• Kapitel 68

     Kapitel 68: Freitag, 17 Uhr 22, Kellergewölbe

     

    Magdalena Osario und Elaine Maria da Silva waren der Gruppe vorausgegangen und hatten sich bereits schnell einer weiteren unscheinbaren Treppe zugewandt, die in der Nähe des Weinkeller in einen Nebentrakt führte, in dem es bereits übermäßig nach Fisch und brackigem Wasser roch. Nach wenigen Minuten erreichte die Gruppe einen langen Gang, der trotz einiger schwach erhellter Glühbirnen, die den allgemeinen Stromausfall scheinbar überstanden hatten, düster wirkte. Drei große Bottiche, die jeweils durchsichtig und mit soliden Gittern versperrt waren, befanden sich auf der linken Seite, während auf der rechten Seite einige Schränke standen, in denen man Taucherausrüstungen finden konnte. Weiter im Hintergrund befand sich ein offen stehender großer Gefrierschrank, aus dem es erbärmlich nach Fisch stank.

    Selbst Thomas, der nicht gerade sehr empfindlich war, fühlte sich von dem penetranten Geruch angeekelt und hielt sich so weit wie möglich die Nase zu. Hinter ihm reagierte Marilou Gauthier mit einem Würgen auf die unangenehme Atmosphäre und sank zuckend zusammen. Ihr Mann beugte sich hilfsbereit zu ihr herunter und half der Frankokanadierin wieder auf die Beine, begleitete sie aber nach einem kurzen Blickkontakt mit Mamadou aus dem Trakt heraus und zurück in den Hauptgang des Kellers, in dem zwar eine klaustrophobische Enge herrschte, allerdings kein Gestank mehr herrschte.

    Die restlichen Gäste folgten nach diesem kurzen Zwischenfall den beiden Damen, die sich im Keller gut auskannten. Von dem Schlossherrn fehlte aber auch in diesem Bereich des Schlosses jede Spur. Allerdings bemerkte Magdalena Osario, dass ihr Mann den stinkenden Gefrierschrank sonst nie offen stehen ließ und überhaupt sehr auf Ordnung bedacht war. Nachdenklich teilte die Spanierin ihre Gedankengänge mit, als Elaine Maria da Silva plötzlich spitz aufschrie und fast schon angeekelt auf den letzten der drei Bottiche zeigte, in dem drei Haie gemächlich ihre Runden zogen und die Ankömmlinge aus kalten und diabolischen Augen fixierten.

    Thomas trat näher an den Behälter heran und wich sofort wieder zurück. Was er nun zu sehen bekam, übertraf eigentlich seinen Verstand. Der grauenhafte Anblick stand dem des entstellten Körpers der gekreuzigten Religionswissenschaftlerin vom Morgen in nichts nach.

              Der Schotte sah in dem Behälter einen völlig zerfressenen Leichnam und einige blutrot getränkte, zerfetzte Kleidungsstücke, die wie leblose und trostlose Todesboten träge auf der Wasseroberfläche schwammen.

     Noch schlimmer allerdings war der Anblick des aufgequollenen und vom Rumpf abgetrennten Kopf des Direktors, der wie ein lascher Korken an der Oberfläche trudelte. Die Augen waren weit geöffnet, wirkten starr und dennoch erschreckend lebendig, da in dem glasigen Blick noch der Schrecken des Todesmomentes geschrieben stand.

     Am Rande des überdimensionalen Behälters, der am Seitenrand mit der Nummer 63 beschriftet worden war, schwamm der Torso und Thomas erspähte dort auch die nackten Arme des Professors, wobei die Hände mit einer Handschelle aneinander gekettet worden waren, sodass Doktor Wohlfahrt seinen Tod durch die animalische Fresswut der drei Haie in aller Hilflosigkeit hatte miterleben müssen.

