• Kapitel 34

     

    Kapitel 34: Donnerstag, 13 Uhr 45, Arbeitszimmer


    Erwartungsvoll dreinblickend und äußerlich ruhig nahm Abdullah Gadua Platz. Er hatte einen wirren Dreitagebart und trug seinen weißen Turban, der natürlich hervorstach und ihm etwas Exotisches verlieh. Thomas erinnerte sich zurück an die Schulzeit, als Gadua von vielen Mitschülern belächelt worden war, da er immer konsequent seinen Turban tragen wollte, obwohl er sich auf einer stark christlich geprägten Privatschule befand. Selbst die Lehrer hatten ihm versucht dies auszureden, doch es war ihnen erst gelungen, nachdem der Direktor ein ernsthaftes Gespräch mit dem Vater des Katarers geführt hatte. Die Schule war damals auf die großzügigen Spenden des ehrgeizigen Ölscheichs angewiesen und niemand wollte ihm vor den Kopf stoßen, doch auf der anderen Seite drohte sich die Schule lächerlich zu machen. Thomas dachte mit Schmunzeln an zwei jüngere Journalisten, die tagelang Mitschüler ausgefragt hatten und vom Lehrerkollegium mehrmals entrüstet des Geländes verwiesen wurden. Selbst das hatte wenig genützt, denn Thomas und seine beiden besten Freunde hatten sich in ihrer heimlichen Stammkneipe mit den Schreiberlingen getroffen und einige Dinge erzählt. Immerhin hatten sie somit der spießigen Direktion einen Denkzettel verpasst, genossen ein wenig Prestige und hatten für ihre Aussagen sogar ein wenig Geld eingesteckt. Zu der Veröffentlichung des Artikels war es aus zwei Gründen nicht gekommen. Zum Einen hatte Abdullah Gadua nach einer Diskussion mit seinem Vater eingewilligt seinen Turban auf dem Schulgelände nicht mehr zu tragen und sich besser anzupassen und zum Anderen hatte der Direktor, der von der Sache doch irgendwie Wind bekommen hatte, dem Chefredakteur der betroffenen Zeitung eine nicht unbeachtliche Summe Geld zukommen lassen, damit dieser den Artikel nicht veröffentlichte. Tragischerweise wurden die beiden betroffenen Journalisten kurze Zeit später sogar entlassen. Thomas hatte mit ihnen sogar Kontakt gehalten. Während der friedlichere Schreiberling die Gegend verlassen und eine neue Anstellung in Paisley bekommen hatte, versuchte der rebellischere der beiden Journalisten, die korrumpierten Hintergründe seiner Entlassung an die Öffentlichkeit zu zerren. Der Gerichtsprozess war irgendwann im Sande verlaufen und der Journalist hatte das Land verlassen und schrieb mittlerweile für ein Kulturmagazin in Nordirland.

    Gadua hatte sich im Verlauf der Jahre gut in der Schule integriert und oftmals die allerbesten Noten erzielt. Im Gegensatz zur konservativen Paola Francesca Gallina und dem arroganten Einzelgänger Gwang-jo Park, die ebenfalls viele Bestnoten erzielt hatten, schaffte es der Katarer nach anfänglichen Schwierigkeiten sich einen Freundeskreis aufzubauen und konnte auch bei diversen Frauen gut landen.

    An all diese Dinge dachte Thomas, als ihm der neue Tatverdächtige gegenüber saß. Abdullah Gadua war immer ein heimlicher Provokateur gewesen. Das Tragen des Turbans im Schloss des Direktors ließ er sich nicht verbieten, denn er war unabhängig und genoss seine Möglichkeiten. Er wollte sich für niemanden verstellen. Trotz seiner religiösen, traditionellen Haltung war Abdullah Gadua ein lebenslustiger Mensch, der sich auch nicht zu schade dafür war gelegentlich schmutzige Witze zu reißen oder sich ausschweifend zu amüsieren. Es gab da aber auch noch das andere Gesicht des Abdullah Gadua, welches er jetzt präsentierte. In diesen Momenten wirkte er aufmerksam, konzentriert und dennoch in sich gekehrt, beinahe in einer meditativen Stille. Er verharrte regungslos zusammengekauert einige Minuten auf dem Ledersessel und atmete gemächlich und tief ein und aus.

