• Kapitel 101

     

     Kapitel 101: Samstag, 17 Uhr 29 Außengelände

     

    Wie ein Besessener rannte Thomas dem Koreaner entgegen. Der dichte Regen versperrte ihm manchmal die Sicht und legte sich wie ein Schleier über seine Augen, sodass er vermehrt blinzeln musste. Thomas lief mit großen, sprunghaften Schritten, um nicht zu oft mit dem tückischen Untergrund in Berührung zu kommen.

    Geduckt stürmte Thomas voran und als er kurz aufblickte, sah er den Koreaner bereits wenige Meter vor sich. Gwang-jo sah ihm in einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen entgegen, denn er musste bei dem irren Tempo wohl annehmen, dass Thomas ihn über den Haufen rennen würde. Doch dieser hatte eine viel waghalsigere Aktion vor.

    Thomas machte einen kurzen Bogen zur linken Seite, um dem Koreaner auszuweichen, der dadurch abgelenkt war, kurz die Übersicht verlor und durch eine unachtsame Bewegung sofort den Halt auf dem Standbein verlor und seitlich hinfiel. Dreck und Gras spritzten in sein Gesicht und der Aufprall schüttelte ihn durch. Sein Blick verfolgte die Aktion des Schotten, der seinerseits ebenfalls ins Rutschen gekommen war, die Bredouille jedoch mit einer Gewichtsverlagerung und kurzer Abbremsung ausglich.

    Der Schotte sah jetzt den heranrasenden Schatten, der nun unmittelbar auf ihn und nicht mehr auf den Koreaner zurannte. Thomas erkannte trotz der stürmischen Umstände und der großen Gefahr, dass der Wolf in seinem Lauf an der hinteren Flanke humpelte und altes Blut sein Fell verkrustet hatte. Offenbar war die Bestie vom Butler doch nicht ganz unbeträchtlich verletzt worden.

    Thomas hatte nicht mehr viel Zeit das Für und Wider seiner riskanten Aktion abzuwägen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und eine panische Stimme in seinem Kopf meldete sich wie eine Alarmsirene, dass er die falsche Wahl getroffen habe. Thomas schaltete alle Gedanken aus sprang aus dem Lauf mit geschlossenen Augen und krampfhaft geballten Fäusten vom Boden ab.

    Er hatte das unwahrscheinliche Glück dabei nicht wegzurutschen. Der Wolf schien plötzlich die Gefahr erkannt zu haben und wollte durch einen geschwinden Haken dem Tritt des Schotten ausweichen, doch auch die Bestie musste den gravierenden Naturbedingungen ihren Tribut zollen und rutschte hilflos mit den Hinterläufen weg und knickte im schlammigen Gras winselnd um.

    Das Ausweichmanöver des Wolfes war misslungen und Thomas traf die Bestie fast perfekt mit beiden Beinen voran an der Schnauze. Thomas spürte an seinen Füßen den harten Widerstand und wurde von der Kraft seines eigenen Angriffes in Rücklage gebracht und krümmte sich instinktiv zusammen.

    Dennoch konnte der mutige Schotte nicht verhindern, dass er brutal mit dem Rückgrat auf dem Boden aufkam und musste in diesen Momenten der Natur sogar dankbar dafür sein, dass der Untergrund so weich war und den Sturz somit noch leicht abfederte.

    Der Schotte hörte das klagende Winseln des Tieres, ein leichtes Knacken, bevor alles um ihn herum in ein zuckendes, grelles Licht getaucht war. Dem Blitzlicht folgte ein infernalisches Krachen, das Thomas die Sinne zu rauben schien. Er hatte die Übersicht inzwischen völlig verloren.

    Mit einem Schrei aus Angst und purem Überlebenswille rollte sich Thomas zur Seite, rappelte sich mit den Armen rudernd auf und prallte dabei mit einem kräftigen Körper zusammen, an dem er sich instinktiv festklammerte und diesen mit sich seitlich zu Boden riss.

