• Kapitel 83

     

    Kapitel 83: Samstag, 02 Uhr 02 Küche

    Vor Thomas Augen lag Fatmir Skola völlig steif auf dem Küchenboden, sein Körper war völlig vereist, seine Kleidung glänzte in einem kristallenen Weiß, sein Gesicht zeigte noch die Überraschung und Angst im Angesicht des Todes. In der Küche herrschte eine eisige Kälte und seltsam schwere Luft. Verwundert taumelte Thomas zurück und fröstelte nicht nur wegen der gefallenen Temperatur.

    Erst jetzt hatte er seine erste Überraschung überwunden und ein Blick für die Details dieses mysteriösen Todesfalles. Der übergroße Kühlschrank stand noch offen und aus ihm hing eine große, metallische Gasflasche heraus, die fast auf dem kalten Fußboden eingeschlagen war, wenn sie nicht mit einem Schlauch und seidenen Faden innerhalb des Kühlschrankes befestigt gewesen wäre. Thomas sinnierte darüber nach, was für ein Gas wohl aus der Flasche ausgetreten war und Fatmir in Sekundenschnelle auf grausame Weise das Lebenslicht ausgelöscht hatte.

    In dem Moment sah Thomas am Hals der Gasflasche ein silberfarbig eingraviertes Elementsymbol „He“ und verstand plötzlich die Zusammenhänge. In der Gasflasche hatte sich Helium befunden, welches zwar praktisch unsichtbar und geruchlos war, den Albaner beim Austritt aus dem Behälter jedoch unmittelbar tiefgefroren hatte. Mit einem mulmigen Gefühl erinnerte sich Thomas an einen alten und senilen Greis, der ihn damals an der Privatschule in Chemie und Physik unterrichtet hatte. Viel wusste der schottische Polizist nicht mehr über das Gas mit der Ordnungszahl 2 und war sich nicht darüber bewusst gewesen, dass das chemische Element so tödlich und effizient wirken konnte.

    Mit einem Schaudern wandte sich Thomas ab, als sich der Koreaner plötzlich grob an ihm vorbeidrängte, nachdem er seinen ersten Schock nun auch überwunden hatte. Grimmig kniete er neben Fatmir nieder, der im Schloss sein einziger Unterstützer gewesen war, sodass ihn dessen Tod vermutlich besonders treffen musste. Doch anstatt Trauer zeigte Gwang-jo nur Wut, hämmerte auf den gefrorenen und unheimlichen Körper des Albaners ein, schrie ihn an und war wie von Sinnen.

    Thomas wich verstört von dieser verstörenden Szene weg und sah mit einem flauen Gefühl im Magen, dass der tiefgefrorene rechte Arm des Toten mit einem knackenden Geräusch zur Seite hin einfach durchbrach, noch an einem hauchdünnen Stück Haut oder Sehne zu hängen schien und wie ein Fremdkörper lose über dem Boden pendelte, nachdem Gwang-jo auf den Toten eingeprügelt hatte.

    Der schottische Polizist bekam ein flaues Gefühl im Magen und konnte das Ganze schließlich nicht mehr mit ansehen. Energisch trat er auf den Koreaner zu und zerrte ihn grob von dem Toten weg.

    Verwundert taumelte Gwang-jo nach hinten und wäre um ein Haar böse gestürzt, wenn Thomas ihn nicht am Kragen gepackt und wieder in die Höhe gezogen hätte, um den Störenfried energisch aus der Küche zu drängen. Gwang-jo schrie empört auf und übertrug seine angestaute Wut und Angst nun auf den schottischen Polizisten, den er erst jetzt bewusst wahrzunehmen schien und mit dem er ja ohnehin noch eine Rechnung offen stehen hatte.

    Energisch riss der Koreaner seine Faust hoch und traf den unvorbereiteten Polizisten unmittelbar am Kinn, sodass dieser benommen zurück in die Küche taumelte, über den Körper des Toten stolperte und mitten auf dessen eisigen Leichnam fiel, der mit einem infernalischen Geräusch knackte und an manchen Stellen zerbröckelte. Thomas spürte den Schmerz und ein aufsteigendes Gefühl der Übelkeit in sich aufsteigen und rollte sich benommen von dem Toten herunter. Die Kälte in der Küche traf ihn wieder wie ein Schlag und er war fast unfähig sich zu bewegen. Sterne tanzten plötzlich vor seinen Augen und seine Umgebung fing an sich um ihn herum spiralförmig immer schneller zu drehen, doch der Schotte gewann den inneren Kampf gegen die Bewusstlosigkeit, rappelte sich mechanisch auf und stolperte zitternd über den Leichnam hinweg und auf die Küchentür zu. Er folgte einer Art innerem Instinkt und dachte über die Unvorsichtigkeit seines Handelns gar nicht mehr bewusst nach.