    Thomas sah sein Gegenüber genau an. Konnte dieser Mensch ein gewissenloser Mörder sein? Eigentlich wollte Thomas vehement dagegen protestieren, doch wer fast von einem Moment auf den Anderen sich von einem vulgären Partylöwen in einen introvertierten, betenden Menschen verwandeln konnte, der war vielleicht sogar fähig, auf geradezu schizophrene Art und Weise, sich von einem gewissenlosen Killer in ein scheinbares Unschuldslamm zu verwandeln. Thomas schüttelte resigniert den Kopf. Er wusste einfach nicht wie er sein Gegenüber nun einschätzen sollte. Seine Trauer oder Wut bezüglich des Verrates seiner geliebten französischen Affäre waren verflogen und hatten einer quälenden Ratlosigkeit Platz gemacht. Er fragte sich, ob Mamadou und er mit diesen Verhörmethoden überhaupt entscheidend weiterkommen würden. Zwar hatten sie viele neue, verblüffende Informationen enthalten, doch dem wahren Täter waren sie kaum auf die Schliche gekommen.

    Schließlich war es sein ghanaischer Kollege, der das ungewohnte, fast bedrückende Schweigen brach und sich an den Neuankömmling wandte. Der Afrikaner war es Leid geworden und wollte Klartext sprechen.

    „Abdullah Gadua, erzählen Sie uns von Ihrer Beziehung mit Jeanette und dem Treffen mit ihr von letzter Nacht!“, forderte er ihn erbarmungslos heraus und suchte auf dem Gesicht des Katarers nach verräterischen Reaktionen.

    Gadua tat ihm den Gefallen nicht, sah ich erwatungsvoll und freundlich an und hob leicht die Augenbraunen. Er blieb ganz ruhig und sprach auch ungewohnt sanft und klar.

    „Wir hatten keine Beziehung miteinander.“, stellte er sachlich fest und blickte nun Thomas entschlossen an.

    Dieser stand auf und trat näher zu dem Katarer, blickte ihm ernst in die Augen und schüttelte lachend und fassungslos den Kopf.

    „Hör mir mal zu, Abdullah. Ich darf dich doch duzen?“

    „Das sollten wir hier alle untereinander tun. Diese künstlichen Zwänge waren mir noch nie geheuer. Respekt ist nicht nur eine Frage der Ansprache oder Kleidungsart.“, bemerkte sein Gegenüber ruhig und beharrlich.

    Thomas schnaubte verärgert, er wollte sich nicht durch Unwichtigkeiten ablenken lassen. Ärgerlich stemmte er seine Hände auf die Schreibtischplatte und senkte den Blick.

    „In Ordnung. Hör mir zu. Wir haben Zeugen, die dich gestern Nacht bei ihr gesehen haben.“, entgegnete ihm Thomas mit unterschwelliger Frustration.

    „Das streite ich auch nicht ab.“, erwiderte Gadua sachlich und süffisant lächelnd.

    „Du bist der Letzte, der sie gesehen hat, bevor sie von den giftigen Pralinen nahm.“, erklärte Mamadou, der sich ruhig erhoben hatte und an die linke Seite seines schottischen Kollegen trat, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte.

    „Möglich.“, antwortete Gadua ruhig lächelnd.

    „Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es geht hier um einen Mord.“, fuhr Thomas ihn energisch an.

    „Ich weiß. Aber ich habe damit nichts zu tun.“, antwortete der Katarer immer noch ruhig, aber dennoch sehr bestimmt.

    Thomas trat rasch auf ihn zu und hob drohend seine Hand. Die ganze Situation machte ihm mehr zu schaffen, als er geglaubt hatte. Die Anwesenden beschuldigten sich alle gegenseitig oder redeten sich heraus und er hatte das ungute Gefühl, dass sie dem wahren Täter doch nicht auf die Schliche kommen würden. Zudem war er erzürnt, als er an die junge Französin dachte, der er sehr nahe gestanden hatte. Ihm stieß es übel auf, dass ihr möglicher Täter oder vielleicht auch nur Geliebter so locker über ihren Tod sprach und sich jede Antwort aus der Nase ziehen ließ. Thomas wollte sich nicht länger hinhalten lassen.

    „Sag uns was du weißt, verdammt noch mal!“, fuhr Thomas den Katarer an, der auf diesen emotionalen Ausbruch weiterhin gelassen reagierte und Thomas fast mitleidig anlächelte, was diesen noch rasender machte.

    Mamadou legte seine Hand wieder einmal behutsam, aber entschlossen auf die Schulter seines provisorischen Kollegen, um eine Eskalation zu vermeiden.

    „Ich weiß nicht mehr, als ich bereits gesagt habe, Thomas.“, gab Abdullah kalt zurück. Seine gewohnte Lockerheit war verschwunden und war einer berechnenden Ruhe gewichen. Nichts erinnerte mehr an den exotischen Spaßvogel aus der Schulzeit.

    „Warum bist du überhaupt zu Jeanette ins Zimmer gegangen?“, fragte Mamadou sachlich.

