• Kapitel 20

     

    Kapitel 20: Mittwoch, 22 Uhr 53, Malcolms Zimmer


    Das Nächste, was Thomas mitbekam, war wie ihm jemand an seiner Schulter rüttelte und zu ihm sprach. Wie durch einen Schleier hindurch sah er einen dunklen Schatten, der sich über ihn legte. Er wusste zunächst nicht mehr, wo er war und vor allem nicht, was überhaupt geschehen war. Sein Kopf schmerzte gewaltig, alles um ihn herum drehte sich in monotonen Spiralen und er hatte das Gefühl zu fallen. Ein plötzliches Übelkeitsgefühl stieg in ihm auf und er musste laut aufstöhnen. Immerhin hatte das seltsame Drehen aufgehört und die Kopfschmerzen waren geringer geworden. Stattdessen fühlte er eine gewisse Müdigkeit und erinnerte sich bruchstückhaft an die Dinge, die vor seiner Bewusstlosigkeit geschehen waren. Er sah sich auf dem Boden knien, mit einem Brief in der Hand, er sah wie sich eine Gestalt näherte und auf ihn einschlug. Er erinnerte sich an das Becherglas, das ihn an der Schläfe getroffen hatte und an den schwarzen Umhang, den die Person getragen hatte. Das Gesicht des Phantoms war in seiner Erinnerung nichts als eine formlose und unendliche Schwärze. Wer konnte diese Person bloß gewesen sein?

    Thomas konzentrierte sich auf die Person, die ihm nun die Wangen tätschelte und auf ihn einredete. Er brauchte einen Moment, bis er wieder genau wusste, wo er sich exakt befand und nach einiger Zeit des Überlegens fiel ihm sogar der Name der Person ein, die sich besorgt um ihn kümmerte. Mit schwacher und brüchiger Stimme hauchte er den Namen seines Gegenübers.

    „Mamadou Kharissimi?“

    Der Afrikaner lächelte erleichtert und hielt Thomas seine Hand hin. Vorsichtig und behutsam half er diesem beim Aufstehen, als das Schwindelgefühl des Schotten wieder einsetzte. Erschöpft ließ er sich auf das Bett fallen und schloss für eine Minute die Augen. Mamadou ließ ihn gewähren und Thomas hatte sich nach der dringlichst benötigten Ruhepause wieder ein wenig gefangen.

    Er öffnete die Augen und der Schleier war endgültig verschwunden. Er betastete missmutig seinen Kopf und fand dort zwei Beulen, eine relativ große am oberen Hinterkopf, die andere an der Schläfe, knapp oberhalb seines linken Auges. Die Blessuren schmerzten, doch er schien wohl noch unter einer Mischung aus Schock und Adrenalinschub zu stehen, sodass er die Schmerzen kaum merkte. Somit konnte der brutale Überfall auch nicht sehr lange zurückliegen. Thomas blickte bestätigend auf seine Armbanduhr und bemerkte, dass er gerade einmal zehn Minuten bewusstlos gewesen war.

    Mit großem Unbehagen dachte Thomas bereits an den nächsten Morgen und seine schmerzhaften Folgen.

    Langsam wandte der junge Schotte sich Mamadou zu, der nachdenklich neben ihm saß und ihn besorgt musterte. Thomas lächelte ihm zögerlich zu.

    „Was ist passiert?“, fragte der Schotte leise.

    „Ich schlafe im Nebenzimmer und habe einen großen Lärm gehört. Ich war gerade dabei einzuschlafen, bin hochgeschreckt und habe mich rasch angezogen. Als ich auf den Flur getreten bin, sah ich eine vermummte Gestalt, die auf die Treppen zulief und ich habe sie verfolgt.“, berichtete der eifrige Afrikaner.

    „Hast du dieses Phantom etwa erwischt?“, fragte Thomas, der mit einem Mal hellhörig geworden war und aus seiner Lethargie erwachte.

    „Leider nicht. Ich konnte die Person noch bis in das Kellergewölbe verfolgen. Dort habe ich sie dann verloren. Ich habe noch einige Minuten gesucht, aber es war erfolglos. Ich bin hierhin zurückgekehrt und habe dich auf dem Boden gefunden.“, erklärte Mamadou und schüttelte missmutig den Kopf.

