• Kapitel 82

     

    Kapitel 82: Samstag, 01 Uhr 36 Thomas Zimmer

    Erst Stunden später erwachte Thomas Schritt für Schritt aus seinem Schlaf und sinnierte darüber nach, was ihn geweckt haben könnte. Er fand keine Antwort, blickte jedoch schlaftrunken auf seine Armbanduhr, die er geistesgegenwärtig noch vor dem Finale des liebesaktes irgendwie auf die kleine Kommode neben dem Bett gestellt hatte.

    Erschrocken schreckte er hoch und ihm fielen erneut die Szenen ein, die sich kurz vor seinem tiefen Schlaf ereignet hatten. Verwundert blickte er sich im Zimmer um, von der Brasilianerin gab es keine Spur mehr, die Schlaffläche neben ihm war kalt und verlassen.

    Thomas fragte sich unwillkürlich, ob er diese Dinge alle nur geträumt hatte, doch als er realisierte, dass er völlig nackt im Bett lag und den kalten und getrockneten Schweiß auf seinem Körper spürte, sowie dass die Laken völlig zerknittert und noch kaltfeucht waren, sah er ein, dass er sich nicht getäuscht hatte.

    Thomas blieb noch eine Weile liegen und ein kleines Lächeln stahl sich vorsichtig in sein Gesicht. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen und Stunden fühlte er sich frisch und fast schon voller fröhlichem Tatendrang. Diese Aufbruchsstimmung nahm er mit, als er sich seine Kleidungsstücke zusammensuchte, kurz in der Dusche wusch und dann zur Zimmertür trat.

    Kaum hatte er den Gang betreten, nahm er wieder die düstere und unheilvolle Stimmung des Schlosses war, so als ob er in eine schwarze und völlig realitätsfremde Welt getreten sei. Die Angst und das Wissen um eine grausame Bedrohung legten sich wieder auf seine Seele und führten seinem Optimismus einen heftigen Rückschlag zu.

    Mit gemischten Gefühlen und rauschendem Kopf stieg Thomas langsam die breite Treppe in den Eingangsbereich hinunter. Von dort aus sah er, dass im Kamin der Bibliothek noch Feuer brannte. In dem Raum war es totenstill und doch saßen alle Anwesenden dort, blickten sich verbissen oder verschwiegen an, waren in einen stummen Schlaf verfallen oder hielten sich krampfhaft wach, weil sie die Einsamkeit der Träume fürchteten. Die psychische Spannung lag wie zum Greifen in der Atmosphäre. 

    Mamadou saß fast apathisch auf einem Schemel nahe der Tür und spielte gedankenverloren mit seiner Pistole. Einige der Gäste hatten sich Decken geholt, so hatte sich die fröstelnde Marilou beispielsweise allein in einen Sessel geschmiegt und war bis zum Kopf hin zugedeckt. Ihr Mann Abdullah saß in ihrer Nähe neben Björn Ansgar Lykström vor einem kleinen Holztisch. Sie spielten relativ lustlos und unkonzentriert ein Kartenspiel, um sich irgendwie abzulenken. Dabei wurden sie von einem grimmigen Gwang-jo beobachtet, der abgeschottet in eine Ecke saß und vor allem Thomas finster betrachtete, als dieser in den Raum trat.

    Thomas suchte mit seinem Blick nach Elaine Maria da Silva, doch die schöne Brasilianerin war nicht anwesend, was den jungen Schotten ein wenig stutzig machte. Ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus und er verzog das Gesicht. Wo mochte die mysteriöse Brasilianerin nach ihrem gemeinsamen Schäferstündchen hingegangen sein?

    Mamadou schreckte hoch und blickte Thomas erstaunt, dann ein wenig kritisch an. Thomas spürte sofort, dass sein Kollege bereits ahnte, was die Brasilianerin und er gemacht hatten und schien darüber sehr beunruhigt zu sein. Grimmige Verständnislosigkeit zeichnete sich im angestrengten Gesicht des Ghanaers ab und Thomas blickte automatisch betreten zu Boden. Mit einem Mal war seine Euphorie verflogen und er bereute den Liebesakt mit der attraktivenbrasilianerin schon wieder. Er fühlte sich wie ein Schuldiger vor Gericht und schalt sich einen Narren. Er hatte seiner großen Schwäche, dem weiblichen Geschlecht, bereits zum zweiten Mal während des kurzen Aufenthaltes nachgegeben.

