• Kapitel 69

     Kapitel 69: Freitag, 17 Uhr 41, Kellergewölbe

     

    Unter den Gästen brach eine Mischung aus Panik und Forschungsdrang aus und jeder suchte plötzlich krampfhaft nach irgendwlechen angeblichen Indizien, so als ob sie alle erfahrene Polizisten wären. Der vorher noch totenstille Korridor war nun von hektischen Stimmen erfüllt, die sich angeregt über irgendwelche Theorien unterhielten. Die Worte von Thomas und die Bemerkung von Gwang-jo hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.

     Thomas fühlte sich jedoch fast unwohl in seiner Haut, als er das hektische Treiben um sich herum sah. Hätte er seine Vermutungen den Gästen überhaupt mitteilen sollen? Würde der Mörder jetzt vielleicht doch seine Taktik ändern? Würde jetzt sogar noch mehr Panik ausbrechen und Thomas eine gegenteilige Wirkung verursachen, als die, die er sich zunächst erhofft hatte? Er fühlte sich schuldig, hatte einen Kloß im Hals und schalt sich einen Narren, dass er seine Gedankengänge so übereifrig mitgeteilt hatte. Am liebsten wäre der engagierte Schotte sofort im grabeskalten Kellerboden versunken.

    Erst nach einigen Augenblicken des stillen Haderns widmete er seine Aufmerksamkeit wieder den angeregten Diskussionen unter den Gästen.

     „Die Sache ist offensichtlich. Das nächste Opfer wird um drei Uhr nachts sterben. Es befinden sich genau drei Haie in dem Becken und zu allem Überfluss ist es auch noch das dritte Becken hier unten.“, erläuterte Abdullah Gadua soeben, der fast unbemerkt mit seiner bleichen und kränkelnden Frau wieder zur Gruppe gestoßen war und den letzte Teil der Unterhaltung mitbekommen hatte. Auch er war zunächst schockiert gewesen, als er den grausig verstümmelten Toten in dem blutroten Haifischbecken gesehen hatte.

     Marilou hatte sich den Anblick erst gar nicht angetan und still und fast apathisch in eine Ecke des unheilvollen Gewölbes gesetzt, den Blick über ihre zusammengekauerten Knie hinweg auf ihre Fußspitzen gerichtet. Sie wirkte so, als ob sie einen kleinen Schock erlitten hätte oder sehr angestrengt am Nachdenken war.

    „Ich finde, dass sich die Theorie sehr logisch anhört.“, stimmte Björn Ansgar Lykström anerkennend zu.

    „Was ist denn, wenn wir falsch liegen? Wenn wir Vorbereitungen zum falschen Zeitpunkt machen und unmittelbar davor oder danach leicht angreifbar sind? Es könnte immerhin auch sein, dass man die Gesamtanzahl der Haie nehmen muss. Demzufolge wäre der nächste Mord erst um fünf Uhr morgens.“, hielt Fatmir dagegen.

    „Die Spekulationen führen uns mal wieder nicht weiter. Wir müssen unbedingt in Gruppen zusammenbleiben, ab sofort darf sich niemand mehr allein und frei bewegen, sonst riskiert er oder sie das Leben.“, mahnte Mamadou ausdrücklich.

    „Ich darf ja wohl hoffentlich noch wenigstens allein auf Toilette gehen. Oder wollen Sie mitkommen und mir den Arsch abputzen?“, begehrte Gwang-jo wieder einmal auf und zog den Unmut der anderen Gäste auf sich.

    „Um deinen Arsch wäre es ohnehin nicht schade.“, konnte sich Elaine Maria da Silva nicht verkneifen und wurde von dem Koreaner aus zusammengekniffenen Augen so erbarmungslos angesehen, als ob er sie am liebsten ebenfalls in eines der Becken gestoßen hätte.

    Es war wohl lediglich dem Umstand, dass vor wenigen Augenblicken eine Leiche entdeckt worden war zu verdanken, dass der misanthropische Asiat sich jetzt nicht auf die mysteriöse Brasilianerin stürzte. Diese wich einem weiteren Konflikt aus und wandte sich stattdessen lieber Thomas zu, der ein wenig abseits stand und die Leute genau beobachtete.

