschaft in ihrer Liebe zu ihm zu verspüren. Sie hatte nie zuvor mit einem verflossenen Liebhaber wieder eine Beziehung angefangen oder war zu ihm zurückgekehrt. Das ließ sie ja auch Malcolm deutlich spüren, der vor Neid und Wut fast platzte. Doch was wollte Thomas selbst? Stand ihm nach all den Jahren der Isolation überhaupt der Sinn nach einer Beziehung? Wenn ja, sollte sie lediglich oberflächlich und sexuell bleiben oder doch tiefer gehender sein? Wäre es nicht vielleicht das Beste, wenn er und Jeanette damit aufhören würden, bevor es überhaupt wieder angefangen hatte? Spielte sie nur mit ihm, um einen anderen potentiellen Lover zu reizen? Und was war da mit Elaine? Er fühlte sich auf unerklärliche Weise von ihr angezogen. Doch sie machte gleichzeitig den Eindruck, als wüsste sie mehr über die mysteriösen Ereignisse. Wusste sie von dem erscheinen des Wolfes Bescheid? Warum hatte oder wollte sie sich mit dem unsympathischen Direktor einlassen? Er dachte an Lykströms Warnung und Magdalena Osarios düstere Berichte. Schwebte Elaine womöglich auch in Gefahr? Überschätzte sie sich vielleicht?

    Thomas kam zu dem Schluss, dass er sich zunächst besser zurückhalten sollte, denn er fand keine Lösung auf seine Fragen. Er redete sich ein, dass die selbstbewusste Elaine selbst wissen müsste, was sie tat und wollte ihr zunächst aus dem Weg gehen, da er ihrem seltsamen Verhalten nicht über den Weg traute. Dasselbe galt aber auch für Jeanette. Er musste aufpassen, dass er nichts Tiefergehendes für sie empfinden würde, da er sich sonst in eine Illusion verrannte. Zudem zeigten die Attacken Malcolms ihm deutlich, dass er sich praktisch auch in Gefahr befand. Er war sich sicher, dass der Schotte ihn nicht zum letzten Mal provoziert hatte. Auf der anderen Seite fühlte er sich dafür verantwortlich, Jeanette vor diesem eifersüchtigen Psychopathen zu schützen. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass er sie handgreiflich fertig machen würde in seiner blinden Hassliebe.

    Der erschöpfte Schotte dachte auch über den unheimlichen Wolf nach. Wie kam dieses Wesen überhaupt auf die abgeschottete Insel? Wovon ernährte sich das Tier in dieser kargen Vegetation? Gab es noch andere Wölfe in der Nähe? Thomas kam zu dem Schluss, dass Marcel Wohlfahrt oder auch Magdalena Osario mehr darüber wissen mussten. Vermutlich hatte der österreichische Direktor nicht nur ein Faible für Haie und Vögel, sondern auch für Wölfe. Warum ließ er diesen aber frei herumlaufen? Warum riskierte er es, dass seine Gäste von der Bestie angefallen und zerfleischt wurden? Was hatte der obskure Schlossherr an diesem verlängerten Wochenende noch mit ihnen vor? Wollte er sie unter Stress setzen oder irgendwelche abartigen Versuche durchführen? Thomas traute diesem Kerl überhaupt nicht über den Weg und hatte fast schon Angst vor der anstehenden Nacht. Er war sich sicher, dass der Österreicher irgendein sadistisches Spiel mit seinen Gästen führen wollte und auf Gefühle schien er ohnehin grundsätzlich keine Rücksicht zu nehmen. Vermutlich steckten der Koch und der Butler dann mit ihm unter einer Decke.

    Thomas fasste den Entschluss mit Magdalena Osario irgendwie über die Vorkommnisse zu reden. Nachdem sie ihm von ihren Geheimnissen und Gefühlen berichtet hatte, konnte er dies vielleicht ebenso handhaben. Beide würden den Mund halten und ihre Pläne und Erfahrungen niemandem mitteilen. Zudem wäre sie wohl die einzige Person, die noch in etwa wissen oder ahnen könnte, was ihr Gatte genau vorhatte. Vielleicht wusste sie sogar über den Wolf Bescheid.

    All diese Gedanken schwirrten durch Thomas Kopf, als er das kleine Badezimmer verließ und in die frische Wäsche schlüpfte, die er zuvor auf sein Bett gelegt hatte. Er verstaute die dreckige Wäsche in einem Plastiksack, kehrte zurück ins Badezimmer und kämmte sich dort gründlich. Seine Haare waren bereits länger geworden und hingen ihm manchmal störend wirr ins Gesicht. Er beschloss nach diesem Wochenende zum Friseur zu gehen.

    Nachdem er sich das Gesicht eingekremt hatte, kehrte Thomas zu seinem Bett zurück, zog seine Schuhe an und warf einen Blick auf die Uhr. Er beschloss nun bereits zum Abendessen zu gehen, obwohl er noch zwanzig Minuten Zeit hatte. Er hoffte dort vielleicht schon jemanden zu treffen, mit dem er reden konnte.

