• Kapitel 100

     

    Kapitel 100: Samstag, 17 Uhr 11 Bibliothek


    Thomas hatte sich noch im letzten Moment zur Seite gedreht, sodass der Aufprall der anderen Person auf seinen Körper nicht allzu heftig war. Sie landete nun seitwärts auf seinem Rücken und rollte sich rasch davon herunter.

    Der energische Polizist befürchtete einen schnellen Angriff und stemmte sich mit den Armen vom Boden ab und übertrug diese Kraft in seine Füße zu einem mächtigen Hechtsprung, der ihn aus der unmittelbaren Gefahrenzone katapultierte. Dabei hatte er jedoch weniger auf seine Umgebung geachtet und krachte mit voller Wucht gegen eine Ritterrüstung, die scheppernd über ihm zusammenbrach und ihn schmerzhaft unter sich begrub.

    Thomas schloss die Augen, riss abwehrend die Arme hoch und versuchte den infernalischen Lärm weitestgehend zu ignorieren. Mit seinen Füßen befreite er sich durch grobe Tritte von der Rüstung und hechtete wieder in die Mitte des Zwischenganges. Aus den Augenwinkeln heraus sah er seinen vermeintlichen Gegner, der sich seinerseits mit einem Sprung in die Bibliothek von Thomas entfernt hatte und abwehrend, in halb kniender, halb geduckter Position auf eine mögliche Attacke lauerte.

    Der Schotte jedoch stoppte seinen Schritt und fuhr herum. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er sein Gegenüber zu erkennen, doch die Bibliothek lag in fast undurchsichtiger Schwärze vor ihm, da sowohl die meisten Kerzen, als auch das Kaminfeuer ausgegangen waren, während sich eine fast tiefschwarze und unheilvolle Nacht auf diese Insel gelegt zu haben schien.

    Thomas dachte daran, dass es im Frühherbst, den sie gerade durchlebten, eigentlich nicht so extrem früh dunkel wurde, selbst nicht in den nördlichsten Ausläufern Schottlands und dachte an die letzten Ausläufer des Sturmes, von denen der von Mamadou kontaktierte Taylor Relliews in seiner Nachricht berichtet hatte. Tatsächlich war der pfeifende Wind aus der Eingangshalle wieder deutlicher zu vernehmen und auch ein immer wiederkehrendes Grollen war dem schottischen Polizisten aufgefallen.

    Nervös atmete Thomas durch und versuchte seinen Puls wieder in einen einigermaßen schmerzfreien Bereich zu bekommen. Er harrte kurz aus und fixierte die Schemen in der Dunkelheit, in der Hoffnung durch diese Konturen sein Gegenüber zu erkennen, was ihm jedoch nicht gelang. Schließlich wischte sich der Schotte den Schweiß von der Stirn und machte den ersten Schritt. Behutsam trat er nach vorne und beobachtete die unidentifizierbare Person dabei genauer. Nach wenigen Schritten schien auch sie nervös zu werden und richtete sich langsam auf.

    Plötzlich legte sich eine kalte Hand auf Thomas Schulter und dieser fuhr panisch herum und riss dabei instinktiv seinen rechten Arm zum Schlag hoch, doch seine Attacke wurde bereits im Ansatz geblockt und machte seine Deckung dadurch völlig zunichte. Thomas Puls lief wieder auf Hochtouren und er machte große Augen, als er seine brasilianische Partnerin erkannte, die ihn entnervt, aber eindringlich anblickte.

    „Pass genau auf, was du da tust!“, warnte sie ihren Partner, der grimmig nickte und sich abwenden wollte, doch die stoische Schönheit riss ihn erneut energisch herum und blickte ihm tief in die Augen.

    Dieser Blick sagte Thomas mehr als tausend Worte, denn neben einer grimmigen Entschlossenheit, flackerte in dem herrischen Blick der Brasilianerin auch so etwas wie Angst vor einem Duell, welches Thomas letztes sein könnte.

    Er nickte ihr beruhigend zu und wandte sich wieder herum. Die andere Person war nun ihrerseits einige Schritte nähergekommen und der flackernde Kerzenschein aus der Eingangshalle hatte die Person immerhin bis zu ihrer Taille aus dem Dunkeln gerissen.

