• Kapitel 92

     

    Kapitel 92: Samstag, 13 Uhr 11 Bibliothek

    Als Thomas in frischer Kleidung und mit frischem Optimismus ausgestattet Seite an Seite mit der südamerikanischen Schönheit in die düstere Bibliothek schritt, kam er sich sofort wie ein Fremdkörper vor, denn um ihn herum herrschte ängstliches, bedrückendes Schweigen.

    Alle im Schloss anwesenden Personen hatten sich hier verschanzt, sogar der Koch hatte seine Scheu überwunden und hatte auf einem Rollwagen einige Schnittchen vorbereitet, doch er selbst schien der einzige zu sein, der davon überhaupt kostete. Verstört saß er ein wenig abseits und blickte wie paralysiert seine schwarzen, glänzend polierten Schuhe an.

    Ebenso isoliert, jedoch in der anderen Ecke des Raumes und hin und wieder kritisch beäugt und kontrolliert, saß Gwang-jo, den man tatsächlich gefesselt hatte. Zusätzlich hatte man ein altes Stofftaschentuch des Hauses als Knebel missbraucht, um den koreanischen Wüterich ruhig zu stellen. Der Choleriker hatte seinen körperlichen Protest eingestellt, doch die Blicke, die er jetzt auf Thomas Jason Smith richtete, sprachen Bände und trafen den Schotten trotz seiner neuen Zuversicht bis ins Mark. Obwohl der eigenwillige Koreaner so leicht auszurechnen war, so hatte seine kalte und willkürliche Brutalität doch etwas Furchteinflößendes. Thomas war sich sicher, dass dieser Mensch niemals aus seinen Fehlern lernen würde und bereits jetzt wieder neue hinterhältige Rachefeldzüge ausbaldowerte.

    Die anderen Gäste saßen immer noch mehr oder weniger verstreut in der Bibliothek und beobachteten sich schweigend gegenseitig. Mamadou wirkte unglaublich nervös, wie man es sonst gar nicht von ihm kannte. Er knetete unablässig seine Hände, warf kurze rasche Blicke durch den Raum und wackelte unruhig und unablässig auf seinem Sessel hin und her. Es schien beinahe so, als ob er sich erheben wollte, um etwas Wichtiges zu verkünden, doch sein Tatendrang schien aus irgendeinem Grund unfreiwillig eingeschränkt zu sein.

    Im Gegensatz zu ihm wirkte Marilou Gauthier, die zuletzt erstaunlicherweise in den Mittelpunkt getreten war, ausgeglichen und überlegen. Ein schmales Lächeln huschte gar hin und wieder durch ihr von Leid und Schicksalsschlägen gezeichnetes Gesicht.

    Thomas überlegte, was er nun tun konnte und entschloss sich dazu seine Idee den anderen Gästen mitzuteilen. Eine konstruktive Diskussion oder mahnende Warnung war seiner Ansicht nach allemal besser als das depressive Schweigen, das alle innerlich aufzufressen drohte und die Konfrontationsquote eher steigerte, als senkte.

    Fast elegant und überheblich trat er auf den kleinen Sims vor dem Kamin an der Längsseite der Bibliothek, wo er von allen Anwesenden gut gesehen werden konnte. Die meisten blickten ihm relativ gleichgültig oder gar mit leeren Blicken entgegen und dieses Zeichen der Kapitulation traf Thomas mehr als jede harsche Kritik. Der schottische Polizist bemerkte, dass es nun um mehr als eine Idee, sondern um rhetorische Mittel und pädagogisches Verständnis ging, um eine totgelaufene Gruppendynamik und einen neuen Überlebensdrang zu revitalisieren.

    „Hört mir bitte zu. Ich weiß, dass wir gerade eine Situation erleben, auf die wir völlig unvorbereitet sind, die wir uns in unseren schlimmsten Alpträumen so niemals ausgemalt hätten und dass wir auf diese Dinge in ebenso unterschiedlichen Extremen reagieren. Mir ist völlig klar, dass niemand mehr dem Anderen vertrauen kann. Doch versetzt euch mal in die Lage des Täters hinein! Es ist sein Ziel mit uns zu spielen, uns auf sadistische Weise in die ultimative Verzweiflung zu treiben, sodass wir uns gegenseitig vor seinen Augen umbringen oder schikanieren. Wir tappen mit offenen Augen in seine Fallen, werden dadurch anfälliger und zu leichten Opfern, die man einfach ausschalten kann. Genau hier müssen wir aber den Hebel ansetzen, um den Täter z überraschen. Wenn wir zusammenhalten und versuchen analytisch und logisch zu denken, dann haben wir gegen diese Person eine Chance. Wir sollten unsere persönlichen Dispute und Gefühle ausschalten, denn wer jetzt emotional reagiert, den wird es als Nächstes erwischen. Wir sollten gemeinsam wachsam sein, ab sofort sollte sich niemand mehr von der Gruppe trennen. Ich bin davon überzeugt, dass es bald schon einen nächsten Anschlag geben wird und zwar in genau einer Stunde.“, eröffnete Thomas seine eindringliche Rede, die eine offensichtlich zwiespältige Wirkung erzielte.

