• Kapitel 105

     

    Kapitel 105: Samstag, 19 Uhr 33 Zimmerflur


    Thomas konnte es einfach nicht fassen. Er trat stockend näher zu dem zerstörten elektronischen Gerät, strich mit seiner Hand über den lädierten, löchrigen Bildschirm, die Kerben der zerschmetterten Tastatur und blickte auf das gewaltsam herausgerissene Verbindungskabel. Kopfschüttelnd und mit Tränen in den Augen wandte sich Thomas zur Tür um.

    Dort standen die anderen Anwesenden und sie brauchten keine Fragen zu stellen oder Kommentare abzugeben. Sie sahen klar und deutlich, dass sich die Hoffnungen und der Tatendrang des jungen Schotten von einer Sekunde auf die andere in Luft aufgelöst hatten.

    Mit zusammengeballten Fäusten stand er bebend vor seinen Begleitern und blickte jedem von ihnen tief und böse in die Augen. Er bemerkte den neutralen, fast emotionslosen Gesichtausdruck von Elaine Maria da Silva, das noch kältere Gesicht von Marilou Gauthier und den verwirrten Blick von Abdullah Gadua.

    „Wer von euch war das?“, fragte Thomas leise, aber mit brutaler Intensität.  

    Die Angesprochenen schwiegen allesamt, wichen dem Blick des selbst ernannten Ermittlers aus. Das drückende Schweigen steigerte nicht nur die Spannung, sondern auch die wütende Ungeduld des Polizisten, der plötzlich mit einer raschen Handbewegung den Rest des Laptops wuchtig vom Tisch fegte, sodass das Gerät scheppernd auf dem Boden aufschlug und in weitere Kleinteile zerbarst. Abdullah Gadua zuckte stöhnend und überrascht zusammen, während die beiden Damen ihn in einer Mischung aus Unverständnis und leichter Verachtung beobachteten.

    Thomas wusste, dass er gerade die Nerven verlor und sein Verhalten vielleicht unreif oder blamabel wirkte, aber er schaltete die kritischen oder besonnenen Stimmen in seinem Kopf völlig aus. Er sah jetzt nur noch rot.

    „Ich habe euch eine Frage gestellt, verdammt noch mal! Antwortet, ihr Bastarde! Sonst sind doch alle immer so neunmalklug hier, jetzt redet gefälligst!“, brüllte er und Speichel sprühte von seinen bebenden Lippen.

    Sein Gesicht hatte sich puterrot verfärbt, seine Augen traten beinahe aus ihren Höhlen und seine Halsschlagader pochte mit rasender Gewalt und war deutlich aus ihrer Haut hervorgetreten. Die anderen Anwesenden starrten beschämt zu Boden, doch plötzlich blickte Marilou auf und fixierte den Schotten kalt und abfällig.

    „Diese Anschuldigungen und dieses inakzeptable Verhalten muss ich mir nicht von so einem Nichtsnutz bieten lassen. Es reicht entgültig. Schatz, ich ziehe vor, dass wir uns zurückziehen und die beiden hier allein lassen! Am besten verschwinden wir in der anderen Ecke des Schlosses, so sind wir vor ihnen wenigstens sicher.“, bemerkte Marilou Gauthier giftig, griff hart das Handgelenk ihres Mannes, warf stolz ihr Haar zurück und drehte sich geschwind wieder zur Tür um, ihren Mann dabei mit erstaunlichen Kräften hinter sich herziehend.

    „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“, bemerkte Abdullah hingegen stammelnd, taumelte seiner Frau hinterher und versuchte sich halbherzig aus ihrer Umklammerung zu befreien.

    Die Kanadierin fuhr jedoch wie eine Furie herum und funkelte ihren Mann aggressiv und dann verächtlich an.

    „Hast du etwa Angst vor mir? Du, der mutige und souveräne Mann, du hast Angst, dass deine eigene Frau dich meuchelt?“, fragte sie halb sarkastisch, halb entrüstet.

    „Nein, nein, um Gottes Willen! Nicht doch! Ich denke aber, wir sollten doch alle zusammenbleiben. Wenn wir uns jetzt trennen, dann sind wir direkt wieder hilfloser. Wir müssen uns außerdem einfach mal in Ruhe unterhalten, es hat sich einiges geändert.“, warf Abdullah noch ein und wirkte dabei sehr nervös und ängstlich, was seine Gattin sofort mit hochgezogenen Augenbrauen bemerkte.

    „Du bist doch sonst nicht so zimperlich, vor allem in Bezug auf Frauen.“, warf sie giftig ein und Abdullah wurde dabei knallrot und wich ängstlich zurück, wobei er abwehrend die Arme hob.