    Thomas fühlte sich an die obligatorischen Western erinnert, die er als Kind ebenso gern verfolgt hatte wie das asiatische Pendant dazu, die Eastern. Die beiden Kontrahenten standen sich in diesem endlos wirkenden Gang gegenüber und die Spannung in der Atmosphäre war förmlich greifbar. Doch im Gegensatz zu den Filmen, in denen die Protagonisten immer souverän, selbstsicher und gar lässig wirkten, hatte Thomas große Mühe ein Schlottern in seinen Knien zu vermeiden und das drückende Gefühl in seinem Magen zu ignorieren.

    Auch sein Gegenüber verharrte noch kurz, doch dann gab sich der mysteriöse Unbekannte einen Ruck und trat wie in Zeitlupe den entscheidenden Tritt nach vorne. Thomas stockte der Atem, als sich das flackernde Kerzenlicht langsam über den Oberkörper und Hals bis zur unteren Gesichtspartie schob. Die Augen seines Gegenübers leuchteten geheimnisvoll im Widerschein der Kerze und hatten fast etwas Teuflisches an sich. Die Person verharrte erneut und genoss mit einem zaghaften Lächeln ihren dramatischen Auftritt, bevor sie abwehrend die Arme hob und tief durchatmete.

    „Mein Gott, ich habe mich ganz schön erschrocken, lieber Thomas. Ich hatte schon befürchtet, man wollte mich umbringen.“, meinte Marilou Gauthier und lachte dabei unecht.

    Thomas schwitzte am ganzen Körper und musste diese Überraschung und die nervzehrenden letzten Momente erst einmal verdauen. Widerspenstig hämmerte der Herzschlag in seinem Kopf und schien von seiner Schädeldecke schmerzhaft widerzuhallen. Entnervt verzog Thomas das Gesicht und massierte seine Schläfen.

    „Das haben wir von dir auch gedacht, Marilou. Und an unseren Gedanken hat sich seitdem auch nicht viel geändert.“, gab Elaine Maria da Silva anstelle ihres Partners zurück und die beiden Frauen tauschten einen kurzen, hasserfüllten Blick aus. Überheblich schnaufend wandte sich die Brasilianerin ab und lachte verächtlich.

    „Sie kamen ja in einem Tempo um die Ecke gestürzt! Was war da los?“, wollte Thomas wissen und versuchte die prekäre Situation ein wenig zu entspannen, indem er Marilou bewusst siezte und alle Anwesenden von unwichtigen Dingen ablenken wollte, um sich auf den eigentlichen Grund des Zusammenpralls zu konzentrieren.

    „Es ist etwas Schreckliches geschehen. Gwang-jo hatte sich ja nach der Entdeckung des toten Kochs sehr eilig verzogen und mein Mann und ich haben versucht ihn unauffällig zu verfolgen. Er ist erst in seinem Zimmer gewesen, rannte danach überstürzt nach hier unten und wollte offensichtlich durch das zerstörte Fenster fliehen.“, berichtete die Kanadierin, die mit einem Mal wieder sehr ruhig und besonnen wirkte und Thomas tief in die Augen sah.

    „Das kann noch nicht alles gewesen sein. Wir haben Gwang-jo von oben aus dem Fenster sehen können und er hatte eine blutbefleckte Katana bei sich.“, stammelte Thomas, der unter dem stechenden Blick seiner Gesprächspartnerin zunehmend nervöser wurde. Diese runzelte nachdenklich die Stirn und blickte Thomas lauernd an.

    „Tatsächlich? Aber das Zimmer des Kochs war doch völlig abgedunkelt und führt zudem zur anderen Seite des Schlosses heraus.“, bemerkte die Kanadierin kritisch und Thomas biss sich verärgert auf die Lippen. Er hatte sich nervös machen lassen und leichtfertig verplappert.

    „Nein, nein, da liegt wohl ein Missverständnis vor. Nun ja, ich war noch kurz in meinem eigenen Zimmer, habe einen Schluck Wasser getrunken, da habe ich es halt zufällig gesehen.“, redete der Schotte sich nach kurzer Bedenkpause heraus.