    Daher traf ihn der brutale Handkantenschlag in den Nacken völlig unvermittelt. Der sadistische Koreaner hatte im toten Winkel der Tür gelauert und lachte sein hilfloses Opfer höhnisch aus. Thomas fühlte sich wie paralysiert, sein ganzer Körper war nach dem präzisen Treffer wie gelähmt.

    Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Thomas mit einem Mal einen großen und dunklen Schatten, der sich hinter Gwang-jo aufbaute, der dies nicht bemerkte und nur Augen für sein Opfer hatte. Thomas wollte noch etwas sagen, doch auch seine Sinne schienen wie gelähmt und er verlor völlig den Faden.

    Nun war es Gwang-jo, der hinterrücks angegriffen wurde und einen schmerzhaften Schlag an den Hinterkopf hinnehmen musste. Überrascht aufschreiend beugte sich der Koreaner verkrampft nach vorne und bekam sogleich das Knie seines Gegners brutal in den Magen gerammt, woraufhin der Koreaner seinen Oberkörper instinktiv nach oben drückte, um nach Luft zu schnappen. Auch mit dieser Bewegung hatte sein Kontrahent gerechnet und schlug ihm kurz und trocken gegen die linke Schläfe.

    Der Koreaner verdrehte noch ungläubig die Augen, bevor er wie ein nasser Sack zur Seite kippte, gegen den Türrahmen prallte und dann unmittelbar neben seinem toten Freund liegen blieb. Dieser fast prophetische Anblick, den Thomas nur aus dem äußersten Blickwinkel wahrnahm, ließ ihn erneut erschaudern.

    Noch immer war der schottische Polizist unfähig sich zu bewegen und erkannte seinen unverhofften Retter erst, als dieser sich zu ihm beugte und sorgsam betrachtete. Es handelte sich um Björn Ansgar Lykström, der sich aufgeregt nach dem Schotten erkundigte. Daraus schloss Thomas, dass er ein erbärmliches Bild darstellen musste und noch mitgenommener aussah, als er sich ohnehin schon fühlte.

    Langsam kribbelte es wieder in seinen Gliedern, seine Muskeln begannen zu zucken und die Betäubung löste sich langsam wie eine Brausetablette im Wasser auf. Das dumpfe Gefühl wich aus seinem Kopf und sein steifer Nacken entspannte sich wieder ein wenig. Trotzdem wurde Thomas fast noch schwarz vor den Augen, doch er kämpfte erneut mental gegen die Bewusstlosigkeit an.

    Der schwedische Lehrer bot seine ganzen Kräfte auf, als er den immer noch fast unbeweglichen Körper des benommenen Schotten auf die Beine zerrte, diesen stützte und ihn langsam zurück in Richtung der Bibliothek drängte. Thomas kam sich fast so vor wie der tote Butler, den der Schwede vor wenigen Stunden erst durch das Schloss getragen und dessen Stelle nun Thomas auf makabre Weise eingenommen hatte.

    Der schottische Ermittler wollte noch etwas erwidern, wollte die Hilfe des Schweden ablehnen, wollte wissen, ob dieser sich nicht den Toten genauer ansehen wollte, doch er hatte kaum Kraft zum Sprechen.

    Auf der Hälfte des Weges kamen ihnen dann noch Abdullah und Marilou entgegen, die eng umschlungen einen vorsichtigen Blick in den gespenstischen Speisesaal geworfen hatten, der jetzt wieder völlig im Dunkeln lag, da sich die dichte Wolkenwand wieder zugezogen hatte. Ein dumpfes Grollen deutete an, dass es bald neue Unwetter geben würde und auch für den kommenden Tag ein mögliches Verschwinden von der Insel, sowie das eventuelle Entzünden von improvisierten Leuchtsignalen faktisch unmöglich machen würde. Durch den nebligen Dunst würde ohnehin niemand ihr Signal wahrnehmen und die Insel blieb auch weiterhin völlig abgeschottet von der Zivilisation. Alles schien sich gegen die Gäste verschworen zu haben, die in letzter Zeit ohnehin schon mehr hatten ertragen müssen, als manche Menschen in ihrem ganzen Leben.

    Abdullah und Marilou halfen Björn Ansgar Lykström und zu dritt stützten sie nun den Schotten und trugen diesen in die Bibliothek, wo sie ihn auf eine ausrangierte, roséfarbene Couch legten und sogar ein kleines und staubiges Kissen für ihn auftreiben konnten.

    Thomas nickte stumm und blinzelte seine drei Helfer dankbar an. Mit einem Mal sah er doch einen Hoffnungsschimmer in der scheinbar auswegslosen Situation. Ein Gefühl der Solidarität auf Grund der Zweckgemeinschaft hatte sich unter den Anwesenden verbreitet und einzig und allein auf dieser Grundlage konnten sie aufbauen, um gegen den unsichtbaren Täter zu agieren.