    Thomas schlug panisch die Augen auf und sah, dass sein vermeintlicher Gegner direkt neben ihm lag. Überrascht blickte er in das bleiche Gesicht des Koreaners, dessen Blick ängstlich flackerte. Dann sackte der Choleriker seufzend und kraftlos in sich zusammen.

    Der Schotte aber verspürte keinen Bedarf zur Erholung. Seine Trägheit war dem Adrenalin gewichen und er rappelte sich rasch auf, um nach dem unheimlichen Wolf zu sehen.

    Zunächst sah er ihn nicht in dem strömenden Regen, bemerkte dann aber die graue, zuckende Masse zu seiner linken Seite. Das Tier hatte sich zusammengekrümmt und drückte winselnd seine Schnauze gegen den nassen Boden. Blut quoll in dünnen Bahnen daraus hervor und tränkte den Garten. Die Augen des Wolfes wirkten glasig und hatten ihren hellen, stechenden Glanz verloren.

    Thomas stand ein wenig verloren vor dem Tier. Er hatte es durch seinen Tritt offenbar tatsächlich kampfunfähig gemacht und unwahrscheinliches Glück gehabt. Seine Risikobereitschaft war belohnt worden und er hatte auch nur einen einzigen Versuch gehabt. Erleichtert bekreuzigte sich der Polizist und wandte den Blick von dem winselnden Tier ab, das ihn fast schon vorwurfsvoll anblickte und seine animalischen Züge verloren zu haben schien.

    Der junge Polizist atmete tief durch. Er war schon immer ein besonderer Tierliebhaber gewesen. Als Kind hatte er jeden ihm bekannten Zoo besichtigt und seine Eltern hatten mehrere Hunde als Haustiere gehabt. An eines der Tiere, einem grauen, buschigen Hund namens „Cherry“, fühlte er sich jetzt beim Anblick der Bestie erinnert. Es war damals sein Lieblingstier gewesen. Der Hund war eines Tages von einem Auto angefahren worden und sein Vater hatte ihm den Gnadenschuss geben müsse. Dieses Bild hatte sich unwiderruflich in sein Gedächtnis gebrannt und es war sein erster Kontakt mit dem Tod gewesen.

    Auch jetzt fühlte sich Thomas wie gelähmt, wollte sich dem Wolf nicht nähern und wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Er brachte es trotz seiner Entschlossenheit von vor wenigen Minuten, die nun um Lichtjahre entfernt zu sein schien, nicht über das Herz das Tier entgültig zu töten, mochte es noch so grausam herangezüchtet worden zu sein. Es war nicht der Wolf, der so grausam war, sondern der Mensch, der ihn zur Tötungsmaschine gemacht hatte, die er nun war. Der Schotte hatte plötzlich gar ein schlechtes Gewissen und eine hämische Stimme in seinem Kopf titulierte ihn als Mörder.

    „Was ist los? Gib dieser dreckigen Bestie den Rest!“, herrschte ihn Gwang-jo heiser und mit zittriger Stimme an, der sein Zögern bemerkt zu haben schien und aus seiner Bewusstlosigkeit wieder rasch erwacht war.

    „Das ist nicht nötig. Ich werde das für ihn übernehmen.“, ertönte plötzlich eine kalte Stimme hinter den beiden.

    Überrascht fuhr Thomas herum und blickte in das harte und entschlossene Gesicht seiner brasilianischen Partnerin, die ein altertümliches Assassinenschwert in ihren Händen hielt. Thomas erinnerte sich dunkel daran, dass er diese Waffe im Arbeitszimmer des toten Direktors gefunden hatte. Es machte dem Schotten plötzlich Angst, dass nach Gwang-jo nun auch die Brasilianerin leicht an eine Waffe gekommen war. Thomas hatte mit einem Mal die düstere Vermutung, dass auch die restlichen verbliebenen Bewohner des Schlosses sich inzwischen während seiner Abwesenheit bewaffnet hatten und ihn nun kaltblütig um die Ecke bringen könnten oder sich gegenseitig bedrohen würden.