    Die Kanadierin nickte langsam und versuchte verständnisvoll zu lächeln, was ihr jedoch fürchterlich misslang. Sie glaubte Thomas offensichtlich kein einziges Wort.

    „Das ist doch auch völlig irrelevant, wir müssen uns schließlich nicht rechtfertigen. Was ist also danach passiert?“, fragte Elaine Maria da Silva ungehalten und versuchte ihrem Partner durch mehr Entschlossenheit ein wenig zur Hilfe zu kommen.

    „In einer Situation wie dieser, müssen wir uns alle voreinander rechtfertigen, denn man kann niemandem mehr trauen und alle lügen sich an oder stellen waghalsige Verschwörungstheorien auf.“, konterte Marilou grimmig und ballte dabei ihre Fäuste.

    „Die natürlich nur dann waghalsig sind, wenn sie dich selbst betreffen.“, gab Elaine Maria da Silva spöttisch zurück.

    „Das musst du mieses Flittchen gerade sagen. Du lässt dich mit jedem ein, um geschützt und geachtet zu werden. Ich frage mich, ob du überhaupt noch ein einziges Quäntchen Moral besitzt.“, entgegnete Marilou aggressiv und versteifte drohend in ihrer Haltung.

    „Ich habe viel Spaß in meinem Leben. Wage es ja nicht, mich ein Flittchen zu nennen. Meine Gefühle für Thomas sind absolut aufrichtig und ohne jeglichen Hintergedanken. Du redest nur so, weil es in deiner eigenen Ehe scheinbar alles Andere als gut läuft und dein Mann anderen Frauen hinterherrennt, weil du ihn nicht zufrieden stellst! Außerdem bin ich wenigstens nicht psychisch gestört.“, meinte die Brasilianerin mit gepresster Stimme, während ihre Kontrahentin diesen Kommentar zunächst nur mit einem bösen und abwertenden Lachen entgegnete.

    „Wenn ich so deine Romane lese oder deine Verhaltensweise betrachte, muss ich mich wohl doch eher fragen, ob du nicht selbst ein wenig geistesgestört bist, möglicherweise sogar noch sehr viel mehr als ich.“, erwiderte Marilou nach einiger Zeit.

    „Hört sofort damit auf! Diese Sticheleien bringen uns absolut nicht weiter! Ich will jetzt wissen, was genau eben passiert ist!“, herrschte Thomas die beiden weiblichen Streithähne an.

    Die beiden Frauen schenkten sich noch einen bitterbösen Blick, bevor sich Marilou wieder dem ungeduldigen Thomas zuwandte und ihre Ausführungen vollendete.

    „Gwang-jo hat noch einmal kurz gestoppt, bevor er fliehen wollte und ist in das Arbeitszimmer des Direktors gerannt. Er hat dort fieberhaft nach einer Waffe gesucht und schließlich einfach das erstbeste Katana von der Wand gerissen. Damit wollte er flüchten, aber wir haben ihn auf dem Rückweg gestellt.“, berichtete Marilou ohne einen einzigen Hauch von Hektik oder Angst.

    „Das war sehr mutig von euch.“, bemerkte Thomas nicht ohne Anerkennung und hatte schön ein ungutes Gefühl in der Magengegend, als er daran dachte, dass Abdullah nicht bei seiner Frau war und ihm möglicherweise etwas zugestoßen sein könnte. Allerdings schien Marilou auch nicht wirklich bewegt oder traurig zu sein. Sie wirkte unheimlich gefasst und sicher, fast schon unnatürlich kalt und abgebrüht. Irgendetwas stimmte mit der Kanadierin einfach nicht. Der schottische Polizist konnte sich kaum mehr halten vor Anspannung und wollte sich endlich Klarheit verschaffen.

    „Es war allerdings auch töricht, wie ich im Nachhinein einsehen muss.“, gab Marilou leise zurück und blickte grimmig zu Boden. Sie ballte dabei die Fäuste und schien weniger über den cholerischen Koreaner, als über sich selbst verärgert zu sein.

