• Kapitel 93

     

    Kapitel 93: Samstag, 13 Uhr 48 Bibliothek

    Björn Ansgar Lykström starrte völlig verwirrt und verängstigt auf die Kuckucksuhr in seinen Armen und man konnte förmlich sehen, wie sein Gedankenapparat arbeitete und fieberhaft nach einer Lösung suchte, um sich des gefährlichen Gegenstands so schnell wie nur irgend möglich zu entledigen. Der Schwede kam auf eine erstaunlich schnelle Lösung, rappelte sich auf und stürzte quer durch den Raum, wobei er die Kuckucksuhr krampfhaft umklammert hielt und mit steifen Schritten an den größtenteils völlig konsternierten Gästen vorbeitaumelte, die abwechselnd von ihm zu dem afrikanischen Polizisten sahen, der grimmig und sorgvoll jeden Schritt des Schweden verfolgte.

    „Lass das Ding sofort los, stell es sofort irgendwo hier ab!“, forderte der Ghanaer ihn mit harter Stimme auf, doch der schweißüberströmte Schwede schüttelte verbissen den Kopf.

    Thomas sah atemlos zu, wie sein Kollege plötzlich eiskalt den Lauf seiner Waffe auf den Schweden richtete und ihm die Mündung an den Hals drückte. Der Lehrer erstarrte mitten in der Bewegung und verdrehte ängstlich seine Augen. Seine Arme, welche die seltsame Kuckucksuhr hielten, fingen bedrohlich an zu zittern.

    Thomas konnte trotz aller Angst die erstaunliche Reaktion seines Kollegen nicht verstehen. Gleichzeitig fiel Thomas, als er die Waffe wieder sah, auch auf, dass diese vor wenigen Stunden erst verschwunden war, als sich der Ghanaer in einer ähnlichen Situation wie der Schotte befunden hatte. So gesehen waren sie Leidensgenossen oder gar noch mehr, doch in diesem Fall waren ihre Einstellungen alles Andere als konform und Thomas verspürte das brennende Bedürfnis einzugreifen, um eine größere Eskalation noch rechtzeitig abzuwenden.

    „Mamadou, ich weiß nicht, was mit dir los ist? Du verhältst dich seit geraumer Zeit mehr als seltsam uns gegenüber! Woher nimmst du diese sichere Kenntnis, dass es sich um eine Falle handelt?“, fragte Thomas ihn, nachdem einige Sekunden des Schocks verstrichen waren.

    Der Ghanaer wandte ihm nicht einmal den Blick zu und seine Antwort klang entsprechend kalt und gleichgültig, doch der Inhalt seiner Aussage verschlug allen Anwesenden simultan die Sprache.

    „Ich weiß sogar, wer unter uns der Mörder ist.“, gab Mamadou zurück und warf einen raschen Blick in die Runde. Seine Hand hatte krampfhaft den Lauf seiner Waffe umklammert, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. Er hatte die wulstigen Lippen zu dünnen Strichen zusammen gekniffen, seine Augen waren ebenfalls schmal und kalt geworden.

    „Warum hast du uns das nicht vorher gesagt?“, fragte Abdullah Gadua inzwischen völlig entgeistert, wagte sich jedoch trotz seiner offensichtlichen Empörung keinen Schritt näher an den wütenden Ghanaer heran.

    „Ich musste den Täter gegen meinen Willen schützen, doch das ist jetzt entgültig vorbei. Unter Todesdrohungen wurde ich in Schach gehalten. Ich halte das aber jetzt einfach nicht mehr aus, egal was passiert. Ich muss es jetzt tun.“, redete sich der Ghanaer selbst Mut zu. Seine Aussagen waren für die meisten unter den Anwesenden jedoch immer noch völlig unverständlich.

    „Was musst du jetzt tun? Wer steckt dahinter?“, wollte Thomas wissen. Er lispelte und stotterte vor Aufregung, Schweiß schien aus jeder Pore seines Körpers ausgebrochen zu sein.

    Wie in Zeitlupe wandte sich sein so veränderter Kollege zu ihm um und blickte Thomas eindringlich an. Der Blick schien bis auf die Seele des Schotten hinabzureichen und diese kalte Überlegenheit jagte dem verwirrten Thomas einen Schauer nach dem nächsten über den Rücken.

    „Du hast mich erst auf die richtige Spur gebracht. Du hast mir die Augen geöffnet, ohne es selbst zu ahnen, habe ich recht?“, fragte der Ghanaer in einer Mischung aus anerkennendem Spott und zynischer Härte.

    „Ich weiß gar nicht, wovon du überhaupt redest, Mamadou! Verdammt, was ist bloß mit dir los?“, wollte Thomas wissen und fühle sich immer unruhiger und in die Enge getrieben.

    „Man hat mir gedroht, als ich klaren Tisch machen wollte und die Gefahr ist leider noch lange nicht beseitigt. Ich muss die Verantwortung für uns alle auf mich nehmen und es tut mir furchtbar Leid, aber vielleicht wird irgendjemand von uns das Ganze hier überleben und eines Tages die Wahrheit verkünden können.“, entgegnete der Ghanaer kalt und warf einen bedeutungsschwangeren Blick in die Runde.