    Er hatte kaum sein Zimmer verlassen und die Tür abgeschlossen, als er leicht von der Seite angerempelt wurde. Er fuhr herum und blickte in das feixende Gesicht von Malcolm McCollaugh. Dieser trug mit stolz geschwellter Brust das Trikot der schottischen Fußballnationalmannschaft. Es trug die Nummer zehn und zudem war sein eigener Name aufgeflockt worden.

    „Du hast wohl verloren, mein Freund. Sie hat sich mit mir vertragen und mir zum Beweis ihrer Liebe dieses Trikot geschenkt.“, prahlte er höhnisch und Thomas wollte seinen Augen und Ohren nicht trauen, denn er wusste sofort, dass sein Konkurrent auf die junge Französin angespielt hatte.

    „Was erzählst du da?“, fragte er halb entsetzt, halb verwundert.

    „Sie hat es vor meiner Zimmertür abgelegt, mit einem kleinen Brief dabei. Darin hat sie mir gestanden, dass sie mit dir nur herumgemacht hat, um mich neidisch zu machen und um zu sehen, ob und wie vernarrt ich in sie bin.“, fuhr Malcolm triumphierend fort und konnte sich ein schadenfrohes Lachen nicht verkneifen, als er dem starren Thomas heftig auf die Schultern klopfte.

    „Das glaubst du doch selbst nicht.“, erwiderte Thomas barsch, obwohl er längst nicht mehr so selbstsicher war, wie er vorgab.

    „Sicherlich. Nur sie hat gewusst, dass mein Lieblingsspieler die Nummer 10 trug. Ich hatte es ihr damals gestanden, als wir ein Paar waren. Von euch Anderen hat sich doch ohnehin nie jemand für mich und meine Hobbys interessiert. Ihr habt mich immer abschätzig behandelt, ihr saht in mir immer einen Fremden, einen Minderwertigen.“, fauchte er mit vor Bitternis triefender Stimme.

    Höhnisch lachend ließ er den überrumpelten Thomas stehen, der sich in diesen Minuten wie der sprichwörtlich begossene Pudel fühlte. Sein Gegenüber hatte ihn nicht angelogen, das hätte er gemerkt, denn seine neue Selbstsicherheit und Freude waren nicht gespielt. Thomas fühlte eine unterschwellige Wut in sich aufsteigen, einen bitteren Hass. Er kniff die Lippen zusammen und stieß einen lauten Fluch aus. Ihm wurde klar, dass Jeanette ihn doch wieder nur benutzt hatte. Nie hätte er ihr zugetraut, dass sie auf Malcolm eingehen würde. Er hatte für sie den Kopf hinhalten müssen und war hinterrücks getäuscht worden. Er verfluchte sich für seine eigene Naivität und dass er der Französin vertraut hatte.

    Mit geballten Fäusten schritt er die breite Treppe zur Eingangshalle hinunter und steuerte auf den Speisesaal zu. Missmutig ließ er sich auf seinen angestammten Platz fallen und schüttelte wütend den Kopf. Noch war der Raum spärlich besucht, doch langsam kamen immer mehr Gäste und er fand unter ihnen auch Jeanette, der er einen bitterbösen Blick zuwarf, den diese verdutzt oder sogar verständnislos erwiderte. Thomas schwor sich sie lieber den ganzen Abend über nicht zu beachten, anstatt eine Privatfehde vor versammelter Mannschaft mit ihr auszutragen. Er merkte wie die Französin, die zunächst noch in ein Gespräch mit Hamit Gülcan versunken war, Anstalten machte sich Thomas zu nähern, doch in diesem Moment betrat der Schlossherr von der anderen Seite den Raum, bat um Aufmerksamkeit und darum, dass die Anwesenden sich setzen mögen. Jeanette warf Thomas einen hilflosen Blick zu und kam der Aufforderung nach.

    Die Stimmung in der Gruppe hatte sich im Vergleich zur Zeit des Mittagessens noch einmal verschlechtert. Die Konflikte hatten sich vertieft, das gesäte Misstrauen war gewachsen. Im Kontrast dazu wirkte der Schlossherr provokant fröhlich, hob sein Weinglas und genoss die Aufmerksamkeit, die man ihm notgedrungen schenkte, bevor er zu einer gestenreichen Rede ansetzte.

    „Ich hoffe, dass Sie alle einen entspannenden und erkenntnisreichen Nachmittag verbracht haben und vielleicht die Schlossanlagen näher erkundet haben. Heute Abend wird es ein vorzügliches Vier Gänge Menü geben, von meinem Koch persönlich kreiert. Lassen Sie sich überraschen und lassen Sie es sich schmecken. Ich bitte sie bereits jetzt herzlich darum nach der Beendigung des Essens noch eine Weile hier zu verweilen mit der Ankündigung, dass sich der sehr geehrte Malcolm McCollaugh dankenswerterweise bereit erklärt hat uns einige Stücke aus seinem Repertoire auf Dudelsack vorzuspielen.“

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