    „Was ist denn passiert?“, hakte Thomas ungeduldig nach.

    „Gwang-jo wollte erst einfach durch die Mitte rennen und entkommen. Abdullah wollte ihn von der Seite angreifen und da hat Gwang-jo sich herumgeworfen und ihn brutal angegriffen. Er ist zu einer wahren Furie geworden, hat Abdullah an der Schulter und im unteren Bauchbereich verletzt und ich sah mich gezwungen einzugreifen.“, berichtete die Kanadierin weiter und Elaine Maria da Silva verzog verächtlich das Gesicht.

    „Natürlich, jetzt wird das Ganze zu einer heldenhaften Tat hochstilisiert.“, bemerkte die Brasilianerin, die sich einen hämischen Kommentar gegenüber der von ihr verhassten Marilou nicht verkneifen konnte.

    Die Kanadierin blickte die Brasilianerin wieder ein Mal kalt und böse an und in ihren Augen funkelte ein gehässiges Versprechen, das Thomas schaudern ließ. Er wollte irgendetwas erwähnen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Er fühlte sich zwischen den beiden rivalisierenden Frauen irgendwie hilflos und verloren. Nach wenigen Sekunden des drückenden Schweigens wandte Marilou ihren Blick wieder in aller Ruhe und Intensität dem Schotten zu.

    „Ich habe mich in seinen Rücken gestürzt und ihn mit einem Tritt von den Beinen geholt. Die Waffe hielt er dabei jedoch krampfhaft fest. Ich habe versucht sie ihm aus der Hand zu treten, doch der Kerl hat sich aufgerappelt, ist einfach in mich hineingerannt und hat mich grob zu Boden gestoßen. Er war wie von Sinnen, schrie wirres Zeug zu mir und wollte mich mit dem Katana offensichtlich erstechen. Ich habe zwei Attacken mit den Füßen abgewehrt, dann hat er sich herumgeworfen, weil er scheinbar keine Zeit mehr verlieren wollte und realisieren musste, dass ich ihm als Gegnerin nicht unterlegen war.“, führte Marilou ihren Bericht nicht ohne Stolz fort.

    „Dann ist Gwang-jo durch das offene Fenster geflohen, nehme ich an?“, konstruierte Thomas das mögliche Ende des Vorfalls.

    „Genauso war es. Er ist wohl in Richtung des Waldes geflohen. Mir ist völlig schleierhaft, was er dort will. Vielleicht hält er dort weitere Waffen versteckt oder sucht diesen komischen Wolf auf.“, mutmaßte die Kanadierin voller grimmiger Energie.

    „Das halte ich eher für unwahrscheinlich. Ich denke, ich weiß schon, wer wirklich hinter der Mordserie steckt. Es ist gewiss nicht der Koreaner.“, warf Elaine Maria da Silva erneut provozierend ein und schenkte der Kanadierin dabei einen eindeutigen Blick.

    Thomas warf ihr einen wütenden Blick zu. Es gefiel ihm gar nicht, dass die hitzige Brasilianerin einen weiteren Konflikt vom Zaun brechen wollte, um noch mehr Unruhe in das Schloss bringen. Der schottische Polizist wurde mit einem Mal sehr nachdenklich. Konnte es möglicherweise sein, dass Elaine Maria da Silva jetzt schon fast krankhaft den Verdacht auf die undurchschaubare Kanadierin lenken wollte? Steckte dahinter ein tieferer Sinn oder war es einfach nur ihre Intuition? Oder lag dies nur an den Spannungen zwischen den beiden Damen?

    Thomas spürte, dass die gesamte Situation noch wie die Ruhe vor einem grausamen, finalen Sturm war, der ebenso wie die erbarmungslose Natur über Nacht über sie hineinbrechen würde.

    „Was ist jetzt mit ihrem Gatten? Er ist doch verletzt. Wo befindet er sich jetzt?“, wollte Thomas von Marilou wissen, die zunächst gar nicht darauf reagierte und stattdessen wieder der Brasilianerin einen starren Blick zuwarf. Thomas wollte seine Frage schon noch einmal lauter wiederholen, als die Kanadierin sich endlich wieder ihm zuwandte und plötzlich überrascht und verwirrt wirkte.