    Mit einem Schaudern trat er zurück, als Elaine Maria da Silva zwischen ihm und dem am Boden liegenden Koreaner trat und ohne jegliche Gefühlsregung und mit blitzenden Augen dramatisch ihr Schwert erhob. Der klagende Blick des Wolfes richtete sich jedoch nicht auf die Brasilianerin, sondern auf Thomas, der dies nicht ertragen konnte und sich hektisch abwandte.

    Mit einem ekelhaften Geräusch wurde das winselnde Heulen des Wolfes grob unterbrochen. Ein gewaltiger Donnerhall übertönte für einige Sekunden gnädigerweise die übrigen Geräusche.

    Thomas atmete tief durch und verschloss die Augen. Er versuchte das Bild des vorwurfsvoll blickenden Wolfes aus seinem Kopf zu verbannen, doch es kehrte immer wieder zurück. Thomas schalt sich einen Narren, dass er so emotional und unangebracht reagierte und biss sich vor Wut auf die Zunge, was die Stimmen in ihm mit einem keifenden Lachen kommentierten, das den Polizisten fast wahnsinnig werden ließ. War er vielleicht doch viel zu weich für den Beruf des Polizisten? Warum hatte die Brasilianerin so klar und entschlossen handeln können, während ihm die Nerven versagt hatten? War er vielleicht nur ein guter Analytiker und Theoretiker, in der praktischen Realität aber ein hoofnungsloser Versager?

    Seine Partnerin trat langsam zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Misstrauisch und mit einem trockenen Gefühl im Mund blickte Thomas auf das lange Schwert, von dessen reflektierender Klinge langsam das warme Blut herunterquoll. Thomas schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als sich Gwang-jo nach einigen Momenten geräuschvoll aufrappelte.

    „Moment! Warum wolltest du fliehen?“, herrschte Elaine Maria da Silva den Koreaner an und hatte sich blitzschnell von dem stillen Schotten gelöst.

    Mit einer geübten Bewegung, die selbst Thomas erschrak, setzte sie die Klinge ihrer Waffe rasch vor die Kehle des Koreaners, der diese mit aufgerissenen Augen anstarrte und nicht mehr zu atmen wagte. Der Regen vermischte sich auf seiner Stirn mit ausbrechendem Schweiß. Nur wenige Zentimeter trennten ihn von der scharfen Klinge und er räusperte sich verschreckt, während die Brasilianerin ihn hart ansah und nicht nachzugeben schien.

    „Nimm das Ding sofort weg, dann können wir über alles reden.“, bat Gwang-jo sie leise, aber hektisch und starrte unentwegt auf die Waffe.

    Elaine Maria da Silva lächelte böse und blickte den Koreaner hasserfüllt an, doch dann ließ sie die Waffe wie in Zeitlupe sinken. Gwang-jo atmete sichtbar auf und zitterte dennoch wie Espenlaub am ganzen Leib. Ein grollender Blitz erhellte die makabre Szenerie und Thomas musste automatisch an ein Hinrichtungskommando denken, bei dem er der Richter, Elaine der Henker und Gwang-jo das Opfer war. So abartig dieser Gedanke auch war, er lenkte Thomas immerhin von der Hinrichtung des Wolfes ein wenig ab. Auch die unerträglichen Stimmen, von denen Thomas nicht einmal wusste, woher sie kamen und wie lange sie ihn schon begleiteten, waren kurzfristig verstummt. Er war auf die Erklärungen des undurchschaubaren Cholerikers mehr als gespannt.

    „Jetzt musst du deinen Teil des Paktes erfüllen.“, forderte Elaine Maria da Silva ihn kalt auf und Gwang-jo blickte sie entsetzt an, als ob er mit so einer direkten Aufforderung von Seiten einer Frau nicht gerechnet hätte.

