• Kapitel 54

     

    Kapitel 54: Freitag, 10 Uhr 58, Eingangshalle


    Das Nächste, was Thomas wahrnahm, war eine Menschentraube, die sich um ihn versammelt hatte. Er spürte einen harten und kalten Boden unter sich, hörte das Zuschlagen einer schweren Tür und sah wie eine verschwommene Gestalt die anderen Schaulustigen zur Seite drängte und sich über Thomas beugte.

    „Bist du in Ordnung?“, fragte Mamadou besorgt.

    Thomas fiel erst jetzt wieder ein, was er durchgemacht hatte und dass er nur knapp dem Tod entronnen war. Zum zweiten Mal schon hatte er nun Glück gehabt, doch er schien von einer Hölle in die andere zu geraten, denn er dachte auch an den brutalen Mörder, der auf der Residenz sein Unwesen trieb. Wann würde er wohl wirklich an der Reihe sein?

    Thomas rappelte sich langsam auf, ein leichter Schwindelanfall plagte ihn noch, doch er wurde von seinem Kollegen gestützt, während die anderen Anwesenden ihn nur distanziert oder betreten ansahen.

    Plötzlich tauchte eine weitere Gestalt auf, die sich wie Mamadou zuvor grob einen Weg durch die Anwesenden bat und sich zusätzlich noch lautstark Aufmerksamkeit verschaffte. Thomas erkannte den Schlossherrn, der ihn nur verächtlich ansah.

    „Wie bereits gestern vorgeschlagen, stelle ich Ihnen allen frei mit mir oder auch für sich zu beten. Ich denke, dass wir tatsächlich göttlichen Beistand nötig haben, wenn wir uns die Insel mit einem geisteskranken Psychopathen, Heuchlern, Lügnern und einer dressierten Bestie teilen. Ich schlage Ihnen nun vor mir zu folgen.“, sprach der Schlossherr verächtlich und wandte sich abrupt um und stolzierte erhobenen Hauptes durch die Anwesenden hindurch, die eilig eine Gasse gebildet hatten. Der mürrische Österreicher sah scheinbar keinen Grund sich um den angeschlagenen Thomas oder den verletzten Fatmir zu kümmern.

    Thomas richtete sich dennoch mit wackligen Beinen auf und folgte dem Schlossherrn langsam. Mamadou legte ihm seine Hand auf die Schulter.

    „Du solltest dich nach solch einem Schwächeanfall ausruhen.“, meinte der Ghanaer besorgt.

    „Du solltest deine Verletzung auch auskurieren. Aber es ist schon in Ordnung. Ein Gebet wird mir Kraft geben.“, erwiderte Thomas mit einem traurigen Lächeln und löste sich von seinem Kollegen, der ihm nachdenklich hinterher starrte.

    Eigentlich wollten nur die wenigsten Anwesenden jetzt beten, zumal manche auch atheistisch veranlagt waren. Doch als mehr und mehr Gäste dem Schlossherrn folgten, schlossen sich auch die Zweifler ihnen an, denn niemand wollte in diesem Schloss mehr Zeit als notwendig allein verbringen und somit eine Zielscheibe für weitere tödliche Angriffe bieten. Trotz aller Streitereien, Distanzen und nervösen Entwicklungen suchten die Gäste auch in der Gruppe Zusammenhalt und bildeten sich eine blinde und trügerische Sicherheit ein, weil sich ihnen auch keine andere Lösung bot. Sie waren gemeinsam allein.

    Der Schlossherr hatte inzwischen den Durchgang zur Kapelle links hinter seinem Arbeitszimmer erreicht, wo eine Treppe ein wenig in die Tiefe führte und vor einer soliden Holztür endete. Der Direktor, lediglich von seinem Koch und seinem völlig apathischen und kurz zuvor leidlich verarzteten Butler eingerahmt, hatte bereits die Klinke in der Hand, als er sich noch einmal kurz umwandte und grimmig nickte, als er die Gäste versammelt am oberen Ende der Treppe auf ihn hinunterschauen sah.

    Ein höhnisches Lächeln umschmeichelte die Lippen des Direktors, der wohl feixend festgestellt hatte, dass die meisten Anwesenden ihm gefolgt waren. Er verkniff sich jedoch einen Kommentar, drückte die Klinke herunter und schob die schwere Tür nach innen. Ein muffiger Geruch aus Weihrauch schlug den Gästen aus der kleinen Kapelle entgegen, in der sich mehrere, altertümliche und kleine Holzbänke befanden, sowie ein kleiner Altar, einige verzierte Scheiben und ein überdimensionales Holzkreuz, welches mittig im Vordergrund positioniert war.

    Der Schlossherr schritt energisch in die Kapelle und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Mit einem Mal fing er an zu zittern, schüttelte fassungslos den Kopf, doch er versperrte zugleich den anderen Gästen den Blick auf das, was er selbst gerade entdeckt hatte.

    Mit einem unwirschen Ruck fuhr der Schlossherr herum und blickte Thomas direkt ins Gesicht. Das Gesicht des Direktors war totenbleich geworden, seine Augen quollen beinahe vor Entsetzen aus ihren Höhlen, sein Atem ging rasselnd und seine Hände ballten sich zu Fäusten, öffneten sich und schlossen sich dann wieder. Schweiß perlte auf seinem Gesicht. Der Direktor wirkte von einer Sekunde auf die andere um Jahre gealtert.