    „Mein Gatte? Ja, der befindet sich noch im Speisesaal. Er ist wohl nicht lebensbedrohlich verletzt. Hören Sie, Thomas Jason Smith, wir müssen alles daran setzen diesen Verrückten zu stellen und ihn zurück ins Schloss zu bringen, denn er ist uns allen Rechenschaft schuldig. Sie müssen hinaus, um ihn zu suchen.“, forderte Marilou den jungen Schotten eindringlich auf. Dieser fühlte sich ein wenig bedrängt. Die Kanadierin hatte den Zustand ihres Mannes einfach in einem simplen Satz abgehandelt, als ob ihr wenig an ihm läge und stattdessen sehr herrisch auf Thomas eingeredet. Er wusste zunächst gar nicht, wie er darauf reagieren sollte. Sein gesamter Elan, seine komplette Souveränität war im Angesicht der Kanadierin völlig abhanden gekommen.

    Thomas versuchte sich innerlich zu sammeln und erneut half ihm sein unzerstörbarer Glaube in dieser schwierigen Situation weiter. Er musste sich an ein Bibelzitat erinnern, welches er in seiner Jugend einst als Konfirmationsspruch auserkoren hatte. „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ So hatte dieses weise Zitat aus dem zweiten Buch Timotheus gelautet. Deutlicher als je zuvor wurde Thomas der gewichtige Inhalt dieses Satzes nun bewusst. Damals hatte er sich keine großen Gedanken darum gemacht, war immer unbekümmert gewesen und hatte der Religion auch keine große Bedeutung beigemessen. Im Nachhinein musste er sich eingestehen, dass er die Konfirmation nur gemacht hatte, weil seine Eltern darauf bestanden hatten und vor allem auch wegen der vielen Geschenke. Zudem war sein großer Schwarm damals auch in der Konfirmationsgruppe gewesen. Der Gedanke an diese unbeschwerte Zeit der Jugend gab Thomas neue Hoffnung, wenngleich er sich jetzt doch ein wenig alt und verloren fühlte. Er bedauerte zutiefst, dass sich die Räder der Zeit nicht zurückdrehen ließen. Er wünschte sich, dass es zu diesem fatalen Abend in der Kneipe nie gekommen wäre, dem Abend, an dem sein Freund wegen seiner Waghalsigkeit mit dem Leben bezahlen musste. Er hatte für seine Risikobereitschaft einen hohen Preis zahlen müssen, denn durch seine Anstiftung und seinen indirekten Einfluss war eine der wenigen Personen brutal gestorben, die er wirklich je als einen Freund bezeichnen konnte. Der Schotte hatte gesündigt, einen enormen Fehler begannen, mit dem er nun für immer leben musste. Er konnte daran nichts mehr ändern, aber zumindest wollte er eine Moral von der Geschichte gelernt haben und seinem toten Freund somit auch Achtung und Würdigung schenken. Der junge Schotte hatte ein Leben verschuldet, nun wollte er leben reden, damit der Tod seines Freundes damals nicht völlig wertlos gewesen war. Thomas wollte in Zeiten wie diesen nicht wieder die Menschen um sich herum verlieren. Vielleicht arbeitete er so hartnäckig an dem Serienmord, weil er in Wirklichkeit seine Unentschlossenheit und Schuld von damals ausmerzen wollte. Nie wieder wollte er als Verlierer dastehen. Ein Leben lang war er unterschätzt worden, hatte Schicksalsschläge erleiden müssen und seine Karriere fast verspielt. Einen weiteren Rückschlag würde er nicht verkraften können. In diesem Sinne fand er sich Marilou seltsam verbunden. Gleichzeitig gab ihm dieser Wille neuen Antrieb und seine Gedanken wurden allmählich klarer. Sogar ein leichtes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, woraufhin Marilou ihn völlig verduzt ansah, als ob sie noch nie einen Menschen aufrecht lächeln gesehen hätte.