    „Du hast Elaine nicht zufällig gesehen?“, fragte Mamadou und hatte seinen Blick gleichzeitig wieder auf seine Waffe gesenkt.

    Thomas schüttelte langsam den Kopf, seine Kehle war wie zugeschnürt und elektrisierende Gedanken jagten durch seinen Kopf. Er brach langsam in Schweiß aus und blickte sich nervös um. Die Augen aller Anwesenden schienen auf ihn gerichtet zu sein, als ob er ein Sünder wäre und schuld an der ganzen misslichen Lage. Thomas wäre am liebsten im Erdboden versunken und atmete geräuschvoll durch.

    Fast war er dankbar, als Fatmir die drückende Stille unterbrach und Thomas sich nicht für irgendetwas rechtfertigen musste. Der Albaner stand langsam von einem spartanischen Holzstuhl auf, er wirkte nervös, er knetete und faltete voller Nervosität seine Hände, seine Augen waren geweitet und seltsam gerötet. Thomas glaubte sogar ein Zittern zu erkennen, das durch den Körper des Albaners ging.

    Behutsam trat Fatmir an Mamadou heran und blickte Thomas in einer Mischung aus Verzweiflung und Wut an. Thomas bekam eine Gänsehaut, als er dem Blick seines Gegenübers begegnete, mit dem irgendeine unheimliche Verwandlung geschah.

    „Mamadou, darf ich mir etwas zu trinken aus der Küche holen? Ich komme auch direkt wieder, ich verspreche es dir, du kannst mir doch vertrauen.“, begann der Albaner hastig flüsternd und bettelte den Polizisten auf eine erbärmliche Weise an, die selbst Thomas abstieß.

    Der schottische Polizist erkannte plötzlich, aus welchem Grunde der Albaner so reagierte. Fatmir Skola war seit längerer Zeit alkoholsüchtig und vermutlich sehnte er sich in dieser angespannten und unheilvollen Nacht nach einem beruhigenden Tropfen, um seine ängstlichen und verwirrten Sinne zu betäuben, so wie er es bereits in der Nacht zuvor fast zu derselben Uhrzeit getan hatte. Thomas empfand so etwas wie Mitleid und war auf die Antwort des Ghanaers gespannt.

    „Es ist in Ordnung. Sei aber spätestens in fünf Minuten wieder hier.“, murmelte der Ghanaer, nachdem er kurz über die Nachfrage sinniert hatte.

    Sichtlich erleichtert atmete der Albaner auf und verbeugte sich fast dankend vor dem Polizisten. Wie ein Dieb huschte er aus der Bibliothek heraus in den düsteren Speisesaal, der völlig verlassen war.

    Thomas blickte seinem ehemaligen Freund nachdenklich hinterher, ergriff einen Stuhl in der Nähe des Kamins und gesellte sich nach einigem Zögern zu seinem afrikanischen Kollegen, der ihn emotionslos anblickte.

    „Du hättest Fatmir nicht allein gehen lassen sollen. Man kann hier vor nichts mehr sicher sein.“, offenbarte Thomas nach einiger Zeit qualvoll seine Sorgen. Sein Gegenüber blickte ihn nur grimmig an und lachte sogar rau und spöttisch.

    „Du solltest dich lieber nicht mit einer potenziellen Täterin einlassen. Wer weiß schon, wo sie sch jetzt herumtreibt.“, konterte der Afrikaner kalt und Thomas war geschockt, dass selbst der mutige und sonst so herzliche Mamadou sich auf einmal gegen ihn richtete.

    Diese Kritik versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, vor allem aber auch auf Grund der erneuten Einsicht, dass der Ghanaer recht hatte, nachdem der Thomas den Gedanken an sein Schäferstündchen mit der Brasilianerin gerade erst mühsam verdrängt hatte. Thomas hatte erst noch protestieren wollen, doch er brach stockend ab und sah ein, dass es keinen Sinn hatte dem Afrikaner zu widersprechen, da sein Kollege eine zu gute Menschenkenntnis hatte und er ihn nicht täuschen konnte und wollte.