    „Ich war abends noch bei meiner Frau, der es nicht gut ging. Auf dem Rückweg traf ich Jeanette im Gang. Sie hatte sich übergeben, war richtig bleich und zitterte. Sie hatte vor nach draußen zu gehen, um frische Luft zu schnappen. Der Mord an Malcolm hatte sie mental sehr mitgenommen. Da ich mich mit psychischen Problemen gezwungenermaßen gut auskenne, habe ich mich ihrer angenommen und verhindert, dass sie bei dem Wetter nach draußen gegangen wäre.“, gab Abdullah emotionslos und präzise zu Protokoll.

    „Wie lange warst du bei ihr?“, hakte Mamadou nach.

    „Etwa zwei Stunden. Sie hat mit mir über ihre Probleme geredet, es tat ihr sichtbar gut mit einer außenstehenden Person über gewisse Dinge reden zu können. Wir saßen fast zwei Stunden zusammen, bevor ich auch sehr müde wurde und gegangen bin.“, führte Abdullah fort und fixierte die beiden Polizisten erwartungsvoll.

    „Worüber habt ihr denn so geredet?“, fragte Thomas verbittert und leicht aggressiv.

    „Das ist Privatsphäre, die auch dich nichts angeht, sonst hätte sie sich dir anvertraut.“, gab Abdullah ebenso gehässig zurück und war damit einen Schritt zu weit gegangen.

    Thomas konnte sich nicht mehr unter Kontrolle halten. Wütend sprang er auf den Befragten zu, packte ihm an den Kragen und zerrte ihn mit beiden Armen gewaltsam aus dem Ledersessel. Abdullah, der bis jetzt die Ruhe selbst gewesen war, ließ sich dies nicht bieten und stieß Thomas mit einem wuchtigen Schlag gegen den Brustkorb zurück. Thomas taumelte zurück und schnappte verblüfft nach Luft. Rudernd landete er in den Armen seines Kollegen, der ihn sofort in einen Polizeigriff nahm und zurückzerrte, während Thomas versuchte sich wie ein Stier mit dem Kopf voran aus der Umklammerung zu lösen. Mamadou hatte jedoch energisch zugegriffen und stieß seinen Partner wütend zur Seite. Mit einer raschen Handbewegung hebelte sich Thomas aus der Umklammerung heraus und wich einige Schritte von den beiden anderen Männern weg.

    Alle drei Anwesenden verharrten in einer bedrohlichen Stille. Mamadou stand mit verschränkten Armen in der Nähe des Tisches und zwischen den beiden Streithähnen. Thomas blickte finster zu Abdullah herüber, sein Gesicht war puterrot geworden und er hatte sich nur mühsam unter Gewalt. Sein Halsschlagader war bedrohlich angeschwollen und sein Puls rasant in die Höhe geklettert. Abdullah taxierte den schottischen Polizisten in einer Mischung aus arroganter Abscheu und Mitleid. Bewusst ruhig und provokativ stellte er seinen Kragen wieder richtig und wischte sich den Staub von seinen Hemdarmen, genau dort, wo Thomas ihn gepackt hatte.

    „Du nimmst dir ganz schön etwas heraus. Ein solch emotionaler und unverantwortungsbewusster Mensch wie du sollte nicht Polizist sein. Wer sagt uns denn, dass nicht du dahinter steckst? Nach einer solchen Reaktion würde es mich nicht wundern, wenn du deine untreue Geliebte und ihre potentiellen Lover kalt gemacht hättest. Willst du als Nächstes vielleicht mich umbringen?“, fragte Abdullah und war inzwischen immer lauter geworden.

    Thomas schwieg und begegnete auch dem Blick seines Kollegen, der ihn mahnend ansah. Der Schotte blickte zu Boden, doch sein Partner ergriff noch einmal überraschend für ihn Partei.

    „Abdullah, ich denke, dass du einsehen musst, dass bei uns allen die Nerven blank liegen. Zwei Morde, jede Menge Konfliktstoff, viele Beschuldigungen und noch dazu ein gemeingefährlicher Wolf, der dieses Schloss zu umkreisen scheint. Wir sollten und wie erwachsene Menschen verhalten und uns entschuldigen. Wenn wir uns alle gegenseitig zerfleischen und beschuldigen kann der skrupellose Mörder nur davon profitieren. Wir können weitere Taten allerdings nur dann verhindern, wenn wir uns ein umfassendes Bild machen. Daher ist es durchaus wichtig, dass du uns sagst, über was du mit Jeanette gesprochen hast. Wovor hatte sie Angst?“, hakte Mamadou nach und sein Gegenüber ging langsam nickend auf den versöhnlichen Versuch ein, wobei er Thomas erneut mit einem explizit abfälligen Blick bedachte.

