• Rammstein - Liebe ist für alle da (2009) (9,5/10)

    Genre: Industrial Metal
    Label: Universal
    Spielzeit: 46:07
    Band homepage: Rammstein

    Tracklist:

    1. Rammlied
    2. Ich tu dir Weh
    3. Waidmanns Heil
    4. Haifisch
    5. B********
    6. Frühling in Paris
    7. Wiener Blut
    8. Pussy
    9. Liebe ist für alle da
    10. Mehr
    11. Roter Sand

     

    Rammstein - Liebe ist f�r alle da 

    RAMMSTEIN sind ein Phänomen, das keinerlei Einführung mehr bedarf. Die Gruppierung aus Berlin ist weltweit berühmt geworden als wichtigster Vertreter der Neuen Deutschen Härte, die harte industrielle Riffs mit simplen aber eben dadurch sehr einprägsamen und manchmal gar tanzbaren Keyboard Beats vermischt. Dazu kommt bei RAMMSTEIN natürlich noch die sehr martialische Stimme von Till Lindemann, die längst das wohl bekannteste Markenzeichen der Gruppierung geworden ist, das viele versuchen zu kopieren, selbst aber nie erreichen. Besonders nennenswert sind auch die aufwändigen Konzerte der Bands, bei der man viel Pyrotechnik zu sehen bekommt, ebenso wie vielseitige Verkleidungen und Dekorationen, die gar mit expliziten Schauspieleinlagen garniert sind. Über all dem stehen inzwischen aber noch die gesellschaftskritischen und sehr kontroversen Texte, die oftmals das formulieren, was viele gerne sagen möchten, sich aber nicht trauen oder es einfach nicht so auf den Punkt bringen können. Dabei arbeiten RAMMSTEIN besonders mit einem Schuss Provokation und schwarzen Humor.

    Dieser wird inzwischen manchmal etwas vorhersehbar wie in "Wiener Blut", das natürlich ein berühmtes Lied von FALCO auf die Schippe nimmt und den abstossenden Fritzl-Fall aufrollt. Trotz dieser gewissen Vorhersehbarkeit konnte die Band wieder einmal Behörden und Kritiker provozieren. Der Rummel um die kontrovers diskutierte erste Single "Pussy", bei der es um Sextourismus geht und die exklusiv auf einer Dating-Seite für Erwachsene mit einem Videoclip promotet wurde in dem Pornodarsteller, die den Bandmitgliedern erstaunlich ähnlich sehen, verschiedene Sexualpraktiken ausprobieren, war da nur die Spitze des skandalumwitterten Eisberges. Denn kurz darauf erschien das gesamte Album, bei dem gleich die zweite Single "Ich tu dir weh" mit seinem sadomasochistischen Text für Aufregung sorgte. Das Album wurde daher rasch von den Bundesbehörden indiziert, beziehungsweise nur noch unter der Ladentheke den Erwachsenen zum Verkauf angeboten. Es kam eine neue Version des Albums ohne das kritisierte Lied und auch ohne ein explizites Foto im Booklet, in dem die Bandmitglieder in bester Metzgermanier verschiedenste Objekte genussvoll zerstückeln. Die Gruppierung erhielt zudem die Auflage das zensierte Lied nicht mehr live spielen zu dürfen und änderte daher einige Textstellen um. Ein halbes Jahr später wurde das Urteil revidiert und das reguläre Album kam zurück in den Handel. Zudem gab es auch eine limitierte Edition des Albums in einem Metallköfferchen mitsamt Handschellen, Gleitgel und sechs pinken Dildos, die angeblich nach den Originalen der Bandmitglieder kreiert sein sollen. Insgesamt kann man hier resümieren, dass RAMMSTEIN für Deutschlands provokativ-martialischen Freigeist stehen, während die Behörden den Part der pingelig-verklemmten deutschen Spiesser übernehmen.  

    Abgesehen von dieser Seifenoper finden sich auf dem Album selbst aber genug wirklich überzeugende Lieder, sodass der grosse mediale Firlefanz eigentlich nur unnötig störendes Beiwerk war. Die Band bleibt sich selbst musikalisch und textlich treu, verfeinert aber einige wichtige Komponenten und präsentiert hier ihr meiner Meinung nach bestes Album. Als Glanzleistungen würde ich in der Hinsicht nicht nur die simple, aber extrem eingängige Single "Pussy" und das alles überragende düster-atmosphärische und doch durchaus eingängige und tanzbare "Ich tu dir weh" bezeichnen, sondern beispielsweise auch das schöne "Mehr", das die damals und auch heute durchaus noch akute Finanzkrise kritisiert und einen rücksichtlosen Kapitalisten porträtiert und zwischen harten Riffs und melancholischen Passagen variiert. Selbst Till Lindemann klang selten so pathetisch und doch irgendwie emotional wie in diesem Stück. Für weitere Sternstunden sorgen auch die überraschenderen Stücke wie das altmodisch-charmante "Frühling in Paris" mit romantischem Edith Piaf Zitat im Originalton von Till Lindemanns massivem Organ verfeinert oder die dramatisch-episch-pathetische Ballade "Roter Sand", bei der es um ein Duell zwischen zwei Herren geht, was mich persönlich ein wenig an Theodor Fontanes "Effi Briest" erinnert.

    Früher habe ich den international renommierten Status des wohl besten musikalischen Exportschlagers Deutschlands nie wirklich verstanden und die Musik der Originale wie DIE KRUPPS oder OOMPH! Vorgezogen. Ich hätte es lieber gesehen, wenn Gruppierungen wie die legendäre Punkband DIE TOTEN HOSEN oder die charismatischen Mittelalterrocker von IN EXTREMO diesen Platz auf dem Thron eingenommen hätten. Seit dem ungewöhnlich vielseitigen "Reise, Reise" und dem überraschend introspektiven "Rosenrot" habe ich die Band aber besser kennen und schätzen gelernt und "Liebe ist für alle da" hat mich dann endgültig zum Fan gemacht, sodass ich mir die Band sogar live angeschaut habe. Vielen anderen kritischen Geistern könnte es möglicherweise ähnlich gehen und dieses Album sollte diese und natürlich auch die Anhänger mit durchaus elaborierten und tiefsinnigen Texten hinter den zunächst plakativ erscheinenden Provokationen und auch mit mehr musikalischer Finesse als je zuvor überzeugen. So gelingt der Gruppierung hier trotz einiger schwächeren Nummern wie dem hirnlos brutalen "B********" wohl das beste deutschsprachige Album des Jahres 2009. RAMMSTEIN schaffen es ihren ganz eigenen Stil weiter zu verfeinern, ja geradezu zu destillieren, ein wenig so wie die Hauptperson in Patrick Süskinds "Parfüm". Dieses Bild zwischen Ästhetik und Ekel passt irgendwie perfekt zu diesem Album und der Band selbst und beendet diese Kritik mit einer treffenden Metapher.

    (Online 18. Oktober 2012)

    « Rammstein - Liebe ist für alle da (2009) (9,5/10)Ô Canada II »
    Partager via Gmail Delicious Technorati Yahoo! Google Bookmarks Blogmarks