• Kapitel 53

     

    Kapitel 53: Freitag, 10 Uhr 43, Dickicht


    Thomas konnte nur vermuten, was genau passiert war. Er sah Fatmir Skola ein wenig abseits des Weges zwischen zwei hochgewachsenen Sträuchern liegen. Der Albaner war unfähig sich zu rühren, sein eAugen war gerötet, Tränen des Schmerzes und der Angst rannen in Strömen über sein aufgedunsenes Gesicht. Vermutlich war er durch einen unglücklichen Zufall auf dem schlammigen Untergrund weggerutscht und dies war ihm zum Verhängnis geworden.

    Fatmir Skola hatte sich mit seinem linken Bein in einer Bärenfalle verfangen, die ihm auf grausame Art und Weise Fleisch und Haut weggerissen hatte. Das Blut rann in Strömen über das rostige, metallische Gerät. Mamadou war am vorhergegangenen Tag ebenfalls in eine solche Falle getappt, doch diese Falle schien noch größer und wuchtiger zu sein und den Albaner hatte es noch weitaus schlimmer erwicht.

    Ängstlich und Hilfe suchend blickte er die Gruppe an, hob kraftlos seine Arme. Thomas hatte sich als Erster von dem unerwarteten Schock erholt, stürzte auf seinen ehemaligen Kumpel zu, fiel zu Boden und machte sich an der zugeschnappten Falle zu schaffen. Das rostige Metall schnitt ihm in die Haut, die Ranken der ihn umgebenden Sträucher zerfurchten sein Gesicht und seine Arme, ebenso wie die Brennnesseln, die hier meterhoch wuchsen.

    All diese Schmerzen blendete der schottische Polizist in diesen Momenten aus. Es ging nur noch um das pure Überleben. Mit letzter Mühe konnte er das Gerät auseinander klappen und zerrte den Albaner aus der teuflischen Falle heraus. Dieser sank fluchend und wimmernd zu Boden, seine Kräfte hatten ihn längst verlassen und er war nur noch ein Häufchen Elend. Sein Bein glich einem blutigen Stummel und durch die Schussverletzung am anderen Bein war der Albaner nunmehr absolut unfähig, sich eigenständig fortzubewegen.  

    Die anderen Gruppenmitglieder waren bereits weitergegangen, Lykström wurde von seiner verängstigten Geliebten energisch weiter gezerrt, während Gwang-jo Park ohnehin nur an sich selbst dachte und nach wenigen Momenten des Innehaltens bereits fluchtartig weiter gerannt war. Mamadou hatte mit dem verletzten Butler seine liebe Mühe und konnte in dieser Situation Thomas auch nicht mehr unterstützen. Die beiden humpelten geduckt weiter und schlugen sich mehr schlecht als recht durch das fast schon dschungelartige Dickicht.

    In diesen Momenten zahlte es sich aus, dass Thomas ein relativ sportlicher Mann war. Er hievte den Albaner kurzerhand auf seine Unterarme, warf den zitternden Körper dann in einem letzten Kraftakt über seine rechte Schulter und torkelte wieder zurück auf den Trampelpfad. Seine Hände waren jetzt nicht mehr frei verfügbar, da er den Albaner in Position halten musste und so schlugen ihm lianenartige Ranken ungeschützt ins Gesicht.

    Mit einem Schaudern dachte der junge Polizist daran, dass in diesem undurchdringlichen Gestrüpp noch weitere Fallen lauern konnten. Zudem hatte er auch das Heulen des Wolfes nicht vergessen. Wo mochte diese Bestie bloß lauern?

    Nach etwa zwei Minuten sah Thomas endlich das Ende des Pfades vor sich und fand sich im Schlosspark in der Nähe der Vogelhäuser wieder. Der Regen fiel hier wie Bindfäden, die Sicht war nicht viel weiter als zehn Meter. Die beiden Geliebten und der Koreaner hatten wohl schon das Eingangsportal erreicht, während Mamadou und der verletzten Butler sich mitten auf der großen Wiese zwischen dem Dickicht und dem düsteren Schloss befanden, auf etwa einer Höhe mit dem Friedhof, der sich ihnen in diesen Momenten als makabre Zukunftsvision zu präsentieren schien.

    In Sicherheit waren die vier Nachzügler noch lange nicht, denn plötzlich ertönte das schaurige Heulen zum fünften Mal. Dieses Mal war es verdammt nah!

    Thomas fuhr herum und sah plötzlich einen weghuschenden Schatten im Regen, wenige Meter von den Vogelhäusern entfernt. Die Bestie lauerte, schlich langsam näher, als ob sie sich an der Angst des erstarrten Schotten und des jammernden Albaners weiden würde Im Gefühl der Siegesgewissheit stolzierte das Tier mit gefletschten Zähnen und gespitzten Ohren auf sie zu.

    Thomas sah plötzlich keinen Ausweg mehr. Er spielte mit dem Gedanken den Albaner auf seinen Schultern einfach achtlos ins Gras fallen zu lassen und selbst die Beine in die Hand zu nehmen, in der Hoffnung noch verschont zu werden. Doch er würde trotzdem nicht schneller sein als die Bestie, die ihn fixierte und seine Beute nicht ein zweites Mal entkommen lassen wollte. Zudem brachte Thomas es aus Solidarität einfach nicht über das Herz seinen ehemaligen Kumpel, mochte er sich in letzter Zeit auch noch so falsch verhalten zu haben, für sein eigenes Leben so zu opfern.