    Auch Mamadou, der in der Bibliothek geblieben war, um unter den restlichen Anwesenden wenigstens ein wenig Kontrolle zu wahren, trat kurz auf Thomas zu, sah ihn besorgt an und ging dann selbst schnell zum Tatort.

    Thomas wurde nach einigen Augenblicken allein gelassen und schon bald musste er seiner erneuten Müdigkeit Tribut zollen. Er hatte zunächst noch große Angst, da ein mögliches Einschlafen ihn hilflos gegenüber der allgegenwärtigen Gefahren machte, doch irgendwann waren die Gesetze der Natur stärker noch als sein Wille und er driftete in einen oberflächlichen und unruhigen Traum ab, der ihn dankbar von der tristen Realität abspaltete und ihm gar ein Gefühl wohliger Wärme vermittelte, was sich allerdings abrupt wieder änderte.

    Der übermüdete und sorgengeplagte Schotte hatte einen sehr wechselhaften Traum. Zunächst war er bedrohlich und düster, er sah den tiefgefrorenen Körper des toten Albaners vor sich liegen und spürte in diesem Traum wie seine eigenen Beine vereisten und wie ein langsam erfrierender Mamadou neben ihm wie eine Statue umfiel und in Millionen Splitter zerbarst. Dann spürte er eine wohlige Wärme, als die mysteriöse und halbnackte Brasilianerin in seinem Traum auftauchte, ihn zärtlich berührte und liebkoste. Doch plötzlich verzerrte sich das Gesicht der Schönheit zu einer hässlichen Fratze einer alten, grauhaarigen Hexe mit schwarzen Zähnen und haarigen Warzen im Gesicht. Das Biest zückte einen Lederpeitsche und schlug in blinder Wut mehrmals auf den gepeinigten und starren Thomas ein, bevor sie den völlig paralysierten Schotten mit Plastikhandschellen in einem Kerker des Kellers an eines der Haifischbecken kettete. Neben der verwandelten Brasilianerin stand er Koch, der mit einem irren Blick ein überlanges und silbrig funkelndes Stahlmesser im Fleisch eines toten Haies wetzte, der neben Thomas lag. Da ertönte plötzlich das schaurige Lachen des Koreaners, der zu den anderen beiden Übeltätern zutrat und dabei Mamadou im Schwitzkasten hielt. In der anderen Hand hielt er dessen Pistole und blickte Thomas aus schwarzen und animalischen Augen an. Zuletzt traten schließlich Marilou und Abdullah zu der Gruppe. Abdullah reichte dem Koch ein Silbertablett, auf dem sich eine silbrige Haube befand, die wohl ein besonderes Menu dem Anblick der anderen Anwesenden verwehrte. Die Kanadierin jedoch trug eine Art übergroße Flagge, auf der vier weiße Lilien auf blauem Grund zu sehen waren, wobei diese durch ein weißes Kreuz in gleich große Viertel gespalten wurden. Am spitzen Ende des holzigen Flaggenmastes waren die Schädel der anderen bisherigen Toten aufgesteckt worden und die sonst so stille Marilou blickte Thomas kalt an und fing an schaurig zu lachen. Im selben Moment lüftete der Koch das Silbertablett und fand den abgeschlagenen Kopf von Björn Ansgar Lykström auf einem gigantischen Teller. Ameisen, Spinnen und Ratten krochen in der blutigen Soße umher, in den ausgerenkten Mund des Schweden war ein giftgrüner Apfel gesteckt worden. Mit einem irren Lachen ergriff der Koch sein Messer und begann damit den blutüberströmten und klumpenartigen Kopf in Fünftel zu schneiden, die er jedem anderen der Anwesenden anbot. Das letzte Stück behielt er jedoch nicht für sich, sondern schritt mit dem Tablett auf den angeketteten Thomas zu, grinste ihn diabolisch an und setzte ihm die Messerklinge an die Kehle. Mit seinen klobigen Findern ergriff er den Mund des Schotten und drückte diesen langsam und gewaltsam auf, bevor er das Tablett mit dem letzten Teilstück langsam näher schob und in den Rachen des Schotten schieben wollte. Dieser erblickte das leblose Auge des toten Schwedischlehrers, das ihn fast hypnotisch ansah. Mit großem Ekel wollte sich der junge Polizist gegen die bizarre Delikatesse sperren, doch sein Kiefer schien ausgerenkt zu sein, sein gesamter Körper betäubt und jeder Widerstand war zwecklos. Ein Büschel toter Haare des Schweden kitzelte bereits seinen Gaumen und der Schotte verschloss mit einem stummen Schrei die Augen...

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