    „Lass uns das doch im Schloss besprechen. Ich friere mich zu Tode, ich fühle mich einfach nur erbärmlich.“, bettelte er sie fast weinend an, doch die Brasilianerin lachte ihn für diese hilflose Antwort nur grimmig und hämisch aus.

    „Das hättest du dir in der Tat vor deiner feigen Flucht überlegen können. Du wolltest doch scheinbar freiwillig hinaus in die Kälte und in die Klauen dieser Bestie fallen.“, provozierte die Brasilianerin ihn.

    „Ich habe nicht damit gerechnet, dass dieses Biest noch lebt. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, ich war völlig durcheinander, verdammt!“, stotterte der Koreaner sich eine halbherzige Erklärung zusammen.

    „Keine falschen Tricks, Gwang-jo. Wir gehen jetzt zurück zu dem Fenster im Speisesaal und ab dort wirst du uns nicht länger hinhalten. Solltest du versuchen zu fliehen, dann bist ein toter Mann.“, griff Thomas nun ein und hatte seine Selbstbeherrschung und nötige Kälte zurückgewonnen.

    Der Schotte bewegte sich ein wenig von dem Koreaner und der Brasilianerin weg und mied bewusst de Anblick des toten Tieres. Er fixierte stattdessen krampfhaft seine Zehenspitzen, sah dabei aber das blutdurchtränkte Gras, dessen Anblick in ihm ein Gefühl der Übelkeit erzeugte. Rasch lief er weiter voran bis er sein eigentliches Zielobjekt erreicht hatte. Es handelte sich um das Katana, das Gwang-jo entwendet und im Eifer seiner hastigen Flucht hatte fallen lassen. Prüfend wog der Schotte die Waffe in seinen Händen und bekam eine Gänsehaut. Er musste sich eingestehen, dass er mit dieser Art von Waffen fast gar keine Erfahrungen gemacht hatte, abgesehen von dem halben Jahr Fechten, das er in seiner jungen Kindheit absolviert hatte. Dennoch fühlte er sich mit dieser Waffe ein wenig sicherer und kehrte fast schon erleichtert zu den beiden Anderen zurück.

    Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg zum Schloss, wobei Thomas und Elaine den Flüchtling systematisch einengten, damit er nicht zu viele Freiräume hatte oder auf dumme Gedanken kommen könnte. Der hängende Kopf des Rebellen war jedoch ein wohl untrügliches Zeichen dafür, dass er sich mittlerweile völlig aufgegeben hatte und seinem Schicksal widerstandslos fügte. Elaine Maria da Silva verfolgte jede seiner Bewegungen dennoch mit einer steinernen und grimmigen Grimasse, während Thomas nur eine gewisse Leere in seinem Kopf spürte und tief die frische Luft einsog, um seinen Gedankenapparat wieder auf Hochtouren zu bringen. Er war besonders auf die Erläuterungen des Koreaners gespannt.

    Als die Dreiergruppe das zerstörte Fenster erreichte, stand dort Abdullah im Rahmen, der noch relativ wacklig auf den Beinen wirkte, den Koreaner aber mit unbändigem Hass fixierte.

    „Da habt ihr die miese Ratte also endlich eingefangen.“, sagte er bitterböse und spuckte dem Koreaner ins Gesicht, der nicht einmal seinen Kopf hob und die Demütigung einfach hinnahm. Sein Wille schien entgültig gebrochen zu sein.

    „Die dreckige Ratte hat uns jede Menge zu erzählen.“, stichelte Elaine Maria da Silva und gab dem Koreaner mit dem Griff ihres Schwertes einen groben Stoß in den Rücken.

    Dieser zog sich mit mechanischen und plumpen Bewegungen an der Außenseite hoch und hievte dann mit ein wenig Schwung seinen Körper auf die andere Seite in den Speisesaal.

