• Kapitel 49

     

    Kapitel 49: Freitag, 3 Uhr 00, Thomas Zimmer


    Thomas hatte immer einige Pflaster und Verbandszeug in seiner Reisetasche, die jetzt dem verstörten, erschöpften und fast lethargisch im Bett liegenden Butler zu Gute kam. Der schottische Polizist hatte einst einen umfangreichen Erste Hilfe Kurs absolviert und verarztete die Wunden des Butlers in angemessener Weise. Er hatte einige derbe Schläge abbekommen, auch eine Platzwunde an der Stirn, die Thomas besonders vorsichtig gesäubert hatte. Der Butler stöhnte einige Male, nahm aber ansonsten in keiner Weise Kontakt zu Thomas oder dem betreten danebenstehenden Mamadou auf. Der Butler schien in eine Art Schockzustand gefallen zu sein und Thomas setzte sich nachdenklich auf die Bettkante, nachdem er die letzten Reste verkrusteten Blutes aus dem Gesicht des ehemaligen Drogendealers gewischt hatte. Thomas war völlig müde, hatte Kopfschmerzen, aber auch enorme Sorgen und sogar ein wenig Angst vor dem Einschlafen.

    Mamadou erzählte seinem provisorischen schottischen Kollegen noch einmal ausführlich die Geschichte. Mamadou war im Schloss patrouilliert und hatte irgendwann gemerkt, dass Lykström seinen Posten verlassen hatte. Magdalena Osario hatte nur erwähnt, dass er mit ihr über die Herkunft des Butlers gesprochen habe und sich danach entfernt habe, um in der Küche eine Flasche Wasser zu besorgen. Dazu war es nicht gekommen. Lykström war stattdessen wohl Gwang-jo über den Weg gelaufen, der den Plan gehabt hatte dem Butler einen nächtlichen Besuch abzustatten. Angesteckt von dem hinterhältigen und bösartigen Koreaner hatte Lykström diesen begleitet, um einige Antworten in dem tödlichen Verwirrspiel zu erhalten, nachdem man die altersschwache Tür zu seinem Turmzimmer mit geballter Wut zerstört hatte. Als der Butler nicht geantwortet hatte, wurde Gewalt angewandt, schließlich hatten die beiden nächtlichen Besucher ihr Opfer in den Keller geführt, um dort Beweise für die versteckten Drogen zu erhalten. Unglücklicherweise waren Mamadou und die spanische Schlossherrin in jenem Moment der Abwesenheit in das Zimmer des Butlers gegangen, da der Afrikaner die Aktionen des schwedischen Englischlehrers vorausgesehen hatte. Sie waren durch den verwüsteten Raum und die Kampfspuren in ihren Annahmen bestätigt worden und hatten systematisch die Trakte durchsucht, bis sie zufällig das Schreien und Wimmern des Butlers hörten, der sich irgendwie von seinen Bewachern gelöst hatte und aus den Kellergewölben gestürzt kam, eng verfolgt von seinen beiden Widersachern. In der Eingangshalle hatten sie ihn eingeholt, doch der Butler hatte sich noch geschickt verteidigt und wie eine Furie um sein Leben gekämpft. Im letzten Moment hatte Mamadou eingreifen können, der Butler war mit letzter Kraft in den oberen Gang geflohen und der dort verursachte Lärm hatte dann die meisten Gäste geweckt.

    Thomas lauschte gebannt den Ausführungen seines Kollegen. Gewisse Teile der Gruppe entwickelten in der Stresssituation, in der sie sich alle zweifellos befanden, eine gefährliche Eigendynamik. Die lebensbedrohliche Situation verschärfte die Konflikte und die Isolation der einzelnen Personen. Jeder dachte an sich, sein Überleben und entwarf hirnrissige Verschwörungstheorien. Es wurden kurzweilige, spannungsgeladene Zweckgemeinschaften eingegangen, aber oft eskalierten selbst kleine Streitereien und gerade diese Kontraproduktivität und Angst spielte dem unbekannten Serienmörder in die Karten. Je mehr die Gäste isoliert waren, desto leichter konnte man ihnen auflauern, sie allein antreffen oder unbemerkt weitere Fallen oder Schandtaten vorbereiten. Es war ein psychologisches Duell, in dem der ominöse Mörder bislang klar im Vorteil lag. Thomas fragte sich, ob der Killer das Ganze nicht einfach nur tat, um sich an der Hilflosigkeit anderer Menschen zu laben und sich selbst stark und allmächtig zu fühlen. Der junge Schotte glaubte längst nicht mehr an ein Motiv wie etwa einen Dreifachmord aus Rachsucht, Eifersucht oder ähnlichen Dingen. Ein Schauer rieselte fröstelnd über den Rücken des Schotten, als er die unaussprechliche Lösung vor seinem inneren Auge wiedergespiegelt sah. Er saß nun ebenso apathisch auf dem Bett wie der schottische Butler. Thomas sah bereits weitere tote Gäste vor seinem inneren Auge und selbst er würde diesem Schicksal kaum entrinnen können. Der Mörder schien nur noch das Ziel zu haben jeden einzelnen der Schulgruppe auszuschalten und niemanden zu verschonen.