    Somit blieb Thomas stumm, doch die quälende und vorwurfsvolle Stille machte ihn fast wahnsinnig. Er versuchte rasch das Thema zu wechseln, um wenigstens irgendwie beschäftigt zu sein, anstatt düsteren und skeptischen Gedanken nachzuhängen.

    „Elaine wird vermutlich auf ihrem Zimmer sein. Wo sollte sie sich sonst aufhalten?“, fragte Thomas, um auch sich selbst zu beruhigen.

    „Du musst es ja wissen.“, kam es vom Ghanaer knapp und höhnisch zurück, was Thomas nur noch unsicherer und auch wütender machte. Er fühlte sich missverstanden und ungerecht behandelt. Doch wusste er eigentlich selbst noch, was er wollte? In ihm tobte ein einziges bizarres Gefühlschaos.

    „Ich weiß es nicht, Mamadou. Warum gehst du auf einem Mal davon aus, dass sie dahinter steckt? Es könnte genauso gut jeder andere Mensch hier im Raum sein.“, verteidigte Thomas seine neue Geliebte mit Inbrunst und fühlte sich dabei erneut beim Klang seiner eigenen Worte übertölpelt und manipuliert und bereute seine verräterische Aussage auch schon.

    „Gut möglich. Habt ihr in diesem Geheimgang eigentlich irgendwelche Spuren gefunden?“, wechselte Mamadou kalt und entschlossen das Thema.

    Thomas sah seinen Kollegen lang und eindringlich an, nickte dann knapp und kramte in seiner Hosentasche nach dem Etui, das er in der Vorratskammer gefunden hatte. Prüfend blickte Thomas zu den restlichen Anwesenden und zeigte seinem Kollegen das Fundstück dann hinter vorgehaltener Hand.

    Nachdenklich betrachtete der Ghanaer es und fasste es behutsam an. Sein Blick fiel auf die blau gefärbte Blüte und Thomas sah förmlich, wie es im Kopf des Afrikaners arbeitete und wie sich die einzelnen Teile langsam zu einem komplexen Gesamtwerk zu ordnen schienen. Ein fiebriger und gieriger Glanz zuckte für einen Sekundebruchteil durch die dunklen Augen des Afrikaners. Thomas bemerkte dies mit einem unbehaglichen Gefühl und wandte sich verstört ab.

    Er streifte mit seinem Blick noch einmal die Anwesenden und stutzte. Außer Fatmir und Elaine schien noch eine andere Person zu fehlen, die sich irgendwo im Schloss befinden musste. Thomas dachte angestrengt nach, doch er kam nicht sofort darauf. Stöhnend knetete er seine Stirn und griff sich mit seinen Händen in die Haare, die nach seinem Schlaf jegliche Ordnung verloren hatten, zumal er sich seit den frühen Morgenstunden nicht mehr gekämmt hatte. Thomas blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und beschloss, dass er dringend wieder zum Friseur gehen sollte, sofern er aus diesem Alptraum jemals entkommen sollte.

    Plötzlich tippte Mamadou ihn an und reichte ihm rasch das Etui, was Thomas behutsam wieder in seiner Tasche verstaute. Erwartungsvoll sah er seinen Kollegen an, der seinerseits nun angestrengt die anwesenden Gäste ansah und ungewöhnlich nervös und nachdenklich wirkte, als ob er einen schwierigen Kampf in seinem Innern bestreiten würde. Thomas runzelte die Stirn und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. 

    In diesem Moment ertönte auf einmal ein tiefer, lauter Schrei, ein ohrenbetäubendes Klirren und ein Poltern, das seltsam dumpf klang. Von irgendwo hörte Thomas ein undefinierbares Zischen und sprang erschrocken von seinem Stuhl hoch. Der junge Polizist begegnete dem Blick seines Kollegen, der ihn mit geweiteten Augen ansah. Beide dachten an dasselbe.