    „Ich finde es faszinierend, dass sie diese Zusammenhänge so gut bemerkt und analysiert haben. Vielleicht stehen wir jetzt am entscheidenden Wendepunkt.“, meinte die Brasilianerin mit einem gewinnenden Lächeln und einem hoffnungsvollen Glanz in ihren Augen. Ihre spöttische Art hatte sie gegenüber Thomas abgelegt und schien mit einem Mal viel Respekt vor ihm zu haben.

    „Das möchte ich hoffen.“, murmelte Thomas, der aus seinen Gedanken gerissen worden war und noch nicht ganz bei der Sache war.

    Erst jetzt nahm er die Brasilianerin bewusst war. Sie war wie immer dunkel geschminkt, trug einen kurzen schwarzen Rock und darunter eine strapsesartige Netzstrumpfhose, sowie recht hohe, lackbehaftete und metallische Stiefel, die ihr bis zu den Unterschenkeln gingen. Sie trug ein schwarzes Hemd mit einigen roten und blauen Farbtupfern, die fast an Blut erinnerten und in dieser Umgebung sarkastisch und makaber wirkten. Ihr Haar trug die Brasilianerin offen und ihre dunklen, schelmischen Augen blickten verheißungsvoll zum schottischen Polizisten und schienen auf bedrohliche Art und Weise bis in seine Seele eindringen zu wollen. Thomas bekam ein kaltes Schaudern und merkte, dass die Brasilianerin ihn unnatürlich nervös machte.

    „Wenigstens habe ich jetzt einen kompetenten Beschützer gefunden, der diesem Killer vielleicht ebenbürtig ist.“, murmelte die Brasilianerin verheißungsvoll und auch ihr Blick sprach Bände.

    Thomas fühlte sich gleichzeitig geschmeichelt, als auch angewidert und unwohl in seiner Haut. Mit diesen kontroversen Gefühlen war er noch nicht ganz ins Reine gekommen.

    Nervös stammelnd suchte er nach Worten und wurde noch unruhiger, als er das wissende und spöttische Lächeln auf dem Gesicht der Brasilianerin sah, die sich ein wenig zu ihm beugte und dabei einen tiefen Einblick in ihr dezentes, aber wirkungsvolles Dekollete gewährte.

    Thomas spürte den feurigen Atem, der über ihre zarten Lippen drang, auf seiner Wange und wandte sein Gesicht instinktiv ab. Er sträubte sich mit aller Vehemenz gegen seine Erregung, doch der junge Schotte hatte diesen Kampf schon längst verloren. Die mysteriöse Dame hatte ihn scheinbar simpel und eiskalt um den Finger gewickelt.

    „Ebenbürtig bin ich dem Mörder vielleicht noch nicht. Aber ich gebe mein Bestes. Dieses Grauen muss aufhören.“, warf Thomas rasch ein, um von seiner Unsicherheit abzulenken. Er war enorm dankbar, als in diesem Moment die Schlossherrin das Wort ergriff und Thomas somit vor weiteren, unangenehmen Berührungsmomenten bewahrte.

    „Der Aufenthalt hier unten macht wenig Sinn. Wir sollten nach oben zurückkehren und noch einmal gründlich alles aufrollen und unser weiteres Vorgehen gemeinsam besprechen. Außerdem wollte Thomas ja auch noch diesen ominösen Schrifttest durchführen. Möglicherweise hat er uns auch sonst noch etwas zu sagen.“, meinte Magdalena Osario kalt zu dem Schotten und spielte darauf an, dass dieser die Gäste nicht über die Ergebnisse und Entdeckungen der nachmittäglichen Exkursion in das Dickicht informiert hatte.

    Der Vorschlag der Spanierin wurde dankbar aufgenommen, denn alle Gäste fühlten sich unangenehm in dem kalten Kellergewölbe, welches sie mit fünf blutrünstigen Raubtieren, stinkenden toten Fischen und den Überbleibseln des ehemaligen Direktors und Gastgebers teilen mussten.