    Thomas wandte sich kopfschüttelnd ab, doch Fatmir hatte den Anblick weniger gut überstanden, hatte sich ironischerweise über den zweiten Behälter, der von oben mit einem feinmaschigen Gitter abgedeckt war und in dem lediglich ein Hai schwamm, gebeugt und übergab sich geräuschvoll. Niemand machte ihm dies zum Vorwurf, denn alle Anwesenden hatten ausnahmslose bleiche Gesichter bekommen und waren völlig entgeistert. Niemand nahm von den anderen Begleitern mehr Notiz, die Szenerie wirkte auf makabre Art und Weise wie eingefroren, in einer Mischung aus Ekel und Faszination. Selbst die sadomasochistisch veranlagte Elaine Maria da Silva, die gewiss kein Kind von Traurigkeit war, hatte sich verschwiegen in eine schmale Nische hinter einem Haufen von Taucherausrüstungen gehockt und war trotz ihres bräunlichen Teints bleich geworden und nagte nervös an ihren schwarz lackierten Fingernägeln.

    In diesen Posen verharrten die Gäste sekundenlang, später minutenlang und beinahe schon stundenlang, denn die Zeit hatte jedwede Bedeutung völlig verloren. Der Aufschrei von Magdalena Osario ließ alle Anwesenden zusammenschrecken und aus ihrer fast schon magischen, hypnotischen Erstarrung aufwachen.

    „Wie könnt ihr so ruhig hier sitzen bleiben und schweigen? Tut doch etwas, stoppt dieses Abschlachten, dieses sinnlose Morden! Es muss doch irgendeinen Zusammenhang geben. Was ist der Grund? Wo zur Hölle ist das Muster?“

    Kaum hatte Magdalena Osario diese Worte gesprochen, als Thomas urplötzlich ein Licht aufging. Er war von dieser Geisteseingebung selbst so überrascht, dass ihm sogar der Atem stockte und er sich verwunderte schüttelte. Es war, als ob er aus einem dunklen und tiefen Schlaf erwacht wäre, um einem hellen und klaren Licht entgegen zu fliehen.

    Mit einem Mal machten die vorher noch konfusen Dinge für ihn einen Sinn. Er dachte angestrengt nach, ging jedes Detail der Toten durch, deren Todesart er sich praktisch fotografisch eingeprägt hatte. Mit einer Mischung aus Erregung und Erstaunen wurde er von seinem Einfall immer überzeugter.

    Die anderen Gäste hatten die innere Unruhe des Schotten bemerkt, der völlig in sich vertieft war, verständnislose Phrasen vor sich hermurmelte und dabei sogar mit seinen Händen wild gestikulierte. Schließlich besann sich der junge Polizist und ließ den restlichen Teil der Gruppe voller Eifer und Stolz an seinen noch ungenannten Entdeckungen teilhaben.

    „Ich glaube, dass ich das Muster durchschaut habe!“, sprach Thomas triumphierend und mit einem Mal herschte eine gespannte und beinahe schon ehrfurchtsvolle Stille im düsteren Kellergewölbe.

    Lediglich das plätschernde Wasser, verursacht durch die gierigen und nervösen Haie, die mit gierigen Mäulern und erbarmungslosen Blicken unruhig um den Leichnam des zerfetzten Direktors trieben, sorgte für eine hektische Untermalung der erwartungsvollen Stille.

    „Das will ich doch stark bezweifeln. Es gibt nicht besonders viel zu durchschauen. Der Butler ist der Mörder und wenn wir ihn nicht finden, dann geht das Gemetzel weiter, ich sage es euch!“, propagierte Gwang-jo hochnäsig dazwischen.

    „Spannen Sie uns nicht auf die Folter, Thomas, heraus mit der Sprache!“, herrschte Magdalena Osario Thomas an, als sie bemerkte, dass dieser die Kunstpause für sich ausnutzen wollte, obwohl Überheblichkeit sonst gar nicht seine Art war.

    Der junge Schotte war jedoch von einer seltenen fiebrigen Energie erfüllt, die er noch nicht richtig verarbeiten konnte. Alles schien ihm nun klar und die Aufklärung der Mordserie nicht mehr fern. In diesen Momenten reagierte der Schotte nahezu naiv und dachte in seiner Ekstase gar nicht mehr daran, dass auch der potentielle Mörder selbst anwesend sein und gewisse Schlüsse oder Modifikationen aus dem Plädoyer des jungen Polizisten ziehen könnte. Sein Kollege Mamadou hatte bereits beschwichtigend die Arme erhoben und trat auf seinen schottischen Kollegen zu, doch dieser hatte bereits unbeherrscht angefangen seine Standpunkte zu äußern, sodass es für eine verschwiegenere Taktik nun zu spät war.