    Thomas spürte wie seine Hände zitterten und seine Augen huschten nervös hin und her, wobei er seine äußere Umgebung kaum noch wahrnahm. Stattdessen spukten ihm die Bilder erstochener, zerfetzter Menschen durch den Kopf, das Bild einer düsteren, verregneten Insel, auf der ein unheilvolles, gotisches, grausam majestätisches Schloss stand, umrahmt von einer kargen und feindlichen Landschaft und einem mahnenden Friedhof.

    Ein lautes Donnern riss den Schotten urplötzlich aus seiner Lethargie und ließ ihn aufschrecken. Das Unwetter war wieder stärker geworden. Erbarmungslos prasselte der Regen gegen die Zimmerfenster. Ein Windhauch blies wie von Geisterhand eine flackernde Kerze aus, sodass Thomas beinahe völlig im Dunkeln saß. Lediglich eine Art Petroleumlampe glühte noch auf einem Nachttisch vor sich hin. Der Strom schien im kompletten Schloss ausgefallen zu sein und der Schotte nahm sich vor die Sicherungen zu untersuchen, obwohl er davon ausging, dass dieser Stromausfall nicht unbedingt manipuliert worden war, sondern dass das Unwetter daran Schuld trug. Einen Generator, der nun zerstört war, schien es nur für das Geheimzimmer gegeben zu haben. Thomas fluchte grimmig. Selbst das Wetter und alle äußeren Umstände spielten dem Mörder in die Hände.

    Plötzlich berührte Thomas etwas am Arm. Blitzschnell fuhr er herum, hob seinen Arm und erstarrte. Erleichtert atmete er auf, als er sah, dass es lediglich der Butler war, der ihn mit eisernem Griff umklammert hielt. Er schien aus seinem tranceähnlichen Zustand endlich erwacht zu sein. Dennoch stand der Mann noch unter Schock und stammelte verängstigt vor sich hin, seine Augen blitzen so unheimlich auf, dass Thomas es selbst in beinahe absoluter Dunkelheit erkennen konnte. Er bekam eine Gänsehaut und warf einen Blick zu seinem unbeweglichen Kollegen, der in einer dunklen Ecke des Raumes stand und wie ein Mahnmal wirkte. Sein Gesicht war in der Schwärze des Raumes nicht mehr zu erkennen, nur noch schemenhafte Umrisse waren von ihm zu erahnen.

    „Bitte, ich habe nichts getan. Es ist die Wahrheit. Diese verdammten Polizisten müssen die Sachen gefunden und weggeräumt haben. Einem von ihnen habe ich mein Geheimnis gestanden. Warum hat er nichts gesagt? Warum hat er nicht erwähnt, dass er die Sachen irgendwohin entwendet hat? Warum tut ihr mir das alles an? Ich töte nicht, ich bringe niemanden um. Bitte, lasst mir mein Leben. Grundgütiger Herr, schütze mich vor der blinden Rachsucht der Menschen, sonst werde ich sterben, noch heute. Hilf mir!“, murmelte der Butler apathisch vor sich hin und schien durch Thomas hindurchzusehen. Seine Stimme war immer lauter geworden, seine Hand nahm den Unterarm des schottischen Polizisten in eine eiserne Umklammerung, bis es diesem wehtat und er versuchte sich aus dem Griff hinauszuwinden. Es gelang ihm nicht, der Griff war eisern und nicht zu durchbrechen.