    Dort konnte sich Abdullah vor Wut nicht mehr halten und stürzte sich grob auf den Koreaner, streckte ihn mit einem gewaltigen Schlag gegen die Schläfe nieder und wollte brutal auf sein Opfer eintreten, das sich nicht einmal wehrte oder auch nur instinktiv die Arme hochgerissen hatte. Abdullah spuckte dem Koreaner voller Verachtung auf den Kopf.

    Thomas schwang sich rasch ebenfalls durch den Fensterrahmen und sprang sofort zwischen die beiden Streithähne. Er wollt unter keinen Umständen riskieren, dass Gwang-jo, kurz bevor er auspacken würde, noch in die Bewusstlosigkeit oder gar in den Tod getrieben würde. Dementsprechend grob stieß er Abdullah zurück, der wankend auf einen Stuhl fiel, sich krampfhaft an dessen Lehne klammerte, um nicht entgültig zu fallen und sein Gegenüber verdattert anstarrte.

    „Vergeltung muss sein! Das solltest auch du als ehemaliger Mönch wissen. Auge um Auge, Zahn um Zahn, so steht es schon in eurer Bibel.“, bemerkte Abdullah.

    „Dieses Zitat ist völlig aus dem Zusammenhang gerissen und zeigt auch, wie wenig Ahnung du von unserer Religion hast.“, entgegnete Thomas besserwisserisch, während sich Elaine Maria da Silva inzwischen ebenfalls in den Speisesaal zurückhievte. Bei dieser Aktion wurde ihr Kleid an einer spitzen Scherbe leicht aufgerissen und entblößte ihre hellen und muskulösen Schenkel. Thomas hatte dafür aber keinen Blick mehr übrig.

    „Wo ist deine Frau hingegangen?“, wollte Elaine Maria da Silva wissen.

    „Was schert dich das? Ich könnte genauso gut fragen, wo Björn Ansgar Lykström abgeblieben ist. Ich habe ihn schon seit einer guten Stunde nicht mehr gesehen, während meine Gattin bis vor fünf Minuten noch bei mir war.“, gab Abdullah mürrisch zurück und schien seine Frau erneut verteidigen zu wollen.

    „Für solche Diskussionen ist jetzt wirklich keine Zeit.“, mahnte Thomas eindringlich und half mit besorgter Miene dem ächzenden Koreaner auf, der den Schotten mit tränenden Augen und blassem Gesicht anblickte. Der tropfende Speichel Abdullahs hing wie überschüssiges Gel in seinen dunklen Haaren. Fast zufällig glitt sein Blick auf eine Packung Zigaretten, die auf der äußersten Kante des ersten Tisches lag.

    Thomas erkannte als ehemaliger Raucher diese Geste sofort. Der Koreaner brauchte nach all dem Stress eine kurze Auszeit und der Schotte konnte dies durchaus nachvollziehen. Hilfsbereit reichte er ihm die Packung und bemerkte, dass es sich sogar um die südkoreanische Sorte handelte, die Gwang-jo immerzu rauchte. Hatte er die Packung bei seiner Flucht dort liegen lassen? Thomas kam die Sache komisch vor, denn er konnte sich nicht daran erinnern, dass beim letztmaligen Betreten des Speisesaals eine solche Packung dort gelegen hatte. Allerdings musste Thomas sich eingestehen, dass er den Raum auch nicht so ausgiebig betrachtet hatte und sich vielleicht täuschte.

    „Nur eine Zigarette brauche ich, bitte. Ich kann an die Eingangstür gehen.“, bat der Koreaner leise und heiser an und Thomas ging nach kurzem Zögern darauf ein, was ihm einige wütende und verständnislose Blicke seitens Elaine und Abdullah einbrachte.