    Auf der anderen Seite dachte sich Mamadou, um sich selbst ein wenig zu beruhigen, dass das geteilte Wissen um eine mögliche Taktik des Täters jedem Anwesenden zukünftig von Nutzen sein und ein wenig Ordnung in die diabolische Hektik auf dem unheilseligen Schloss bringen könnte.

    „Der Täter spielt mit uns Katz und Maus und legte seit dem ersten Mord immer verdeckte Fährten, die auf die Urzeit des nächsten Mordes hinwiesen. Außerdem bringt der Täter auch immer abwechselnd einen Mann und dann eine Frau um. Das soll heißen, dass nach dem Tod des Direktors besonders die Leben von Magdalena Osario, Marilou Gauthier und Elaine Maria da Silva in höchster Gefahr sind. Ich bezweifle, dass der Täter mit diesen Ketten oder Methoden bricht, denn dafür ist er zu perfektionistisch, zu sehr überzeugt von der Kunst seines Tötens.“, erläuterte Thomas und blickte die restlichen Anwesenden erwartungsvoll an.

    Die beiden in diesem Teil des Kellergewölbes verbliebenen Frauen blickten sich angstvoll an und waren fast schon bleich geworden. Vor allem Magdalena Osario stand unter einem ziemlichen Schock, wirkte nervös, fahrig und zeitweilig auch geistesabwesend. Sie war es auch, die unvermittelt eine rasche Frage einwarf, nur um das für sie unangenehmere Thema zu verdrängen und auf einen anderen Aspekt einzugehen.

    „Der erste Teil mit den Uhrzeiten leuchtet mir nicht so ganz ein.“, murmelte die schöne Spanischlehrerin, die in den letzten drei Tagen optisch und mental um fast zehn Jahre gealtert zu sein schien.

    „Das werde ich Ihnen gerne ausführen. Das erste Opfer war Malcolm. Er erhielt kurz vor seinem Tod ein Fußballtrikot, von dem er glaubte, dass Jeanette es ihm geschenkt habe. Er trug das gute Stück am ersten Abend, als er Dudelsack spielen wollte. Erinnert sich jemand an die Rückennummer des Trikots?“, hakte Thomas nach und kam sich fast schon wie ein Lehrer dabei vor.

    Einige der Anwesenden sahen sich nachdenklich an, bevor Björn Ansgar Lykström, der sich damals ebenfalls als einer der ersten um den Sterbenden gekümmert hatte, behutsam das Wort ergriff.

    „Wenn ich mich recht entsinne, dann trug sein Trikot die Rückennummer 10.“, murmelte der Schwede nachdenklich.

    „Sehr richtig. Das nächste Opfer war dann Jeanette mit den vergifteten Pralinen. Wann genau starb sie?“, wollte Thomas wissen und blickte in größtenteils ratlose Gesichter. Manche Anwesenden wirkten geradezu ungehalten bezüglich des überlegenen Fragespiels zwischen Thomas und den anderen Gästen.

    „Es war jedenfalls am Vormittag.“, gab Björn Ansgar Lykström schulternzuckend zu Protokoll und hoffte auf eine präzisere Ergänzung, die von seiner Geliebten folgte, die ihren Kopf nach hinten gegen seine Brust geschmiegt und die verweinten Augen geschlossen hatte.

    „Es war genau morgens um zehn Uhr. Zu der Zeit wird im Schloss immer gefrühstückt.“, erläuterte die Spanierin, ohne dabei ihre Augen zu öffnen oder aus ihrer starren Pose zu erwachen.

    „Richtig. Meine bescheidene Theorie ist nun, dass die Trikotnummer die Todesuhrzeit im Voraus angekündigt hat.“, fuhr Thomas eifrig fort.

    „Das ich nicht lache. Das könnte auch purer Zufall gewesen sein.“, bemerkte Fatmir kritisch.

