• Kapitel 57

     

    Kapitel 57: Freitag, 12 Uhr 10, Speisesaal


    Thomas Jason Smith stöhnte auf, als er diese Aussage vernahm. Jetzt hatten sie es nicht nur mit einem gerissenen Mörder zu tun, sondern auch noch mit einem Dieb. Der schottische Polizist vermutete sofort einen Zusammenhang, doch der blieb ihm zunächst verborgen. Immerhin hatten sie nun eine Sache mehr, nach der sie suchen mussten.

    „Wie bitte? Ich wusste ja gar nicht, dass du so viel Bargeld dabei hast.“, entwich es der erstaunten Marilou Gauthier.

    „Ich hatte eigentlich vor dich nach dem Aufenthalt hier auf dem Schloss zu überraschen. Ich wollte mit dir danach eine Tour durch den Norden Schottlands bis hinunter nach Wales und England machen. Der Wagen ist bereits gebucht, daher hatte ich das Geld dabei.“, erklärte Abdullah und Tränen standen in seinen Augen.

    Seine Frau umarmte ihn sanft und wirkte ein wenig betroffen. Sie schüttelte sich und löste sich dann wieder von ihrem Mann. Seufzend haderte sie mit ihrem Schicksal.

    „Wer könnte denn davon gewusst haben? Hatten Sie das Zimmer irgendwann einmal nicht abgeschlossen? Erinnern Sie sich an irgendetwas? Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein, so unbedeutend sie auch zunächst erscheinen mag.“, hakte Thomas nach, obwohl er keine großen Hoffnungen hegte. Im Moment ging es im Schloss ohnehin drunter und drüber und die Zusammenhänge wurden immer verworrener.

    „Ich habe keine Ahnung. Ich hatte das Zimmer eigentlich immer abgeschlossen und von dem Geld kann einfach niemand gewusst haben.“, gab Abdullah zurück und wirkte in der Tat ziemlich ratlos.

    Schulterzuckend blickte der Bestohlene in die Runde, sein Entsetzen war inzwischen einer Resignation gewichen. Niemand konnte oder wollte sich zu dem Ereignis äußern.

    Thomas fragte sich nach einem Motiv. Die meisten Gäste waren ohnehin selbst sehr gut betucht und hatten zum Teil hochrangige Jobs, einflussreiche Freunde oder stammten aus reichen Elternhäusern. Allerdings kannte Thomas viele der Gäste auch nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob einer von ihnen in finanziellen Schwierigkeiten war.

    Dieses neue Ereignis gab der gesamten Gruppe noch einmal einen Ruck und Thomas beschleunigte seinen Tatendrang noch einmal. Widerwillig gaben schließlich alle Anwesenden ihre Zimmerschlüssel an ihn heraus.

    Es dauerte eine Weile, bis sich die Gruppe wieder beruhigt hatte und die beiden provisorischen Ermittler entfernten sich schließlich. Thomas nahm sich die Räume der weiblichen Gäste und der beiden Bediensteten vor, während Mamadou die Räume der männlichen Anwesenden näher inspizieren wollte.

    Thomas hatte die Untersuchung der weiblichen Gästezimmer relativ schnell beendet. Die tote Paola Francesca Gallina hatte sehr spartanisch gelebt, lediglich einige Kleidungsstücke, eine Bibel und einige Bücher über die Geschichte der katholischen Kirche und die Autobiographie des aktuellen Papstes waren in ihrem düsteren Zimmer vorzufinden.

    Ähnlich sah es bei Marilou Gauthier aus. Die Frankokanadierin hatte ihr Zimmer ebenfalls sehr kahl eingerichtet. Thomas fiel in dem Raum lediglich ein ungewöhnlich strenger Duft auf, den er nicht einordnen konnte. In einem Nachttisch fand der schottische Ermittler drei Tagebücher, die allesamt verschlossen waren, nämlich jeweils mit einem fünfstelligen, kleinen Zahlenschloss. Thomas wunderte sich über diese Sicherheitsmaßnahmen, doch als er daran dachte wie viele Schicksalsschläge die junge Frau erlitten hatte, konnte er dieses Verhalten ein wenig nachvollziehen. Er selbst hatte bei seinem Aufenthalt im Kloster regelmäßig Tagebuch geführt und darin seine Emotionen und Gedanken niedergeschrieben, was ihn damals sehr befreit hatte. Alle drei Einbände der Taschenbücher wurden von der Flagge des Bundesstaates Québec geziert, denn die junge Frau schien sehr viel Wert auf ihre Herkunft zu legen. Die Lektüre der Frankokanadierin war ein wissenschaftliches Buch über Hundedressur, was Thomas ein wenig verwunderte, da er nie erlebt hatte, dass Marilou irgendeinen Hang zu Tieren oder der Natur gehabt hätte. In ihren jungen Tagen war die Frankokanadierin schon sehr wenig draußen gewesen, hatte sich lieber allein in ihr einsames Zimmer zurückgezogen. Thomas dachte bei sich, dass ein vierbeiniger Begleiter niemals zu dieser Frau passen würde. Allerdings fühlte sie sich von den Menschen um sie herum nicht völlig zu Unrecht verraten und allein gelassen und sehnte sich vielleicht nach einem vierbeinigen Begleiter, der ihr wenigstens ein bischen Liebe und Nähe geben konnte.