    „Was willst du damit andeuten, Süße?“, fragte er irritiert und kleinlaut und warf dabei auch einen hilfesuchenden Blick zu Thomas, der die Auseinandersetzung angespannt verfolgte. Die Spannung hatte sich von seiner Person nun scheinbar auf die Kanadierin übertragen, aber dies machte die Atmosphäre für ihn nicht erträglicher, eher im Gegenteil.

    „Das weißt du genau! Wenn du Mumm hast und tatsächlich mit reden willst, dann komm mit mir mit und wir klären das unter vier Augen. Oder möchtest du diese Privatgespräche auch gerne vor dem Herrn Inspektor führen?“, fragte sie verächtlich nach und rümpfte dabei die Nase, wobei sie Thomas einen abwertenden und vernichtenden Blick zuwarf.

    Abdullah Gadua wirkte völlig irritiert und war der Verzweiflung nahe. Er ruderte wild mit den Armen, gestikulierte ohne dabei Worte zu finden, wich immer weiter von seiner Frau zurück und schien sich selbst nicht darüber im Klaren zu sein, was er eigentlich wollte. Er warf wieder hilflose Blicke zu Thomas, der ihn nur emotionslos ansah und dann doch immerhin mit den Schultern zuckte, was dem verstörten Gatten natürlich überhaupt nicht weiterhalf.

    „Wunderbar. Du stellst dich also auf die Seite der anderen Anwesenden. Du entscheidest dich gegen deine Frau und für zwei Nichtsnutze mit durchgedrehten Theorien, die du vor wenigen Stunden noch eigenhändig umbringen wolltest.“, schrie die Kanadierin wütend und fassungslos und der Wahnsinn blitzte dabei in ihren Augen.

    Selbst ihr Gatte hatte zu viel Angst davor, auf diese Anschuldigungen zu reagieren, wich noch weiter zurück und stieß schließlich erschrocken gegen eine Bettkante. In diesen Moment der Überraschung stürzte die nächste Schimpfkanonade seiner Frau hinein.

    „Das also bin ich dir Wert! Immer schon hast du mich behandelt wie den letzten Dreck und meintest meine Gefühle einfach mit deinem Geld kaufen zu können. Ich habe versucht dir alles zu geben, was ich war und was ich hatte und du dankst es mir auf diese Weise.“, schrie sie vor Schmerz und Zorn, blickte wütend in die Runde, fuhr dann herum und warf die Zimmertür krachend hinter sich zu, sodass Abdullah erschrocken zusammenfuhr und steif auf das Bett des toten Polizsiten fiel.

    Dieser Schock jedoch schien eine Art Weckruf für den verwirrten Gatten gewesen zu sein, denn er stand auf, atmete tief durch, ging dann schnurstracks zur Tür und riss diese ebenfalls wuchtig auf.

    „Lass uns reden, Schatz! Ich werde ja mit dir kommen, keine Angst.“, rief er in den Gang und wirkte dabei nicht erzürnt oder gekränkt, sondern geradezu kleinlaut und schuldbewusst. Marilou hatte ihr Ziel somit wohl erreicht.

    Thomas wollte nicht verstehen, warum Abdullah sich vor anderen Anwesenden so erniedrigend behandeln ließ und seiner Gattin dann dennoch hinterher rannte. Scheinbar war seine Liebe für sie größer, als die gekränkte Kanadierin es selbst annahm.

    „Abdullah, mach jetzt keinen Fehler, bleib bei uns!“, rief Elaine Maria da Silva hinter dem Gatten her, der sich noch einmal kurz zu den beiden umwandte, mutlos lächelte und dabei Tränen in den Augen hatte. Er schien noch einmal kurz zu sinnieren, schüttelte dann aber traurig den Kopf und gab eine leise und niedergeschlagen wirkende Antwort.

    „Ich kann nicht anders. Ich muss jetzt meine Zukunft retten.“, gab er pathetisch zurück und trat entgültig in den Flur.

    „Abdullah, wenn du dich jetzt von uns trennst, dann wirst du deine Zukunft direkt zerstören!“, entgegnete Thomas ihm energisch, doch der Gatte hatte die Tür bereits ins Schloss geworfen und rannte, unablässig den Namen seiner Gattin rufend, den Flur hinunter.

    Elaine Maria da Silva blickte Thomas lang und bedeutungsschwer an, bevor sie sich endlich erschöpft auf das Bett des toten Polizisten fallen ließ und das Zimmerfenster fixierte, gegen welches immer noch die bindfadenähnlichen Regenschauer prasselten, die auch in dieser Nacht nicht abreißen zu schienen.

    „Jetzt ist guter Rat teuer. Was sollen wir tun? Ihnen hinterher rennen?“, wollte die Brasilianerin nach einer Zeit wissen und blickte Thomas düster an.

    Irgendwie fühlte sich der Schotte von diesem Blick seltsam berührt. Da flackerte für einen kurzen Moment wieder das Mysteriöse und Attraktive der Brasilianerin auf, das ihn erregte.