    Manche Gäste lauschten nach anfänglichem Desinteresse aufmerksam seinen Worten und nickten manchmal zustimmend und grimmig, während die andere Gruppierung die Gesichter in den Händen vergrub oder nur spöttisch lächelte. Mit seiner letzten Ankündigung hatte Thomas jedoch alle Anwesenden in seinen Bann gezogen, selbst die Kritiker, die sich sogleich zu Wort meldeten.

    „Wie kommst du zu dieser Schlussfolgerung? Ich finde, dass wir ganz vorsichtig sein sollten, denn bei unseren letzten Schätzungen haben wir völlig daneben gelegen.“, entgegnete Björn Ansgar Lykström prompt.

    „Ich möchte mich auch zu Wort melden. Ich befürchte, dass es taktisch sehr ungeschickt war, diese Vermutung Preis zu geben. Immerhin weiß der Täter nun Bescheid und kann sich entsprechend auf die neue Situation einstellen. Er wird den geplanten Angriff einfach eine Stunde später vollziehen oder sein Konzept umstellen.“, bemerkte der Koch schüchtern, aber verhältnismäßig ruhig.

    „Das denke ich nicht. Der Killer ist ein eiskalter Perfektionist. Er hinterlässt an jedem Tatort Zeichen und Vorausdeutungen auf die nächste Tatzeit. Er ist viel zu eitel, als dass er diese Indizien nun ignoriert, seine Pläne abwandelt und völlig anarchisch handelt, denn so würde er sein von Anfang ausgetüfteltes Kunstwerk verraten und zerstören. Er würde Schwäche zeigen und mir nachgeben müssen, weil ich ihm in diesem Fall überlegen war und ihn durchschaut habe. So eine Niederlage kann sein Ego nicht verkraften. Der Mörder wird seinen Plan eiskalt durchziehen, ohne jegliche Kompromisse.“, entgegnete Thomas mit einer logischen Argumentation, die dann auch auf keinerlei Einwände stieß.

    Der Schotte hatte sich bei seiner Erläuterung unauffällig umgesehen und ein gequältes Lächeln auf dem Gesicht seines Kollegen bemerkt, der sich jedoch einen Kommentar verkniffen hatte. Dennoch glaubte Thomas in dem Blick seines Kollegen einen seltsamen, grimmigen Stolz zu erkennen. Der Rest der Gruppe hatte sich die Erläuterungen stumm und verbissen angehört.

    „Wieso bist du denn auf diese Uhrzeit gekommen?“, wollte Björn Ansgar Lykström wissen, der als einer der wenigen Anwesenden seine Lethargie überwunden hatte und sich erstaunlich lebhaft und engagiert zeigte.

    „Das lässt sich schnell zusammenfassen.“, begann Thomas mit einem leicht triumphierenden Lächeln und schilderte in knappen Worten, was er kurz zuvor bereits seiner Geliebten unter der Dusche erklärt hatte. Zufrieden stellte er fest, dass die Anwesenden keinerlei Zweifel äußerten und seinen Gedankengängen offensichtlich folgen konnten. Dennoch waren mit seiner Theorie noch längst nicht alle Fragen geklärt und Probleme beseitigt. Es war erneut Björn Ansgar Lykström, der einen Schritt weiter dachte.

    „Was können wir denn machen, um nicht mit offenen Augen ins Messer zu laufen? Ich denke nicht, dass es hilft, wenn wir alle zusammen tatenlos sitzen bleiben und uns gegenseitig beobachten.“, bemerkte der Schwede, der den Serienmörder auf keinen Fall unterschätzte und sehr organisiert wirkte, was Thomas gleichsam freute, wie auch überraschte, da er noch an die letzten Schicksalsschläge für den Schweden denken musste. War das Verhalten des Lehrers eine Art neue Sichtweise, eine positivere Lebensideologie oder war sie vielmehr ein letztes, krampfhaftes Aufbäumen gegen die drohende Niederlage? Thomas wolltelieber an den ersteren Teil glauben und verdrängte den starren  Blick des fast krapmfhaft wach wirkenden Schwedens schnell aus seiner Gedankenwelt.