     „Dieses Gerede ist hanebüchener Unsinn. Anstatt unsere Zeit mit pseudointellektuellen und tiefenpsychologischen Taktiken zu vergeuden, sollten wir uns endlich aufraffen und dem Ganzen ein Ende setzen!“, forderte Gwang-jo Park erneut.

    „Meine Theorie trifft aber auch in allen anderen Fällen zu. Jeanette hatte vor ihrem Tod einen Strauß Blumen bekommen. Es handelte sich dabei um exakt 15 Rosen. Ich hatte dies bereits zu Beginn bemerkt und mich immer gefragt, ob diese Anzahl eine bestimmte Bedeutung hätte. Dies ist tatsächlich der Fall, denn Hamit Gülcan, der nächste Tote, starb am nächsten Tag gegen 15 Uhr an der präparierten Yacht des Direktors.“, bemerkte Thomas und sah erstmals ein verständnisvolles Nicken unter den Anwesenden und einen anerkennenden, positiven Seitenblick seines afrikanischen Kollegen.

    Lediglich der Koreaner war immer noch nicht zufrieden gestellt und versuchte krampfhaft jedem der Anwesenden die Theorien des schottischen Polizisten als unrealistisch und weltfremd darzustellen. Doch er bekam mittlerweile nur noch wenig Gehör, was ihn sofort ärgerte und sein Gesicht zu einer provokanten Fratze verziehen ließ.

    „Eine tolle Theorie. Zur Zeit der Explosion schwammen sicher genau elf Fische an der Küste.“, entgegnete der Koreaner hämisch und wollte die Theorie des aufgeweckten Schotten nun ins Lächerliche ziehen.

    „Gwang-jo, du hast so eine tolle Auffassungsgabe, du solltest Polizist werden. Dein Scharfsinn sucht seinesgleichen, deine Fairness und Objektivität sind nicht zu übertreffen. Tatsächlich liegt die Lösung nicht so weit davon entfernt. Erinnert sich jemand an den Namen der zerstörten Yacht?“, wollte Thomas wissen, nachdem er sich den gehässigen Konter nicht verkenifen konnte. Sofort wurde er von der nun alleinigen Schlossherrin unterbrochen.

    „Die Yacht nannte er scherzhaft Batavia 3-11.“, bemerkte Magdalena Osario.

    „Wenn ich dies richtig deute, lieber Kollege, dann war dies die Ankündigung zu der grausigen Kreuzigung um elf Uhr am nächsten Morgen.“, mutmaßte Mamadou.

    „Richtig, Herr Kollege. Die Zahl drei stand für den nächsten, den insgesamt dritten Tag auf dieser Insel. Wenn wir uns jetzt noch den entsetzlich zugerichteten Körper der italienischen Religionswissenschaftlerin ins Gedächtnis rufen, dann wird sich fast jeder hier daran erinnern, dass ihr nicht nur Einsenpfähle durch Arme und Beine, sondern auch ein fünfter durch die Mitte des Körpers gestoßen worden war, was bei klassischen Kreuzungen früher völlig unüblich war. Die Kreuzigung mit fünf Pfählen deutete das voraus, was wir jetzt gerade erlebt haben. Der Schlossherr ist kaltblütig in das Haifischbecken gestoßen worden, nachdem man ihm Handschellen angelegt hatte. Das Ganze wird hundertprozentig gegen fünf Uhr nachmittags stattgefunden haben.“, beendete Thomas seine Erläuterungen und genoss den Moment des nachdenklichen Schweigens, während dem die Anwesenden selbst nachdachten oder Thomas anerkennend oder kritisch zunickten oder auch kritisch abwägend den Kopf hoben oder senkten. Selbst Gwang-jo Park war kurzfristig still geworden und hatte sich auf die Theorie eingelassen.

                „Angenommen, dieser konfuse Bockmist würde tatsächlich stimmen, dann müssten wir hier ja auch ein Zeichen dafür finden, wann es den Nächsten von uns trifft!“, stellte der Koreaner fest und löste mit dieser Bemerkung eine hektische Kettenreaktion aus.

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