    „Es leuchtet doch ein, dass sie Angst hatte zu sterben. Einer ihrer Verehrer war gestorben und sie befürchtete, dass es der Täter auf sie abgesehen haben könnte. Sie glaubte an einen fanatischen Liebhaber, der die Konkurrenz ausschalten wollte. Sie war sich über ihre Gefühle nicht mehr im Klaren. Sie fragte sich, wen sie wirklich liebte und wer auch aufrichtig dasselbe für sie empfand. Sie sprach davon, dass sie ihren aktuellen Lebensstil hinter sich lassen wollte, um ganz neu zu starten. Sie sprach davon, dass sie ihre große Liebe finden wollte, aber sie zweifelte daran, ob sie überhaupt noch fähig war jemandem treu zu sein.“, berichtete Abdullah nach kurzem Zögern.

    „Hat Jeanette dir denn verraten, ob sie diese große Liebe gefunden hat?“, wollte Mamadou wissen und sein Gegenüber biss sich auf die Lippen und blickte unbehaglich umher.

    „Sie meinte, dass ihr Herz Thomas gehören würde. Aber sie war nach dem Mord verunsichert und hatte die Befürchtung, dass er dahinter stecken könnte.“, gab Abdullah schließlich zu Protokoll und bedachte den Schotten mit einem grimmigen Blick.

    Thomas wusste nicht so recht, wie er auf diese Eröffnung reagieren sollte. Auf der einen Seite rührte es ihn fast wieder zu Tränen, dass die Gefühle der Französin für ihn doch tiefgründiger gewesen waren, als sie selbst immer zugegeben hatte, aber andererseits war er erschrocken darüber, dass sie ihm dennoch so wenig Vertrauen geschenkt und gar als möglichen Mörder in Betracht gezogen hatte. Thomas stiegen die Tränen in die Augen und er konnte mit einem Mal die Verwirrung und Angst der Französin nachvollziehen. Er konnte und wollte ihr keinen Vorwurf mehr machen. Anscheinend war sie ihm trotz allem treu geblieben.

    Missmutig wandte er sich an Abdullah Gadua, senkte den Blick und reichte ihm die Hand. Zögernd und ein wenig überrascht ergriff der Katarer diese nach einigen Momenten des Verharrens. Thomas hob den Kopf und blickte sein Gegenüber aus tränenverschmierten, geröteten Augen an.

    „Es tut mir Leid, dass ich so reagiert habe.“, erwähnte er leise.

    Abdullah Gadua sah in forschend an und erkannte doch die Aufrichtigkeit hinter den Worten des Schotten. Wohlwollend nickend umschloss er mit seiner anderen Hand die des Schotten.

    „Es ist in Ordnung. Die Emotionen schäumen bei uns allen ein wenig über. Wir sollten einen klaren Kopf bewahren, um das wahre schwarze Schaf unter uns zu finden.“, sprach Abdullah Gadua weise und erntete von Mamadou ein respektvolles Nicken.

    „So soll es sein. Du darfst jetzt gehen.“, bemerkte Mamadou und nickte glücklich.

    Abdullah Gadua klopfte Thomas kurz und freundschaftlich auf die Schulter. Er war jetzt wieder der gelassene und gutmütige Kerl, der er sonst auch war. Sein gefühlskalter Ausbruch von vorhin wirkte wie vergessen. Langsam aber zielstrebig trat er zur Tür und verließ geheimnisvoll lächelnd das Arbeitszimmer.

    Thomas wirkte einigermaßen erleichtert, doch sein Kollege wirkte weiterhin nachdenklich. Der aufgewühlte Schotte sprach den grübelnden Ghanaer darauf an.

    „Was ist denn noch los?“

    „Eine Sache leuchtet mir nicht ein. Wenn Abdullah Gadua nur mit der Französin diskutiert hatte, warum verabschiedet sie sich dann mit einem innigen Kuss von ihm?“

    „Na ja, manchmal war dieses annähernde und emotionale Verhalten richtig typisch für sie. Franzosen sind da doch ohnehin weniger pingelig.“, bemerkte Thomas nach einiger Zeit, obwohl ihn der Einwand seines Kollegen durchaus verunsichert hatte und die Aussagen des Katarers für ihn in einem ganz anderen Licht erscheinen ließen.

    „Du glaubst doch wohl selbst kaum was du da sagst!“, bemerkte Mamadou ein wenig empört du blickte Thomas skeptisch an.

    Der Schotte wandte den Blick ab und starrte angestrengt durch das Fenster nach draußen. Sein Kopf wirkte schwer und leer.

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