    Die Gruppe folgte der relativ kühl und herzlos gewordenen Spanierin, die sich selbst von ihrem Geliebten distanziert hatte und energisch und allein zurück in der Haupttrakt des Kellers eilte. Thomas vermutete, dass die Spanierin sich mit dieser Kälte und plötzlichen Entschlossenheit selbst ein wenig Mut, Stärke und Willenskraft zusprechen wollte. Ihr schwedischer Verehrer machte darüber jedoch eher einen verwirrten Eindruck und warf einen missmutigen Blick auf den Kadaver des Mannes seiner Geliebten, bevor er fast tranceartig mit Thomas zuletzt diesen Kellertrakt verließ.

    Gemeinsam stieg die Gruppe wieder die alte Treppe hinauf und gelangte nach wenigen Augenblicken in die Eingangshalle, die auch düster vor ihnen lag, nach der sterilen Kälte des Kellers aber fast schon anheimelnd wirkte. Grelle Blitze tauchten die Halle von Zeit zu Zeit wieder in ein wirres Licht, welches nur durch die Schatten einiger alter und verkrüppelter Bäume aus dem Vorgarten unterbrochen wurde.

    Plötzlich hörte Thomas ein krachendes Geräusch und zuckte herum. Alle Anwesenden blickten sich gegenseitig an und waren einigermaßen verwirrt. Plötzlich ertönte das düstere Krachen noch einmal und klang beinahe so wie das Geräusch einer Totenklaue, die monoton gegen eine innere Sargwand klopfte.

    „Das Geräusch kommt vom Eingangsportal her.“, bemerkte Abdullah und alle Blicke wandten sich wie auf Befehl dem angesprochenen Bereich zu.

    Das Tor wirkte solide und das Klopfen war nur düster zu hören. Durch das solide Holz konnte man nicht einmal erahnen, wer sich auf der anderen Seite befinden könnte. Das unheimliche Klopfen klang noch einmal auf und ließ allen Anwesenden erneut das Blut in den Adern gefrieren.

    Wie unter einem Zwang nahm sich Thomas der Sache an, schritt zaghaft und langsam auf das Eingangsportal zu und wirkte dabei wie ein apathischer Schlafwandler. Alle Augen waren kommentarlos auf ihn gerichtet und diese erwartungsvolle Stille zermürbte ihn. Der Schotte merkte deutlich, dass es ihm unangenehm war im Mittelpunkt zu stehen und als Held angesehen zu werden, doch gleichzeitig hatte er sich fast schon automatisch zu einer solchen Führungspersönlichkeit im Laufe der letzten Tage entwickelt, weil er seit dem Vorfall mit der Mafia sich geschworen hatte, nie wieder ein Verbrechen direkt oder auch indirekt zu verschulden und sich gegen jede Art von Kriminalität unter dem Einsatz seiner gesamten Kräfte aufzulehnen.

    Ein grell krachender Blitz, lauter noch als alle anderen zuvor, ließ ihn aus seiner Lethargie aufwachen und der Schotte ging nun zügiger auf das Eingangsportal zu und legte seine schweißnasse und zitternde Hand nervös auf die Torklinke, die er langsam und unter höchster Anstrengung herunterdrückte.

    Er atmete noch ein letztes Mal tief durch, blickte in die erwartungsvollen Gesichter der Gäste, denen der Atem zu stocken schien. Mit einem letzten Ruck überwand der Polizist seinen inneren Dämon und riss das Eingangsportal so heftig auf, dass ihm irgendeine völlig vermummte und durchnässte Person überrascht entgegenfiel.

    Thomas schrie vor Schreck auf, rollte sich im Fallen über die Schulter ab und sprang ein wenig zur Seite. Rasch rappelte er sich auf und war ebenso verwundert wie die anderen Gäste, als er den völlig durchnässten Mann geradezu leblos auf dem Bauch liegen sah, dessen Kleidungsstücke zudem mit hässlichen Blutflecken übersät waren.

    Wie sooft war es schließlich Gwang-jo Park, der die Szene einführend kommentieren musste und danach ein heiseres und höhnisches Lachen voller Arroganz hinterherschickte.

     „Da sieh mal einer an. Unser Butler ist zurück im Hause!“

     

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