    „Das sollten wir zusammen überlegen. Als Erstes sollten wir tatsächlich niemals allein unterwegs sein, nicht einmal mehr auf Toilette oder draußen zum Rauchen. Des Weiteren sollten wir uns vor allen Dingen in Acht nehmen, die vergiftet sein könnten.“, bemerkte Thomas und warf einen argwöhnischen Blick auf die Schnittchen des Koches, der überrascht aufblickte und schreckensbleich das Silbertablett anstarrte.

    „Ich habe nichts vergiftet, wirklich nicht, sonst würde ich doch selbst gar nichts davon probieren.“, stammelte der alte Mann nervös und litt sichtbar darunter, dass er plötzlich im Fokus der ihm unbekannten Anwesenden stand.

    Thomas versuchte für den alten, grauhaarigen und etwas konservativ wirkenden Briten Partei zu ergreifen und seine etwas unachtsam aufgestellte Vermutung ein wenig zu entschärfen.

    „Das glaube ich Ihnen gerne. Aber wer weiß, vielleicht hat der Täter ja bereits im Voraus gewisse Speisen, Gewürze oder Getränke präpariert, das kann man niemals wissen.“, entgegnete Thomas und merkte, dass der Blick des Butlers nicht gerade zuversichtlicher wurde und er zudem ein würgendes Geräusch von sich gab.

    „Das würde aber nicht zum Täter passen. Er kann ja nicht ahnen, dass das nächste Opfer in genau einer Stunde etwas essen müsste. Das Risiko einer unplanmäßigen Zeitverschiebung wäre bei einer solchen Vergiftung viel zu groß.“, warf Björn Ansgar Lykström erstaunlich souverän ein und bekam dafür ein dankbares Nicken des schottischen Polizisten zugestanden.

    „Da hat er recht. Ich denke viel mehr an eine Art Mechanismus, der zu einer exakten Zeit aktiviert werden könnte. Möglicherweise eine Uhr oder Ähnliches.“, führte Thomas weiter aus und blickte nun aufmerksam auf die Uhren, die in der Bibliothek standen.

    Björn Ansgar Lykström griff die Idee sofort auf und ging rasch zur ersten Uhr, die auf einem kleinen Holztisch unweit des Kamins stand. Sie war sehr edel und teuer. Der Holzrahmen war fast vierzig Zentimeter hoch, im oberen Bereich sah man goldene Zeiger, während man unterhalb davon ein ebenfalls goldenes Pendel vor einem mechanisch wirkenden Hintergrund mit diversen Zahnrädern, kleineren Hebeln oder Hammern sah, die größtenteils kreisförmig vor dem Hintergrund einer mittelalterlichen Landkarte angedeutet waren.

    Behutsam hob der Schwede die schwere Uhr hoch und öffnete an ihrer Unterseite mühsam eine Klappe. Thomas war sehr nervös, als er dem Schweden dabei zusah, der Schweiß perlte von seiner Stirn.

    „Pass bloß auf, wer weiß, was du damit aktivieren könntest, wenn dort wirklich eine präparierte Falle versteckt ist.“, warf der Schotte mit gedrückter Stimme ein und sein Herz drohte auszusetzen, als der Schwede plötzlich geräuschvoll die Holzklappe aus ihrer Verankerung riss und verduzt in den Händen hielt.

    Alle Anwesenden starrten wie gebannt auf den Schweden, der krampfhaft die Augen geschlossen hatte. Die Sekunden atemlosen Schweigens verstrichen, ohne dass sich irgendetwas ereignet hätten. Zögerlich atmeten die Gäste auf. Auch Björn Ansgar Lykström hatte sich wieder beruhigt, setzte die schwere Uhr ab und blickte nachdenklich auf mehrere ältere Batterien und Zahnräder, die er kurz betastete. Nach einer kurzen und ergebnislosen Untersuchung drückte er die leicht beschädigte Holzklappe wieder in die Öffnung und stellte die Uhr mit zittrigen und schweißbedeckten Händen wieder an ihren angestammten Platz.

    Sein nächstes Ziel war eine altmodische, deutsche Kuckucksuhr, die oberhalb des kalten Kamins hing. Sie war eingerahmt von drei schwarzen afrikanischen Holzmasken, die entsetzliche Fratzen symbolisierten und mit struppigen Haarbüscheln toter Tiere verziert waren.