    „Du sprichst in Rätseln! Was willst du jetzt tun?“, fragte Thomas besorgt.

    „Es gibt nur eine Lösung. Wir sind nirgendwo vor diesem Biest sicher, egal was wir mit ihm anstellen. Wer weiß, wie viele Fallen es noch in petto hat. Du kennst mich als einen ruhigen, besonnenen und gerechten Menschen. Doch der bin ich nicht mehr. Die letzten Stunden haben mich verändert, haben meine gesamte Lebensphilosophie über den Haufen geworfen.“, führte Mamadou großspurig aus.

    „Gerade deswegen solltest du besonnen und kooperativ agieren.“, warf Thomas mahnend ein und erkannte seinen sonst so vernünftigen Kollegen nicht mehr wieder.

    „Besonnenheit? Das ich nicht lache! Der sogenannte Killer weiß doch ganz genau, was ich jetzt tun werde, denn das habe ich mir inzwischen geschworen. Ich möchte dem ganzen Alptraum ein gewaltsames Ende setzen. Diplomatie ist sinnlos, es muss jetzt eine radikale Maßnahme getroffen werden“, verkündete Mamadou hart und entsicherte grob seine Waffe. Dabei klang der Afrikaner schon fast so fanatisch wie der gefesselte und geknebelte Gwang-jo, der demn Konflikt mit starrer Aufmerksamkeit verfolgte.

    Das metallische Klicken der Waffe ging allen Anwesenden durch Mark und Bein.

    Thomas stockte der Atem, er konnte kaum fassen, wie weit sich sein Kollege gewandelt hatte und dass nun scheinbar eine Art Exekution bevorzustehen drohte. Würde sich das gesamte Blatt nun wenden? Waren sie an dem entscheidenden Wendepunkt angekommen?

    „Du willst den Killer doch jetzt nicht etwa umbringen?“, hakte Thomas entgeistert nach.

    „Jedem das seine. Unverdient wäre es sicherlich nicht. Ich habe als Polizist gelernt, dass jedes Menschenleben einen unersetzbaren Wert hat und dass man alles dafür tun muss, um den Tod eines Menschen zu vermeiden, egal wie schlimm diese Person auch sein mag. Damit ist es jetzt vorbei. Diese Person muss sterben, bevor sie noch mehr Unheil anrichten kann. Mir ist es inzwischen völlig egal, ob ich vom Dienst suspendiert werde oder als Mörder ins Gefängnis muss, es geht mir nur noch um das nackte Überleben und da gibt es keine Grundsätze mehr. Die Schonzeit ist vorbei, die Zeit der Vergeltung ist gekommen.“, entgegnete der Afrikaner ohne den Hauch eines Zweifels oder Gewissenbissens. Er schien sich seiner Sache völlig sicher zu sein. Gerade diese verbohrte Überzeugung stufte Thomas als ungemein gefährlich ein. Er befürchtete, dass die Sache einen schlimmen Haken haben könnte. Doch er sah zunächst keine offensichtliche Falle. Mit einem nervösen Blick auf seine Armbanduhr bemerkte der Schotte zudem dass der mögliche nächste Todeszeitpunkt unmittelbar bevorstand und sich alle Anwesenden auf engem Raum in unmittelbarer Gefahr befanden. Ein vorschnelles handeln des Ghanaers hätte eine Kettenreaktion auslösen können.

    „Du sprichst wie ein Orakel. Höre mit diesen Paraphrasen und Metaphern auf, sage uns endlich, was du weißt!“, schrie jetzt auch Abdullah Gadua dem afrikanischen Polizisten entgegen und Speichel sprühte dabei von seinen Lippen.

    Marilou sah ihren Ehepartner dabei fast mitleidig an, senkte kurz den Kopf und schien über die richtige Formulierung ihrer nächsten Worte nachzudenken, die sie jedoch vorerst nicht aussprach und eher passiv blieb.

    Die um Thomas herum stehenden Anwesenden wirkten allesamt enorm angespannt und der wilde Schotte konnte dadurch mit einigen kurzen Seitenblicken auch nicht darauf schließen, wer der Täter sein könnte, der gerade vermutlich die aufgeregteste Person in diesem Raum war.

    Mamadou hatte sich scheinbar gerade zu einer Aussage durchgerungen, als Björn Ansgar Lykström plötzlich überreagierte. Er war in den letzten Augenblicken überhaupt nicht mehr beachtet worden, hatte aber trotz der Extremsituation an seinem ursprünglichen Plan festhalten wollen. Mit der Kuckucksuhr wollte er so schnell wie möglich aus der Bibliothek fliehen und glaubte völlig unbeobachtet zu sein, doch er unterschätzte die geschulten Reflexe des ghanaischen Polizisten mit der Waffe.

    Björn Ansgar Lykström hatte rasch zum Sprint angesetzt und drückte sich hektisch zwischen der leicht offen stehenden Türspalte hindurch in den Speiseraum, während Mamadou Kharissimi herumwirbelte und plötzlich ohne Vorwarnung abdrückte, noch bevor der unter Strom stehende Schwede die Bibliothek tatsächlich verlassen konnte.

    Mit einem infernalischen Knall löste sich ein Schuss aus seiner Waffe und dieser verfehlte sein ungewöhnliches Ziel in der Tat nicht.

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