    „Keine Angst. Wir werden dem Täter das Handwerk legen. Ich lasse mich nicht ins Bockshorn jagen und werde alles dafür tun das Leben meiner Mitmenschen und mir selbst zu retten.“, gab Thomas zurück, ohne auf die indirekte Frage wirklich Bezug zu nehmen.

    „Du solltest mich aber mit diesem falschen Biest definitiv nicht allein im Schloss zurücklassen, sonst bringt sie mich möglicherweise als Nächste um de Ecke.“, warf Elaine Maria da Silva in einer Mischung aus Wut und unterschwelliger Angst ein und griff nach der Schulter ihres Partners, der sich aus dem Griff wandte und zielstrebig an der verwunderten Marilou vorbei in die Bibliothek ging. Elaine Maria da Silva erstarrte, da ihre Worte ihren Vertrauten scheinbar gar nicht erreicht hatten. Sie fürchtete, dass der Schotte den folgenschweren Fehler begehen könnte auf die Worte der scheinheiligen Kanadierin hineinzufallen.

    Thomas spürte in seinem Rücken förmlich wie sich die beiden Frauen weiterhin anfeindeten, doch er schaltete seine Gedanken daran aus, durchquerte die Bibliothek und riss die Tür zum Speisesaal auf, die ihm daraufhin grob aus der Hand gerissen wurde.

    Wuchtig knallte die Tür gegen die Wand und Thomas zuckte erschrocken zusammen und wich instinktiv einen Schritt zurück. Sein Herz pochte wie wild und raubte ihm seine Konzentration, die durch einen Adrenalinschub ersetzt worden war.

    Die Angst des Schotten war jedoch unbegründet gewesen. Es war lediglich ein heftiger Windzug gewesen, der ihm die Tür praktisch aus den Händen gerissen hatte. Eine steife Brise wehte durch den Speisesaal und hatte inzwischen schon mehrere Tischdecken zu Boden gefegt, sowie die Glassplitter des zerstörten Fensters quer im Raum verteilt.

    Thomas hörte plötzlich aber ein verschrecktes Wimmern und blickte überrascht auf Abdullah, der mit zusammengekauerten Beinen und ängstlich geöffneten Augen hinter einem umgestürzten Stuhl hockte und Thomas auf erbärmliche Weise ansah.

    Der Schotte atmete tief durch, warf einen prüfenden Blick in die Dunkelheit außerhalb des Schlosses und eilte dann zu dem Verletzten, der offensichtlich auch unter Schock stand und viel langsamer reagierte, als gewöhnlich.

    Thomas bemerkte, wie Abdullah mit zitternder Hand krampfhaft eine klaffende Wunde an seinem Bauch verdeckte. Das gesamte, edle Hemd hatte sich in diesem Bereich bereits rot verfärbt. Thomas blickte Abdullah tief in die Augen, doch dieser schien durch ihn hindurchzusehen. Der besorgte Schotte griff vorsichtig nach dem Arm des Verletzten und versuchte diesen zur Seite zu drücken, als dieser plötzlich aus seiner Trance gerissen wurde und mit seiner anderen Hand brutal das Handgelenk des Schotten packte, ihn wütend ansah, dann aber durchatmete und den Griff lockerte.

    Der junge Polizist sah ihn erschrocken an, ging in die Knie und rieb sich sein schmerzendes Handgelenk. Mit leerem Blick nahm Abdullah dies zur Kenntnis, während Thomas erneut seinen Puls beruhigen musste, der in den letzten Stunden viel durchgemacht hatte.

    „Es tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun.“, bemerkte Abdullah lasch und ausdruckslos.

    „Wir sollten dich verarzten, bevor sich die Wunde entzündet.“, bemerkte Thomas, der nicht wusste, was er darauf erwidern sollte.

    „Erst solltest du dir diesen verdammten Koreaner schnappen. Der Rest läuft schon von allein.“, bemerkte Abdullah grimmig und mit einem Mal war die Leere aus seinem Blick verschwunden.