    Thomas war zunächst gebannt von der Reaktion des Direktors und befürchtete einen seiner bekannten Wutausbrüche. Der schottische Polizist wagte zunächst nicht zu reagieren, doch schließlich siegte die Neugierde über seinen Respekt, er schob den Direktor zur Seite, trat in die Kapelle und erstarrte ebenfalls, als er das Unbegreifliche sah.

    Auch die anderen Anwesenden hatten mitbekommen, dass etwas nicht in Ordnung war und erschraken. Magdalena Osario stieß einen spitzen Schrei aus, warf sich an die Brust ihres Geliebten und hämmerte mit ihren Fäusten auf diesen ein. Auch der Schwede war fassungslos und nahm die Spanierin gar nicht richtig zu Kenntnis. Selbst dem sonst so harten und vorlauten Gwang-jo Park hatte es die Stimme verschlagen, er wurde schreckensbleich und wandte sich mit einem würgenden Geräusch ab, drängte dabei grob die anderen Gäste auseinander.

    Thomas wandte sich wieder um, blinzelte, schüttelte den Kopf und betete, dass dies, was er sah, nur eine Halluzination sein möge, nur ein böser Traum, der sich sogleich vor seinen Augen wieder in Luft auflösen würde. Der Gefallen wurde dem Schotten jedoch nicht getan.

    Er räusperte sich, wischte sich den Schweiß vor der Stirn, atmete tief durch und wagte einen genaueren Blick auf die unfassbar grausame Tat, denn der skrupellose Täter hatte sein nunmehr viertes Opfer gefunden, welches noch weitaus schlimmer geschändet worden war, als die drei Toten zuvor.

    Selbst Mamadou, der mittlerweile wortlos neben Thomas getreten war, hatte in seiner gesamten Laufbahn eine solch brutale Tat noch nicht erlebt und rang mehr als zuvor mit seiner Selbstbeherrschung.

    Vor ihnen befand sich Paola Francesca Gallina, die gläubige, unbefleckte und zurückhaltende Italienerin. Sie hatte ihr Leben in den Dienst Gottes stellen wollen und war nun in seinem Zeichen grausam gestorben. Sie hing leblos, blutüberströmt und leichenblass an dem überdimensionalen Kreuz. Doch auch die Mordmethode hatte einen biblischen Hintergrund. Die bleiche Italienerin war komplett nackt mit fünf eisernen Nägeln gekreuzigt worden. Vier Nägel fixierten ihre Füße und Arme, das letzte war mit brutaler Wut durch ihre Körpermitte gestoßen worden.

    Das Blut ihres geschändeten Leichnams war zu Boden getropft und tropfte noch immer. Lange konnte die stille Italienerin, zugleich das jüngste Mitglied der Gruppe, noch nicht tot sein. Ihre Augen waren verschlossen, ihr Kopf hing schlaff in die Tiefe. Erst jetzt fiel Thomas auf, dass auf der Mauer im Hintergrund des Kreuzes mit dem Blut der Toten eine Art umgekehrtes Pentagramm gezeichnet worden war.

    Hinter Thomas brach Magdalena Osario schluchzend zusammen und schrie ihre Wut und ihre Unverständnis aus sich heraus, während die meisten anderen Gäste betreten und geschockt die Kapelle wieder verließen.

    „Wer tut so etwas? Wer kann nur so grausam sein? Warum wir, warum?“, brüllte die Spanierin heiser und außer sich, doch niemand konnte ihr auf diese Frage eine Antwort geben.

    Sie sprang hektisch auf, blickte sich nervös um und stürzte auf Thomas zu, presste ihr verweintes Gesicht wuchtig gegen seine Brust und packte den verblüfften Schotten an seinem Hemdkragen und wiederholte die Frage. Speichel sprühte auf das Gesicht des Schotten, der nichts gegen die Spanierin tat, die hilflos schreiend auf ihn einschlug. Er konnte verstehen, dass sie ein Ablassventil brauchte und kurz vor einem Nervenzusammenbruch war.

    Schließlich griff Mamadou ein, packte seinerseits die wahre Schlossherrin sanft an ihren Schultern, schüttelte sie durch und blickte ihr tief und ernst in die Augen.

    „Ich werde diesen Bastard finden. Verlassen Sie sich drauf! Er mag noch einige von uns erwischen, doch so wahr ich hier stehe, ich schwöre, dass er nicht lebend diese Insel verlässt und seine Strafe erhält!“, sprach er mit harter Stimme, während Björn Ansgar Lykström zu seiner Geliebten trat und sie langsam aus dem Raum führte.

    Lediglich die beiden Polizisten, sowie der apathisch vor sich hinstarrende Butler waren noch in der düsteren Kapelle, durch deren Scheiben ein unwirkliches, diffuses Licht fiel und dem Schreckensszenario zusätzlich noch etwas Unheimliches verlieh. Nach einigen Momenten schritt der Bedienstete stoisch aus der Kapelle, völlig emotionslos, als ob er die Tote gar nicht registriert hätte.

    Thomas bekam eine Gänsehaut und plötzlich verschwamm die Umgebung vor seinen Augen, eine quälende, drückende Übelkeit breitete sich in seinem Unterleib aus und Mamadou musste ihn stützen, doch nach wenigen Sekunden war der Schwächeanfall dann doch wieder vorbei.

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