• Kapitel 18

     

    Kapitel 18: Mittwoch, 22 Uhr 13, Speisesaal

     


     

    Langsam trat Thomas an die junge und wie paralysiert wirkende Französin heran und berührte sie leicht an ihrer Schulter. Als sie nicht reagierte, nahm sich Thomas einen Stuhl und gesellte sich an ihre rechte Seite. Sein Ärger gegenüber ihrem Verrat war mit einem Mal verflogen und sein eifersüchtiges Verhalten, das erst wenige Stunden zurück lag, ließ sich im Vergleich zu dem überraschenden Todesfall als nahezu lachhaft bezeichnen. Zudem hatte Thomas seine Zweifel, dass Jeanette sich wirklich auf Malcolm eingelassen und ihm das Trikot geschenkt hatte. Thomas vermutete eher, dass eine andere Person dahinter steckte, die vielleicht sogar einen falschen Verdacht aufkommen lassen wollte. Doch so sehr sich Thomas das Hirn zermarterte, er konnte sich auf die wahren Motive keinen Reim machen. Im Grunde hätte fast jeder der männlichen Gäste neidisch oder wütend sein können, da fast jeder ein Verhältnis mit der Französin gehabt hatte. Doch wer ging so weit, dass er einen Konkurrenten auf solch eine Art und Weise ausschaltete? Zudem dachte Thomas krampfhaft darüber nach, ob es nicht vielleicht auch ein anderes Motiv außer Neid oder Rachsucht geben könnte.

     

    Jetzt endlich erwachte die Französin aus ihrer Starre und lehnte ihren Kopf schluchzend an die Schulter ihres Sitznachbars. Sie ließ alle angestauten Emotionen frei und krallte sich mit ihren Händen am Hemdkragen des schottischen Polizisten fest. Dieser legte ihr mitfühlend einen Arm um die Schulter und ließ Jeanette gewähren. Er hauchte ihr einen beruhigenden und sanften Kuss auf die Stirn und merkte in einer Mischung aus Erstaunen und Resignation, dass das schreckliche Ereignis sie beide wieder enger zusammengeschweißt hatte. Er bekam eine Gänsehaut, als er daran denken musste, dass er möglicherweise von dem Tod eines Mitmenschen profitierte und löste sich rasch von der Französin, die ihn verwirrt und aus verweinten Augen ansah.

     

    Thomas wollte sie nicht gleich befragen, sondern abwarten, bis sie ansprechbar war und sich einigermaßen gefangen hatte. Er war dankbar dafür, dass die Französin ihm die Arbeit nach einigen Sekunden des drückenden Schweigens selbst abnahm.

     

    „Ich kann das alles noch gar nicht richtig fassen. Ich meine, ich konnte sein Verhalten nie leiden und habe mich sogar von ihm bedroht gefühlt, aber dass es so mit ihm enden musste, das ist einfach schrecklich.“, schluchzte sie und zog ein Stofftaschentuch aus ihrer Jeans, das in den Farben der französischen Flagge gestickt worden war.

     

    „Ich dachte, du hättest dich heute mit ihm vertragen?“, fragte Thomas ruhig und nachdenklich und bemerkte, dass die Französin erstaunt wirkte. Unecht lachte sie auf und schnäuzte sich verhalten, bevor sie entschlossen den Kopf schüttelte.

     

    „Aber nein. Du weißt doch selbst, wie er uns in der Sauna Angst gemacht hat! Wie kommst du denn auf eine solch abwegige Idee?“, fragte sie mürrisch.

     

    „Er hat es mir erzählt. Du hast ihm einen Brief geschickt und als Geschenk das schottische Nationaltrikot mitgegeben. Es muss wohl vor seiner Tür gelegen haben.“, stellte Thomas fest und ein heißer Schauer durchströmte ihn, als er an den Brief dachte. Er nahm sich vor dieses wichtige Schriftstück zu suchen. Wenn er dieses irgendwo finden könnte, würde es sicher Licht ins Dunkle bringen.

     

    „Nein, um Gottes Willen. Jetzt wird mir einiges klar. Jetzt verstehe ich, warum du so wütend gewirkt hast und warum er mich während des Konzertes und des Abendessens die ganze Zeit so verschwörerisch angezwinkert hat.“, ächzte die Französin tonlos und schaute Thomas mit großen Augen an. Energisch packte sie seinen Arm und schüttelte diesen.