    Thomas glaubte allerdings längst nicht mehr an eine krumme Aktion des Koreaners und war auch mittlerweile einhundertprozentig davon überzeugt, dass er nicht hinter der Mordserie steckte, da er sich dafür viel zu heißblütig und unkontrolliert gab. Thomas wusste selbst nicht, woher er dieses Vertrauen und Wissen hernahm, aber es erschien ihm plötzlich sogar besser mit dem Koreaner allein zu reden, anstatt vor allen anderen Anwesenden und potenziellen Tätern. Denn Thomas war sich sicher, dass die Identität des Mörders nun entgültig geklärt werden würde und befürchtete, dass dieser, wenn sie alle um den Koreaner versammelt waren, zuschlagen würde, um seinem Werk den finalen Schliff zu geben. Denn dann hatte selbst der gnadenlose Killer nicht mehr die Wahl seine Opfer nach dem bisherigen Muster gezielt und punktgenau auszuschalten, sondern musste seine grausame Prozedur radikal zu einem Ende bringen.

    „Es ist in Ordnung. Ich werde dich begleiten.“, gab Thomas zu verstehen und nahm Gwang-jo wie ein kleines Kind an die Hand. Der sonst so aufmüpfige Mann wirkte hilflos und alt, als sie langsam die Tür zur Bibliothek durchquerten.

    Thomas spürte in seinem Rücken förmlich die bitteren und gehässigen Blicke der anderen beiden Anwesenden, doch er nahm sich vor Elaine seine Gründe später zu erläutern.

    Der Schotte hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gebracht, als plötzlich Marilou mit forschem Schritt von der Eingangshalle aus in die Bibliothek trat und wie vom Blitz getroffen stehen blieb und Gwang-jo wie ein Gespenst anblickte. Die Kanadierin war völlig bleich geworden und ihr schienen die Worte zu fehlen. Gwang-jo blickte sie ausdruckslos an, doch Thomas bemerkte nach einigen Sekunden ein leichtes Zucken um die Mundwinkel des wie paralysiert wirkenden Flüchtlings.

    Thomas spürte die knisternde Atmosphäre und unerträgliche Spannung, die im Raum lag. Er glaubte zu ahnen, dass sich in den nächsten Momenten etwas ereignen würde, doch dann ging Marilou rasch und mit bösem Blick an ihnen vorbei in Richtung des Speisesaals und schlug die schwere Tür kraftvoll hinter sich zu. Nachdenklich blickte Thomas ihr nach, bevor er mit einem mulmigen Gefühl Gwang-jo weiterführte.

    Dessen Hilflosigkeit erinnerte ihn grausam an seinen eigenen Großvater, der die letzten Jahre seines Lebens an einen Rollstuhl gefesselt gewesen war, den Thomas oft durch die Gegend spazieren gefahren hatte. Der alte Herr war ein echter Lebemann gewesen, war Alkohol, teuren Autos und Spielen und auch der Frauenwelt und edlen Zigarren nie abgeneigt gewesen. Er hatte Thomas immer dazu geraten nicht Polizist zu werden, was schon seit geraumer Zeit der Traumberuf des jungen Schotten gewesen war.

    Thomas wunderte sich selbst über seine nostalgischen Gedankengänge, doch war er ganz froh, dass er wenigstens die Stimmen aus seinem Kopf verdrängt hatte. Er redete sich ein, dass die besagten Stimmen eine ganz natürliche Reaktion seines Geistes war, um die wahnsinnigen und unvorstellbaren ereignisse der letzten Tage zu kompensieren. Gleichzeitig huschte dem Schotten aber auch der Begriff der Schizophrenie durch den Kopf, den er mit einem Schaudern sofort wieder aus seinen Gedanken verbannte. An diese unschöne Möglichkeit wollte er gar nicht erst denken.

    Langsam schritt Thomas mit dem Koreaner nun durch den kleinen Tunnel in Richtung der Eingangshalle und hatte das Gefühl sich auf dem direkten Weg in Richtung Hölle zu befinden. Die Kerzen in diesem Gang waren erloschen, es war kalt und der Sturm rüttelte lautstark und monoton an der quietschenden Eingangstür.