    „Fatmir!“, murmelte Mamadou verschreckt, blickte hektisch auf die Gäste, die ebenfalls aufgehorcht hatten und beunruhigt wirkten.

    Ein allgemeines, aufgebrachtes Gemurmel setzte ein und einige der Gäste standen rasch auf. Allen voran war da Gwang-jo, der wie ein Blitz loslief und schlitternd durch die leicht offen stehende Tür in den Speisesaal rutschte, bevor Mamadou auch nur dazu gekommen war, ein gewisses Maß an Ordnung einzuhalten und den emotionalen Koreaner von einer möglichen Überreaktion abzubringen.

    Dem kurzen Kontrollverlust versuchte Mamadou mit einem lauten Ruf entgegen zu wirken, während inzwischen fast alle Gäste aufgestanden waren. Thomas fackelte nicht lange und reagierte instinktiv, als er dem verschwindenden Koreaner nachsetzte und den Ghanaer mit der aufgebrachten Menge zurückließ, mit der er sichtlich überfordert war. Mahnend hob er seine Pistole und appellierte an den gesunden Menschenverstand.

    „Ruhe! Setzt euch wieder hin! Reagiert jetzt nicht falsch, wir sollten die Kontrolle nicht verlieren. Wenn wir alle zusammen bleiben, dann sind wir hier sicher...“, rief er verzweifelt, doch es war so, als ob er gegen eine stumme Wand anschreien würde, die ihn nicht wahrnahm und ihm auch nicht antwortete.

    Thomas bekam den Rest des Appells gar nicht mehr mit, da er in den düsteren Speisesaal gestürmt war, der seltsam kalt wirkte. Erst jetzt wurde er sich bewusst, dass sie an diesem Abend nichts gegessen hatten und im Laufen fiel ihm die Lösung, nach der er eben vergeblich gesucht hatte, wie Schuppen vor die Augen. Er wusste jetzt, wen er unter den Leuten in der Bibliothek noch vermisst hatte. Es handelte sich um den völlig unauffälligen Koch, dessen Arbeitgeber und Kollegen mittlerweile alle aus dem Leben geschieden waren und dies an nur einem einzigen Tag. Niemand wusste etwas über den alten und stillen Greis, der sich nun völlig verängstigt und isoliert fühlen musste. Thomas nahm sich vor dem Mann bald einen Besuch in dessen Zimmer abzustatten. Er hatte mit ihm fast noch gar nicht geredet.

    Thomas sah, wie der Schatten des agilen Koreaners um die Ecke verschwand und auch er selbst rutschte nun hastig um die Ecke und wäre auf dem glatten Boden beinahe der Länge nach hingefallen. Um ein Haar wäre er in der diffusen Dunkelheit in den Koreaner hineingerannt, der an der Tür zur Küche wie angewurzelt stehen geblieben war.

    Thomas befürchtete bereits einen grausigen Anblick, sein Herz schlug wie wild gegen seine Rippen und die Angst vor der bevorstehenden Enthüllung des Schrecklichen raubte ihm fast den Verstand. Schließlich überwand der junge Schotte sich, trat an dem völlig konsternierten Koreaner vorbei, der ihn überhaupt nicht mehr wahr zu nehmen schien.

    Tief atmete Thomas durch und schluckte den Kloß in seinem kratzigen Hals herunter. In dem schwachen Licht, welches gespenstisch durch die riesigen Fenster des Speisesaals drang, konnte er mehr erahnen als erkennen, was mit dem Albaner geschehen war und trat noch einen Schritt näher an den Tatort.

    Thomas wusste nicht, ob es ein Zufall oder vielleicht sogar ein Wink des Schicksals war, doch in diesem Moment brach am nächtlichen Himmel endlich die tiefgraue Wolkendecke auf und das helle, magisch wirkende Licht des Mondes erhellte auch die Küche und gewährte Thomas einen schwer erträglichen Anblick, der ihm panische Kälteschauer über den Rücken jagte. Vor ihm lag nicht mehr der Albaner, den er gekannt und einst auch geschätzt hatte, sondern ein auf ekelerregende Weise erstellter Mensch, der so gruselig aussah, dass Thomas an seinem eigenen Verstand zweifelte.

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