    Da der Schwede nicht groß genug war, zog er sich langsam einen Stuhl heran, der geräuschvoll über den nicht mit Teppich belegten und gefliesten Boden schabte. Thomas bekam eine unangenehme Gänsehaut, als er das Geräusch hörte und musste sofort an feingliedrige Totenhände denken, die mit ihren langen und verfaulten Fingernägeln über das Holz eines Sarges schabten, wie man es aus den einschlägigen Horrorfilmen kannte. Überhaupt wirkte die Stimmung in diesem Schloss auf Thomas einigermaßen mysteriös und übersinnlich. Ihm kam zwischenzeitlich gar der abwegige Gedanke, dass möglicherweise doch eine höhere Kraft bei dieser Mordserie ihre Hände im Spiel hatte. Repräsentierte diese abgelegene Schlossinsel möglicherweise die Hölle, ein Hort schwarzer Magie? Thomas traute dem toten Schlossherrn sogar zu, dass dieser sich mit sadistischen und okkulten Riten beschäftigt haben könnte. Die okkulten Masken hätten jedenfalls gut zu dieser Theorie gepasst. Allerdings konnte diese kleine Sammlung auch einfach ein Geschenk eines ehemaligen Schülers sein, das der Schlossherr in Ehren gehalten hatte, da er wohl generell viele kulturelle Gegenstände zu sammeln schien.

    Thomas ärgerte sich im Nachhinein, dass er den nun toten Direktor nicht näher über sein Privatleben und das Schloss ausgehorcht hatte und auch seine spanische Frau weilte nun mittlerweile nicht mehr unter den Anwesenden. Thomas hatte allerdings einen kurzen Geistesblitz, als er zufällig auf den verklemmt wirkenden Koch blickte, der seinem Blick schüchtern begegnete. Wusste der Greis möglicherweise mehr über dieses Schloss und seine Besitzer? Der schottische Polizist nahm sich bereits vor diesen Mann, der so unauffällig erschien, näher zu befragen. In solch einer Situation konnte jedes noch so unnütz erscheinende Detail am Ende das entscheidende Puzzlestück darstellen oder einen knappen Vorteil gegenüber dem Killer ausmachen.

    Inzwischen hatte der schwedische Lehrer sich auf den Holzstuhl gestellt und die Kuckucksuhr von ihrer Halterung genommen. Ächzend hievte er das schwere Ding auf einen altmodischen Tisch in der Nähe des Kamins und wirbelte dabei jede Menge Staub auf. Mit einem düsteren Poltern setzte er die Uhr ab und beäugte sie fast respektvoll.

    In diesem Moment wurde Thomas stutzig. Bei dem Poltern hatte Thomas ein seltsam metallisches Scheppern vernommen, was so gar nicht zu der aus edlem Holz geschnitzten Uhr passen wollte. Siedend heiß fiel ihm plötzlich noch ein anderes Detail ins Auge.

    Der schottische Polizist erinnerte sich mit einem Mal an den Tag der Ankunft auf der Schlossinsel, der gerade mal drei Tage zurücklag, obwohl der Aufenthalt in diesem grausigen Gefängnis Thomas schon wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen war. Wie ein alter Film spulten sich die Bilder in seinem Kopf ab und er erinnerte sich auch an die Kuckucksuhr, die damals völlig verstaubt gewesen war. Die Zeiger hatten sich nicht mehr bewegt und schienen lange stehen geblieben zu sein.

    Völlig konsterniert blickte Thomas nun auf eine absolut staubfreie Kuckucksuhr, deren Zeiger ohne Zweifel die korrekte Uhrzeit anzeigten. Björn Ansgar Lykström schien sich an solch ein nebensächliches Detail nicht mehr zu erinnern und hantierte relativ sorglos an der hinteren Holzwand der Uhr herum, die er nun langsam aus ihrer Verankerung drückte.

    Thomas starrte wie paralysiert auf die Uhr und konnte die drohende Gefahr förmlich vorausahnen und spüren, doch es war plötzlich eine andere Person, die entschieden eingriff und hinter dem schottischen Polizisten vehement aufsprang.

    Alle Anwesenden, einschließlich des schwedischen Lehrers, der mitten in seiner Bewegung verschreckt inne gehalten hatte, wandten sich zu Mamadou um, der grimmig und robust im Hintergrund der Bibliothek stand und zitternd auf die Kuckucksuhr deutete.

    „Macht das Ding nicht auf! Das ist eine Falle, die uns alle umbringen wird!“, schrie er laut und hart und hatte in diesem Moment bereits seine Waffe gezückt, um die Ernsthaftigkeit seiner Worte brutal zu unterstreichen.

    Thomas erschrak bei dieser Überreaktion zutiefst. Hatte der Ghanaer dieselbe Entdeckung gemacht, wie er selbst? Oder wusste sein Kollege sogar mehr, als er allen Anwesenden zuvor hatte weiß machen wollen?

    Thomas kam nicht mehr dazu, aus seinen überlegungen Schlüsse zu ziehen, denn erneut spitzte sich die Lage in der Bibliothek wieder zu.

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