    Endlich hatten sie die Eingangshalle erreicht, wo sich Gwang-jo vom Schotten löste und ihn mit wässrigen Augen anblickte. Tief atmete er durch und griff zitternd nach einem seiner Glimmstängel. Nervös tastete er nach einem Feuerzeug, fand jedoch keines und wirkte ähnlich krank und hilflos wie ein Drogensüchtiger, der zitternd nach seiner Spritze tastete. Thomas hatte während seines zweimonatigen Aufenthalts im Drogendezernat der Polizei viele solcher Menschen getroffen und es hatte ihn sehr getroffen und abgeschreckt.

    Thomas erblickte schließlich nahe des unheilvollen Brunnens, der vor nicht allzu langer Zeit fast zu seinem Grab geworden war, eine noch nicht ganz niedergebrannte Kerze, die er behutsam ergriff und dann dem Koreaner reichte, der sich seine Zigarette zitternd anzündete, wobei die Kerzenflamme nervös flackerte und Gwang-jo hustend und mit verzerrtem Gesicht den Qualm in den Raum blies, der Thomas nun seinerseits zum Husten brachte, da er erbärmlich stank, was ihm bis dahin noch gar nicht aufgefallen war.

    Nach einigen Sekunden hatte der Koreaner röchelnd durchgeatmet und blickte Thomas durch den blauen Dunst starr und leblos an.

    „Ich brauche ein wenig frische Luft. Ich möchte nur kurz vor die Eingangstür. Ich werde gewiss nicht fliehen.“, bemerkte der Koreaner und bat Thomas indirekt um dessen Einverständnis.

    Dieser dachte sich, dass er dem Koreaner inzwischen ohnehin sehr entgegengekommen war und sah keinen Grund dafür dem gebrochenen und angsterfüllten Mann diese Bitte nun plötzlich nicht zu gewähren. Langsam und seufzend trat er zur Eingangstür und riss diese quietschend auf. Ein steifer Wind kam ihm entgegen und blies ihm die Haare wirr durch das Gesicht. Gwang-jo hatte schützend seine Hand vor die Zigarette gehalten und trat gemächlich nach draußen und blickte starr zum unruhigen Ozean.

    Jetzt wurde Thomas doch unruhig. Er wollte sich nicht mehr länger hinhalten lassen und blickte Gwang-jo eindringlich an.

    „Für die Zigarette gebe ich dir zwei Minuten. Dann wird Klartext geredet und es gibt keine Ausflüchte mehr.“, betonte er grimmig und sah das ergebene Nicken des Koreaners, das ihn einigermaßen beruhigte.

    Thomas konnte verstehe, dass der verwirrte Flüchtling einige Minuten brauchte, um sich klar zu sammeln, nachdem er dem Tod noch einmal im allerletzten Moment von der Schippe gesprungen war.

    Wuchtig stieß Thomas das Eingangsportal zu und genoss die relative Stille in der Eingangshalle. Der Sturm hatte draußen merklich an Lärm und Intensität zugenommen. Mittlerweile konnte er die Vorsichtsmaßnahmen der Polizisten vom Festland fast schon verstehen, auch wenn ihm der Gedanke daran immer noch Kopfschmerzen bereitete.

    Es half alles nichts, Thomas konnte weitere Schicksalsschläge nur verhindern, indem er sehr sorgsam und vorsichtig agieren würde. Bereits jetzt dachte er daran, dass die restlichen Anwesenden in seinem Rücken bereits eine neue unheilige Tat vollzogen oder sich gegenseitig angriffen. Thomas wollte mit dem Koreaner trotz der Wichtigkeit des Gesprächs nicht zu lange allein verweilen und so schnell wie möglich zur Gruppe zurückkehren.

    Von der Bibliothek her schlug eine Uhr dumpf und unmelodisch zur vollen Stunde. Thomas fiel schreckensstarr ein, dass dies die Zeit war, an dem das nächste potenzielle Opfer fällig war. Die Zeit der Wahrheit hatte nun begonnen.

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