     

    „Ehrlich gesagt bin ich erleichtert die Wahrheit zu erfahren. Er hatte mich nahezu verhöhnt und dein angeblicher Gesinnungswandel war natürlich wie ein Schlag ins Gesicht für mich gewesen.“, kommentierte Thomas ihre Aussage.

     

    „Erleichtert, sagst du? Erleichtert? Verdammt noch mal, Malcolm ist tot und du bist erleichtert? Womöglich wird man noch glauben, dass ich etwas mit seinem Tod zu tun habe. Oder auch du.“, rief sie panisch und starrte Thomas verzweifelt an.  

     

    Der junge Schotte überlegte, ob er der Französin die Wahrheit sagen sollte. Sollte er ihr darstellen, dass Malcolm keines natürlichen Todes gestorben war und sie somit weiter beunruhigen? Oder war es vielleicht besser, wenn er eben dies verneinte und sie anlog? Er wog eine Zeit lang ab und entschied sich zunächst schweren Herzens für einen einigermaßen vorsichtigen Mittelweg.

     

    „Wer sagt denn, dass er eines unnatürlichen Todes gestorben ist?“, fragte er unschuldig und sah Jeanette brüskiert auflachen.

     

    „Bist du wirklich so naiv, dass du nach all den Indizien noch glaubst, er habe wirklich einen Herzinfarkt oder Schlaganfall oder so etwas erlitten? Thomas, Malcolm ist noch nicht einmal 22 Jahre alt. Er war einer der jüngsten der gesamten Gruppe.“, argumentierte die Französin empört und gestikulierte wild mit ihren Armen.

     

    „Es gibt viele Menschen, die ganz unerwartet und jung an solchen Dingen gestorben sind. Du kennst sicher Bruce Lee, einen meiner Lieblingsschauspieler, der mit gerade einmal 32 Jahren an einem Gehirnödem gestorben ist.“, hielt Thomas dagegen, doch er wusste, dass sein Beispiel nicht gerade repräsentativ und passend war und die intelligente Französin kritisierte ihn dafür auch stark.

     

    „Das kannst du nicht vergleichen. Dein Bruce Lee hat sein ganzes Leben lang pausenlos gearbeitet und ist aus Erschöpfungsgründen so tragisch verstorben. Malcolm hat sich nie besonders viel engagiert, abgesehen von der Musik. Den Beruf als Orchesterdirigent hat er auch nur dank seines Vaters bekommen.“, entgegnete Jeanette.

     

    „Nehmen wir mal an, dass deine These stimmt. Wenn du und ich an seinem Tod unschuldig sind, wer steckt dann dahinter?“, wollte Thomas wissen.

     

    „Ich weiß es einfach nicht. Ich kann das alles nicht verstehen, das ist so grausam.“, bemerkte Jeanette und brach wieder in Tränen aus.

     

    Sie lehnte sich an Thomas und dieser strich ihr über ihr samtweiches Haar. Er atmete tief durch und begleitete Jeanette nach einigen Momenten vorsichtig aus dem Speisesaal. Sie brauchten jetzt beide ein wenig Ruhe. Mit Schrecken stellte der Schotte fest, dass die sonst so elegante Französin seltsam langsam und gebeugt ging und ihn eher an eine alte und müde Frau erinnerte. Die Vorfälle hatten sie komplett durcheinander gebracht und ihre Vision oder Illusion einer heilen Welt und eines schönen Ausfluges radikal zerstört.

     

    Thomas ließ sich die neuen Erkenntnisse durch den Kopf gehen. Frustriert schüttelte er seinen müden und schweren Schädel, als die beiden die Eingangshalle erreichten. Jeanette schmiegte sich ängstlich an ihn und blickte Thomas todtraurig an. Dieser fühlte sich verantwortlich und wollte ihr neuen Mut geben und sie von den Problemen ablenken.

     

    „Es tut mir furchtbar Leid, dass ich dich so zu Unrecht verdächtigt habe. Ich war ungerecht und leichtgläubig, ich hätte mir denken können, dass das Trikot nicht von dir stammte. Wie kann ich das bloß kompensieren? Willst du heute Nacht in meinem Zimmer übernachten?“, hakte Thomas vorsichtig und tatsächlich ohne perverse Hintergedanken nach, doch die Französin schüttelte langsam den Kopf und lehnte seine gefühlvoll vorgetragene Einladung ab.