    Dann plötzlich war alles so abrupt vorbei, wie es angefangen hatte. Der Butler löste mit feuchter und zitternder Hand seinen Griff, schrie schrill auf und sank urplötzlich schweißgebadet zurück auf das Bett. Er verstummte abrupt, sein Brustkorb hob sich hektisch auf und ab, die Augenlider flatterten, aber waren dennoch geschlossen.

    Thomas rieb sich seinen Unterarm und dachte über die Worte des Butlers nach. Traf ihn eine Teilschuld, weil er dem Butler nicht gesagt hatte, dass er die Drogenbeute verlegt hatte? Der schottische Polizist warf einen mitleidigen Blick auf die verarzteten Wunden des Butlers. Hätte er all dies verhindern können?

    In diesem Moment trat Mamadou aus dem Schatten des Zimmers und auf Thomas zu. Er schien die düsteren Gedanken seines Kollegen erraten zu haben und über eine exzellente Menschenkenntnis zu verfügen. Beruhigend legte er seinen Arm auf die Schulter des Schotten und blickte diesen tiefgründig an. Verstohlen wischte sich Thomas eine Träne aus den Augenwinkeln und atmete tief durch.

    „Uns trifft keine Schuld. Es ist unabänderlich, aber es konnte auch niemand solch eine Überreaktion voraussehen. Morgen früh sollten wir den Zweiflern das Versteck im Wald zeigen, damit wir den Butler wieder schützen können und sie uns glauben. Vielleicht können wir diesen verbitterten Koreaner nicht von seiner Verschwörungstheorie abbringen, aber zumindest die anderen Gäste würden sehen, dass der Butler und wir dann die Wahrheit gesagt haben und werden den Täter woanders suchen müssen.“, schlug Mamadou ruhig vor und bekam von Thomas ein nachdenkliches Nicken geschenkt.

    Mamadou lächelte sanftmütig, obwohl auch ihn Sorgen und Ängste plagten. Er blickte nachdenklich auf den nun völlig still liegenden Butler und seinen Kollegen, der aus dem Fenster hinaus in die unergründliche Schwärze der Nacht starrte.

    „Das Bett ist groß genug für dich und den Butler. Legt euch schlafen, ich werde vor das Zimmer gehen und noch Wache halten. Sei beruhigt, solange ich in der Nähe bin und wir uns vertrauen, wird niemand mehr versuchen den Butler so übel zuzurichten oder dich mit hinterhältigen Gedanken im Verlauf der Nacht aufsuchen.“, führte Mamadou weiter aus und sah wie sich sein Kollege wortlos umdrehte und tatsächlich auf den äußersten Rand des Bettes zusammenkauerte und den Kopf auf eines der Kissen legte. Den größten Platz nahm weiterhin der nun leicht schnarchende Butler ein.

    Zufrieden nickend schritt Mamadou rückwärts aus dem Raum, öffnete behutsam die Zimmertür, blickte in einen grauen und leeren Gang, verschloss das Zimmer und lehnte sich tief durchatmend gegen den Türrahmen. Außer ihm gab es nach diesen Ereignissen keinen anderen Wachposten mehr und das konnte theoretisch gefährlich sein, da Mamadou nur einen gewissen Teil des Traktes überwachen konnte. Er wollte Magdalena Osario und Blörn Ansgar Lykström, die mit ihm eigentlich für die Wachperiode verantwortlich waren, allerdings nicht aufsuchen oder wecken. Die beiden mussten sich erst einmal von den Streitereien erholen. Immerhin hatte der Schwede im Gegensatz zu Gwang-jo Reue gezeigt und doch menschlich reagiert. Lediglich der Korenaer und Fatmir stellten in ihrem Hass auf den Butler ein großes und kaum auflösbares Risiko dar, während Mamadou aus der Rolle von Elaine Maria da Silva noch nicht schlau wurde. Die Frau war für ihn ein abstoßendes Mysterium.

    Nachdenklich massierte Mamadou sich die Wangenknochen und ließ sich zu Boden sinken. Er versuchte die Augen wach zu halten, doch trotz seines inneren Alarms und Pflichtbewusstseins schaffte er es nicht die Gesetze der Natur zu durchbrechen und er musste der Hektik und dem Schlafmangel der letzten Tage nun doch Tribut zollen, sodass ihm die Augen irgendwann zufielen, der Kopf sich auf die Brust neigte und der Ghanaer in einen unruhigen Schlaf verfiel.

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