    „Ich habe den getürkten Brief gefunden. Der Brief, der angeblich von Jeanette war. Malcolm hatte gesagt, dass er von Jeanette eine Art Brief bekommen habe, zusammen mit dem schottischen Nationaltrikot, beides als eine Art Versöhnungsgeschenk und Liebeserklärung. Ich habe mit Jeanette allerdings eben noch gesprochen und sie hat mir geschworen, dass die Sachen nicht von ihr stammen. Da ich mir dachte, dass der Brief ein wichtiges Beweisstück sein könnte, wollte ich das Zimmer des Toten untersuchten. Den Brief habe ich tatsächlich gefunden, bevor mich jemand niedergeschlagen hat.“, erklärte Thomas nun seinerseits.

    „Was stand darin?“, fragte Mamadou aufmerksam.

    „Ich konnte mir nicht alles durchlesen. Der Brief war mit Jeanettes Namen unterschrieben worden. Er war zudem mit einem Füller geschrieben und die Schrift sah ihrer sehr ähnlich. Ich könnte fast schwören, dass sie ihn selbst geschrieben hat.“, bemerkte Thomas nachdenklich.

    „Die Sache wird immer unheimlicher. Meinst du nicht, dass Jeanette den Brief tatsächlich selbst geschrieben haben könnte und dich eben niedergeschlagen hat?“, fragte Mamadou.

    „Unmöglich. Ich habe gesehen, wie sie auf ihr Zimmer gegangen ist. Sie war völlig fertig und aufgelöst und hätte es in den wenigen Minuten nicht geschafft sich unbemerkt in dieses Zimmer zu schleichen, eine Waffe zu besorgen und mich so brutal niederzuschlagen. Irgendjemand will ihr etwas in die Schuhe schieben und das Leben schwer machen.“, vermutete Thomas und ballte seine Hände entrüstet zu Fäusten zusammen.

    „Es hätte mich auch gewundert, wenn sie sich mit Malcolm vertragen hätte. Der Täter scheint aber ein sehr aufmerksamer Beobachter zu sein. Er wusste von den Streitereien, er kennt sich perfekt im Schloss aus und er verfügt über die nötige Kaltblütigkeit.“, resümierte Mamadou.

    Thomas nickte stumm. Ihm waren ähnliche Dinge aufgefallen, doch er fragte sich nach dem Motiv. Für ihn lag noch einiges im Unklaren.

     „Die Person hat drei Mal zugeschlagen. Echte Profis hätten mich mit dem ersten Schlag ausgeschaltet und vermutlich auch für längere Zeit. Der Täter ist zwar stark, aber nicht sonderlich erfahren. Oder vielleicht auch erfahren, aber nicht sonderlich stark, um mich mit dem ersten Schlag niederzustrecken“, mutmaßte Thomas vorsichtig.

    „Das könnte unser Vorteil sein. Allerdings hält sich die Person oft im Hintergrund und ist somit vorerst unangreifbar. Die Frage ist, ob es sich bei Malcolm schon um das letzte Opfer gehandelt haben könnte.“, dachte Mamadou nun seinerseits laut nach.

    „Du denkst, dass wir es mit einem Serienkiller zu tun haben könnten?“, fragte Thomas ein wenig ungläubig nach, obwohl ihm der Gedanke auch schon gekommen war.

    „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Es könnte auch sein, dass irgendjemand aus Neid oder Liebeswahn alle Männer, die Jeanette nahe stehen, um die Ecke bringen möchte.“, gab der Afrikaner zu bedenken.

    „Dann wäre gerade ich primär in Gefahr.“, stellte Thomas nüchtern fest und versuchte das drückende Gefühl in seinem Magen zu ignorieren.

    „Vielleicht auch Hamit. Er springt zwar auf Jeanette nicht an, aber sie hat sich an ihm ja sehr interessiert gezeigt.“, stellte Mamadou weiterhin fest.

    „Wenn ich aber näher überlege, dann kann diese Theorie doch nicht stimmen.“, warf Thomas nach einer Weile kopfschüttelnd ein.

    „Wieso nicht?“, fragte Mamadou ein wenig erstaunt.

    „Der Täter hätte mich eben einfach töten können. Spätestens als ich bewusstlos war oder auch schon vorher. Er hätte statt dem Zahnputzbecher ein Messer nehmen können oder irgendetwas anderes. Somit hat man es wohl nicht auf alle Liebhaber von Jeanette abgesehen“, argumentierte Thomas.