    Thomas wollte gerade etwas erwidern, um Abdullah zur Raison zu bringen, als er plötzlich ein triumphierendes, schauriges Heulen von draußen hörte. Thomas hielt inne und lauschte. Nach wenigen Sekunden wiederholte sich das Heulen, das von irgendwo hinter dem Schloss zu kommen schien. Langsam richtete sich der Schotte auf und näherte sich dem zerstörten Fenster. Im Türrahmen des Speisesaals bemerkte er nun auch flüchtig Elaine Maria da Silva und Marilou Gauthier, die ebenfalls wie erstarrt wirkten und kritisch lauschen zu schienen. Sie wirkten beide in diesen Momenten wie düstere Racheengel und Thomas fand, dass beide Damen in dieser Situation ihre Reize und ihren Charme komplett verloren zu haben schienen. Thomas kam sich mehr vor wie in einem depressiven Horrorstreifen, so unwirklich wirkte das Szenario auf ihn ein.

    Als ob die Natur diese Stimmung zufällig auch noch unterstreichen wollte, ertönte in diesem Moment ein tiefes Grollen, gefolgt von einem berstenden Krachen, als sich die Schleusen des Himmels zu öffnen schienen und eine wahre Sturmflut gen Erde sandten. Thomas musste sich eingestehen, dass er sich so die Apokalypse vorstellen würde und bekreuzigte sich eilig, als er an das Fenster trat und der Regen ihm ins Gesicht klatschte und auch seine Kleidung innerhalb weniger Sekunden komplett durchnässte.

    Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er krampfhaft etwas im hinteren Bereich des Schlosses zu erkennen, doch dies war plötzlich nicht mehr nötig. Mit einem Mal ertönte nämlich ein fast wahnsinniger Schrei der Angst vom hinteren Bereich des Schlosses aus, der erst von einem heftigen Donnern unterbrochen wurde.

    Wie elektrisiert versuchte Thomas nun etwas zu erkennen und sah einen dunklen Schatten, der panisch um die hintere Ecke des Schlosses herumlief, dabei ausrutschte und der Länge nach hinfiel. Eilig rappelte sich die Person auf und warf einen hektischen Blick über die Schuler, wo aus dem undurchdringlichen Dickicht ein gebücktes Wesen mit galoppierendem Schritt hinter dem Menschen herjagte.

    Thomas musste nicht lange überlegen, um zu wissen, wen er dort vor sich hatte. Elaine Maria da Silva, die langsam und unbemerkt zu ihm getreten war und ebenfalls schon völlig durchnässt war, sprach es allerdings auch noch aus, während sich Marilou von den beiden trennte und zu ihrem verletzten Gatten getreten war, jedoch nicht ohne vorher triumphierend lächelnd die Fäuste zu ballen und den Blick im Gehen noch auf das zerstörte Fenster zu richten.

    „Das ist Gwang-jo. Der Wolf ist hinter ihm her.“, bemerkte die Brasilianerin und ein Ton des gehässigen Triumphes schwang in ihrer Stimme mit.

    Thomas dachte kurz nach, was er nun tun sollte. Würde der Wolf es schaffen den Koreaner einzuholen und grausam zu zerreißen? Sollte er eingreifen und somit sein eigenes Leben für den unsympathischen Zeitgenossen riskieren? Hatte der Koreaner aus bestimmten Gründen mit einer Flucht reagiert und möglicherweise noch etwas Entscheidendes zu sagen?

    Es war die Ungewissheit und Neugier, die Thomas schließlich dazu veranlasste aus dem Fenster zu springen. Er wäre auf dem glitschigen Untergrund fast noch ausgerutscht, drückte dann eilig seine durchnässten und strähnigen Harre zur Seite, die ihm ins Gesicht hingen und sah leicht geduckt und mit zusammengekniffenen Augen dem Koreaner entgegen, der taumelnd näher kam und das Laufduell gegen die Bestie nicht zu gewinnen schien.

    Thomas sah die grenzenlose Panik auf dem Gesicht seines Gegenübers, schloss kurz die Augen und rannte dann selbst explosionsartig los. Elaine Maria da Silva schrie noch entsetzt und warnend seinen Namen, doch der schottische Polizist war längst gestartet und es gab keine Möglichkeit mehr zur Umkehr.

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