     

    „Nein, Thomas. Ich weiß, dass du mir Schutz und Trost spenden willst, aber ich muss jetzt einfach allein sein und ein wenig nachdenken, zumindest für diese eine Nacht. Ich bleibe lieber auf meinem Zimmer ganz allein.“, antwortete sie niedergeschlagen.

     

    „Das akzeptiere ich vollkommen, ich kann dich gut verstehen. Ich werde das aber wieder gut machen und dir bald irgendeine kleine Überraschung zukommen lassen.“, versprach er mit einem sanften Lächeln und sah mit Freude, dass die Französin dieses vorsichtig erwiderte.

     

    „Übertreibe es nicht wieder. Ein paar Rosen oder Pralinen werden schon reichen.“, erwiderte sie sanft und spielte darauf an, dass Thomas ihr, als sie in ihrer Jugendzeit ein Paar waren, einen edlen Goldring geschenkt hatte, der ihn eine hohe dreistellige Summe gekostet hatte. Er hatte sich damals ein ebensolches Exemplar gekauft und war kurz davor gewesen sich mit der Französin zu verloben, doch einen Monat später war ihre Beziehung bereits auseinandergebrochen. Die Französin hatte das Geschenk auch erst nicht annehmen wollen und hatte sich mehrfach entschuldigt, dass Thomas sein Geld praktisch fehlinvestiert hatte. Dieser hatte damals in seinem Schmerz nichts mehr von ihr wissen wollen und seinen Teil des Ringes in irgendeinen schottischen Tümpel geworfen, während Jeanette den Ring noch einige Zeit getragen und auch aufbewahrt hatte.

     

    „Versprochen.“, erwiderte Thomas sanft und die beiden setzten ihren Weg durch die Eingangshalle nach kurzem Verharren fort.

     

    Der Sturm peitschte immer noch nervös gegen das Eingangsportal und rappelte an irgendwelchen Fensterläden. Ein Grollen drang von draußen ins Schloss und ließ die beiden einsamen Anwesenden erzittern.

     

    Am oberen Ende der Treppe angekommen, blickten sich die beiden an und Jeanette hauchte Thomas einen dankbaren Kuss auf die Lippen, bevor sie sich in Richtung ihres Zimmers abwandte. Thomas sah ihr lächelnd hinterher und wartete, bis die junge Französin ihre Zimmertür erreicht hatte, diese aufschloss und mit einem verhaltenen Winken in Richtung des schottischen Polizisten schließlich darin verschwand. Die Tür verriegelte sie gleich doppelt.

     

    Thomas hingegen wandte sich mit gemischten Gefühlen zur anderen Seite des Flurs hin und trat in den dunkleren Trakt dieser Etage. Kurz bevor er in sein eigenes Zimmer trat, fiel ihm ein, dass er noch das Zimmer des Toten untersuchen wollte. Er nahm den Zimmerschlüssel des Toten, den er am Tatort hatte mitgehen lassen, aus seiner Hosentasche und näherte sich vorsichtigen Schrittes dem Zimmer. Ein letztes Mal blickte er sich um, doch außer ihm befand sich niemand in der Nähe. Auf den düsteren Gängen herrschte eine drückende Stille, alles wirkte wie ausgestorben. Die Ruhe der Toten schien sich über das mysteriöse Horrorschloss gelegt zu haben.

               Thomas wollte gerade den erbeuteten Schlüssel verwenden, als er merkte, dass die Tür einen Spalt weit offen stand. Mit einem unguten Gefühl im Magen stieß er die Zimmertür auf und machte einen ersten Schritt. Er hoffte darauf, dass der Täter einen ersten Fehler gemacht hatte und wollte nicht warten, bis sie irgendwann die Kollegen verständigt hatten und diese mit den Untersuchungen beginnen konnten. Thomas wollte sofort eingreifen und den Anwesenden und sich selbst beweisen, dass er ein guter Polizist war, der nicht so weltfremd und leicht manipulierbar war, wie er in Bezug auf die Französin gewirkt hatte. Er wollte sich und allen Anderen beweisen, dass er willenstark sein konnte, wenn es wirklich darauf ankam, dass er einen kühlen Kopf bewahren konnte. Und nun kam es tatsächlich darauf an.

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