    Thomas schloss die Augen, atmete tief durch und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Fatmir Skola, der auf seiner Schulter lag, fing krampfhaft an zu schreien, als ob er den Wolf dadurch vertreiben könnte. Die Bestie störte sich nicht weiter an diesem Verhalten und schritt lauernd um die beiden Männer herum, ging plötzlich mit seinen Hinterläufen in die Knie und starrte Thomas aus brutalen, graugelben Augen an, in denen nichts als der Blutdurst und die Gier stand.

    Thomas fragte sich unwillkürlich, wie der Mörder es geschafft hatte, das Tier so abzurichten, dass es gefühllos auf alles Menschliche stürzte und nichts als den Tod zu akzeptieren schien.

    Thomas sah wie sich die Muskulatur des Wolfes anspannte und wusste, dass der Angriff in wenigen Sekunden erfolgen würde. Thomas hatte keine Ausweichmöglichkeiten mehr, doch er wollte noch nicht aufgeben. Ein dem Menschen ureigener Überlebenswillen flackerte in ihm auf, als er Fatmir Skola zu Boden gleiten ließ und ohne lange Überlegungen auf die Bestie zuhechtete, die seinem Hechtsprung überrascht auswich.

    Thomas hatte darauf spekuliert nur einen einzigen Angriffsversuch zu haben und hatte auf die Gunst des Überraschungseffektes gehofft. Doch das Schicksal spielte ihm einen Streich und meinte es nicht gut mit ihm. Beim Absprung war der schottische Polizist leicht abgerutscht, kam somit erst mit Verzögerung zu einer unpräziseren Attacke und prallte haarscharf neben dem instinktiv reagierenden Wolf auf den schlammigen Boden. Kraftlos krallten sich seine Hände in den Boden. Er hatte verloren.

    Thomas hob noch ein letztes Mal den Kopf und nahm innerhalb von Sekundenbruchteilen Wahrnehmungen auf, die sich so langsam zusammenzusetzen schienen, als ob die Zeit still stehen würde. Mit geradezu brutaler Deutlichkeit nahm er seine nähere Umgebung wahr, seine Sinne schienen plötzlich völlig frei zu sein und verrückt zu spielen. Thomas roch seinen eigenen Schweiß, er nahm den Geruch von nassem Laub und Gras wahr, sogar der strenge Duft der Bestie war mit einem Mal gegenwärtig. Thomas sah aus seinen Augenwinkeln heraus Fatmir Skola, der hilflos aus der Gefahrenzone zu robben versuchte, dabei allerdings entsetzlich langsam vorankam. In einer letzten Kraftanstrengung richtete der Albaner sich auf, sackte wieder in die Knie und huschte auf allen Vieren weiter. Von der anderen Seite her sah Thomas Jason Smith das Gesicht der Bestie. Die aufgerichteten Ohren, das leicht geöffnete Maul, aus dem eine gierige, rosafarbene, lange Zunge heraushing. Aus dem Fell des Tieres perlte der Regen. Der Wolf scharrte ein letztes Mal mit seinem rechten Hinterlauf und schob seinen Unterkiefer vor, in dem sich eine blitzende Reihe messerscharfer Zähne zeigte.

    In diesem Moment ertönte ein dumpfes Krachen und wenige Meter von Thomas entfernt wirbelte Erde in die Luft. Ein weiteres dumpfes Krache ertönte und riss eine Furche in den Verschlag des Vogelhauses, neben dem der Wolf positioniert war.

    Thomas brauchte mehrer Sekunden, um zu realisieren, dass das dumpfe Krachen Schüsse gewesen waren. Der Wolf hatte die Situation schneller erfasst, jagte verschreckt auf das Dickicht zu und wandte sich plötzlich doch noch einmal um. Seine Augen begegneten denen des schottischen Polizisten und er las in ihnen ein grausames Versprechen. Thomas wusste mit einer untrüglichen Sicherheit, dass ein drittes Aufeinandertreffen für einen der beiden tödlich verlaufen würde.

    Ein dritter Schuss ertönte und strich haarscharf an dem Wolf vorbei, der sich jetzt endlich umwandte und über einen kleinen Pfad in das Dickicht sprang und irgendwo im undurchdringlichen Gewühl verschwand. Thomas Gehörgänge waren wie betäubt und in Watte getunkt von dem schrillen Hall der Schüsse. Der Lärme katalysierte sich in einem spiralförmigen Schwindelgefühl und der junge Schotte wurde erbarmungslos in diesen düsteren Trichter hineingesogen. 

    Thomas blieb äußerlich regungslos liegen, atmete tief durch und sah gerade noch den Schatten seines Kollegen aus Ghana, der sich besorgt über ihn beugte, ihm mit seiner rechten Hand über die Stirn strich und in der linken seine Pistole umklammert hielt. Thomas fragte sich, wie viel Munition ihnen noch bleiben würde.

    Mit dieser Frage versank er endlich in das tiefe Reich der dunklen Bewusstlosigkeit.

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