    „Damit würden wir alles nur noch schlimmer machen. Die beiden brauchen jetzt ein klärendes Gespräch.“, entgegnete Thomas und ließ sich auf den Hocker vor dem kleinen Schreibtisch fallen.

    „Was machen wir in der Zwischenzeit?“, wollte Elaine Maria da Silva leicht ungehalten wissen.

    „Wir müssen zusammenbleiben.“, gab Thomas nach kurzer Zeit des Nachdenkens zurück und fixierte nun auch die undurchsichtige, von außen durchnässte Glasscheibe.

    „Das ist mir klar. Aber wir müssen doch sonst noch etwas unternehmen.“, bemerkte die Brasilianerin voller rebellierendem Tatendrang und war von dem Bett wieder entschlossen aufgesprungen, während ihr Begleiter schlaff und emotionslos sitzen blieb und wie paralysiert nach draußen starrte.

    „Wir können nichts mehr tun. Alle unsere Möglichkeiten wurden zunichte gemacht. Wir können nur abwarten und beten.“, gab Thomas tonlos zurück und dachte an seine versteckte Bibel, deren Inhalte ihm vielleicht neue Kraft geben würden.

    Seine Begleiterin machte schon den Mund auf, um Thomas zu widersprechen, doch dann klappte selbiger verbittert zu, kopfschüttelnd hockte sie sich auf das Bett, vergrub ihr Gesicht in den Händen. Thomas blickte seine Begleiterin tonlos und fast gleichgültig an. Er hatte noch mächtig mit der erlittenen Niederlage, dem Schock über den zerstörten Laptop, zu kämpfen.

    Schließlich blickte die Brasilianerin noch einmal auf, blickte in Richtung ihres Partners und doch irgendwie durch ihn hindurch.

    „Ich befürchte, da hast du Recht.“, flüsterte sie tonlos und starr und Thomas erschrak fast, da er die lebendige und impulsive Brasilianerin noch nie so hilflos erlebt hatte.

    So saßen sie mit Schwermut auf dem Zimmer und starrten minutenlang nach draußen in den dichten Regen. Ihr Schweigen wurde nur vom gelegentlichen Donnerhall oder krachenden Blitzen unterbrochen.

    Irgendwann hielt Thomas das Schweigen nicht mehr aus, konnte auch keinen klaren Gedanken mehr fassen und fand auch zum Gebet nicht die nötige Muße. Ergebnislos und leer schlich er zum Fenster und sah durch die verschwommene Scheibe in den Garten des Schlosses. Immerhin waren mit seiner inneren Leere auch die quälenden Stimmen wieder aus seiner Gedankenwelt entwichen. Dennoch fühlte sich Thomas stumpf und dem Wahnsinn nahe. Waren die seltsamen Stimmen bereits die ersten Vorboten dafür gewesen, dass er der Belastung nicht mehr ansatzweise standhalten würde?

    Seufzend drückte der religiöse Schotte sein müdes Gesicht gegen die verschwommenen Fensterscheiben. Nach einigen Minuten bemerkte er eine Bewegung. Zunächst glaubte er an ein Tier, doch dann hatte er einen Verdacht, riss plötzlich mit neuer Energie das Fenster auf, sodass seine Partnerin, die in sich und ihre trägen Gedanken vertieft gewesen war, kurz schreiend aufsprang und sich hektisch umblickte.

    Der heftige Wind beförderte eine ganze Flut von Regentropfen in das Gesicht des Schotten und riss ihm zudem das Fenster aus der Hand, reizte die Drehung des Scharniers bis zum Äußersten aus und knallte überlaut gegen die Fassade des Schlosses. Sogar einige Laubblätter drifteten auf Thomas zu, der sein Gesicht nun endlich mit der frei gewordenen Hand abschirmte und angestrengt in die Tiefe blickte.

    Inzwischen war auch Elaine Maria da Silva halb ängstlich, halb erwartungsvoll zu ihm getreten und blickte nun an ihm vorbei angestrengt in die Tiefe.

    „Da ist jemand.“, bemerkte sie tonlos.

    „In der Tat. Das ist Björn Ansgar Lykström. Er kehrt zum Schlosseingang zurück.“, bemerkte Thomas und schloss dann wieder entschlossen das Fenster, während die Brasilianerin ihn fragend ansah.

    „Was hast du vor?“, wollte sie nach einigen Augenblicken wissen.

    „Wir werden ihn empfangen.“, gab Thomas zurück und gab seiner Begleiterin keine Gelegenheit für irgendeinen Einwand, sondern trat bereits entschlossen mit raumgreifenden Schritten zur Zimmertür.

    Elaine Maria da Silva schüttelte seufzend den Kopf und eilte dem Schotten, der bereits im Flur verschwunden war, eilig hinterher und warf dabei nun selbst die Tür mit neuem Elan ins Schloss.

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