    Der Raum von Elaine Maria da Silva unterschied sich grundlegend von den anderen beiden Räumen. Die Brasilianerin hatte nicht nur diverse Schminkkoffer dabei, sondern auch zahlreiche Notizblöcke, Manuskripte und ähnliche Dinge, die wild auf dem kleinen Tisch verteilt lagen. Thomas fand unter den Aufzeichnungen auch Notizen zu den aktuellen Vorfällen. Die merkwürdige, düstere Brasilianerin hatte säuberlich die Namen aller Anwesenden aufgeschrieben und die der Toten durchgestrichen, Todesursache und den ungefähren Todeszeitpunkt vermerkt. Auch durch diese Notizen wurde Thomas in seiner Idee, die er in der Kapelle gehabt hatte, zusätzlich bestärkt. Dieser Triumph vermischte sich indes mit einem bitteren Nachgeschmack, denn die Brasilianerin hatte noch nähere Informationen zu den Todesursachen aufgeschrieben und jeden Anwesenden kurz beleuchtet. Thomas fand es abscheulich, dass die Brasilianerin schon eine Art Skript hatte und dass sie die prekäre Situation scheinbar als Vorlage für einen neuen Roman ansah. Der schottische Polizist musterte kurz wie er selbst von der Brasilianerin auf einem Blatt charakterisiert worden war und las sich das Ergebnis leise und stirnrunzelnd vor.

    „Junger, gutaussehender Mann, arbeitet als Polizist. Er hat eine schwere Vergangenheit hinter sich, die er zum Teil auch im Kloster verbracht hat, ist seitdem tiefergehend gläubig. Er ist sehr ehrgeizig, scheint aber seine Gefühle nicht immer unter Kontrolle zu haben und wirkt dadurch manchmal hektisch. Eine weitere Schwäche ist seine Neugierde, bei der er aber auch großen Mut erweist. Er hatte ein besonders enges Verhältnis zu Jeanette Rodin-Gagnon, ist derzeit aber wohl Single. Er versteht sich und kooperiert gut mit Mamadou Kharissimi. Seine erklärten Feinde sind Gwang-jo und auch der Schlossherr. Thomas setzt sich mit vehementem Eifer gegen Verurteilungen und Ungerechtigkeit ein und hat generell einige positive Werte. Dadurch polarisiert er jedoch und hat auch mehrere Feinde im Schloss. Als Täter ist er praktisch einhundertprozentig ausgeschlossen.“, murmelte Thomas vor sich hin und erschauderte, als er all diese präzisen Informationen las.

    Die Brasilianerin hatte ihn offensichtlich exakt richtig eingeschätzt und seine Eigenschaften noch klarer herausgefiltert, als er selbst überhaupt jemals dazu in der Lage gewesen wäre. Thomas bereitete es Kopfschmerzen, dass er für die so undurchschaubare Brasilianerin ein offenes Buch war und fühlte sich gewissermaßen hilflos. Andererseits fühlte er sich von der durchaus positiven Beschreibung auch geehrt und zugleich überrascht, da sich die Brasilianerin ihm gegenüber sonst eher abweisend oder arrogant verhielt. Vielleicht musste er die Dinge nun aus einem neuen Blickwinkel betrachten.

    Thomas durchforstete noch die Charakterisierungen der anderen Gäste. Neben den Toten und ihm selbst waren aber auch Mamadou und der Schlossherr als Täter klar ausgeschlossen worden. Bei den anderen Dokumenten war dieser Status nicht weiter vermerkt oder einfach offen gehalten worden. Thomas beruhigte es, dass die Brasilianerin scheinbar selbst auf der Suche nach dem Täter war und ihrerseits heimlich Theorien entwickelte.

    Der Schotte war sich seiner Sache aber noch nicht sicher, denn so ganz vertraute er der Brasilianerin immer noch nicht. Was wäre, wenn die hier hinterlassenen Manuskripte bewusst so hinterlassen worden war? Was wäre, wenn die Brasilianerin sich in die Gedanken jedes Anwesenden perfekt hineinversetzen konnte und somit auch Ereignisse vorhersehen wollte? Was wäre, wenn die düstere Brasilianerin doch etwas mit den Todesfällen zu tun hatte und ständig neue, falsche Fährten legte?

    Thomas konnte sich über eine Lösung nicht im Klaren werden und wandte sich im Anschluss dem Zimmer der verstorbenen Jeanette zu, welches er nur kurz besuchte, da er schon bald wieder die bitteren Tränen in seinen Augen spürte.

    Als er in den Gang zurückkehrte fehlte ihm nur noch das Zimmer der Schlossherrin, welches aber in einem gänzlich anderen Trakt des Schlosses lag. Gedankenverloren starrte er ein edles Porträt an, welches nahe der Treppe aufgehängt worden war und ihm ein wenig seltsam vorkam, da die Augen sehr hervorgehoben wirkten, der Rest des Gesichtes hingegen blass und von eher durchschnittlicher Kunsttechnik war.

    Gerade als er sich mit diesem Bild beschäftigte, legte sich plötzlich eine schwere Hand auf seine Schulter und drehte ihn mit einem unerwartet kräftigen Ruck um die eigene Achse.

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