    „Da muss ich dir wiederum widersprechen. Der Tod von Malcolm war perfekt bis ins kleinste Detail vorbereitet. Du bist unerwartet dazwischengeplatzt. Der Täter ist hier überrascht worden und hatte möglicherweise gar keine Waffe dabei. Außerdem hat er durch den Lärm Angst gehabt, dass er entdeckt werden könnte. Ich war ihm ja auch tatsächlich auf den Versen. Er stand unter Zeitdruck und wollte entkommen.“, vermutete Mamadou.

    „Dann habe ich deinem Erscheinen praktisch mein Leben zu verdanken.“, stellte Thomas schaudernd fest und sah betreten zu Boden.

    „Das kann sein. Das ganze Raten hilft uns aber überhaupt nicht weiter. Wir sollten diese Nacht unsere Türen vorsorglich abschließen und am nächsten Morgen müssen wir die Wahrheit verkünden. Es ist einfach inzwischen zu viel geschehen. Wir werden die Polizei über das Funkgerät der Yacht verständigen und Befragungen anstellen.“, gab sich Mamadou entschlossen und energisch.

    „Die Befragungen werden allerdings kaum helfen. Die Anwesenden werden sich gegenseitig zerfleischen. Das Alibi wird auch immer dasselbe sein. Alle waren brav und allein auf ihren Zimmern.“, stellte Thomas mit einem weitaus pessimistischeren Tonfall fest.

    „Das Problem ist, dass solche Aussagen absolut kein vernünftiges Alibi darstellen. Jede Person hätte sich eben aus ihrem Zimmer schleichen können. Wir sollten aber darauf hoffen, dass der Täter oder die Täterin bei dem Verhör nervös wird und irgendeinen Fehler macht oder sich einfach verplappert.“, wandte Mamadou mit einer positiveren Nuance ein.

              Plötzlich torkelte eine dunkle Gestalt durch die leicht offenstehende Zimmertür und starrte die beiden Anwesenden mit großem Erstaunen an. Es handelte sich um Fatmir, der sichtbar betrunken war und sich lallend umwandte. Thomas erinnerte sich daran, dass er vorher noch als Letzter im Speisesaal gewesen war.

    „Das... ist ... ja ... gar nicht... mein Zimmer, w-w-wo bin ich.... denn gelala....nach links... da...da...wird mein Zimmer sein...ja...“, brabbelte der bemitleidenswerte Albaner und verschwand wieder auf dem Flur.

    „Ihn können wir als Täter wohl auch ausschließen.“, kommentierte Mamadou trocken das Erscheinen des Alkoholsüchtigen.

    Thomas und er erhoben sich und blickten sich noch einmal in dem chaotischen Zimmer um. Der junge Schotte machte sich keine falschen Hoffnungen, denn sowohl der Brief, als auch das Glas, mit dem er attackiert worden war, befanden sich nicht mehr in dem Zimmer.

    Schließlich traten Thomas und Mamadou auf den Flur, der jetzt verlassen vor ihnen lag. Von draußen drang immer noch der Lärm des heftigen Unwetters in das düstere Schloss.

    „Ich schlage vor, dass wir uns morgen um neun Uhr in der Eingangshalle treffen. Wir werden zuerst durch den Keller gehen und nach Spuren suchen. Danach werden wir mit dem Direktor auf das Schiff gehen.“, schlug Mamadou vor.

    Thomas stimmte mit einem müden Nicken zu und die beiden verabschiedeten sich. Thomas ging zu seinem Zimmer, schloss die Tür gleich doppelt ab und wühlte in seiner Sporttasche nach einem Aspirin, da die Kopfschmerzen immer drückender wurde. Das Blut pochte gegen seine Schläfen und sein Kopf schien zerspringen zu wollen. Aus seiner Willensstärke und Entschlossenheit war eine resignierte Niedergeschlagenheit geworden. Innerhalb weniger Momente hatte sich das Blatt gewendet und Thomas hatte sich selbst enttäuscht und amateurhaft überrumpeln lassen. Was wohl sein Kollege Mamadou von ihm denken musste?

    Erschöpft legte er sich auf sein Bett und schloss die Augen. Der Schmerz ließ langsam nach und noch bevor er sich überhaupt umgezogen hatte, war Thomas bereits mitten auf dem Bett in einen unruhigen Schlaf gesunken.

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