• Kapitel 102

     

    Kapitel 102: Samstag, 18 Uhr 01 Eingangshalle


    Thomas hörte nichts als den kräftigen Sturm unter dessen Wucht das Eingangsportal erzitterte. Blitzlichter flackerten über dem Meer auf und tauchten die Eingangshalle in ein gespenstisches Licht. Mit einem Schaudern betrachtete Thomas die furchteinflößende Riesenschlange auf dem Springbrunnen, an deren Maul noch die roten Wasserfäden langsam hinuntertröpfelten und für eine makabre Atmosphäre sorgten.

    Der schottische Polizist fühlte sich schrecklich allein, als die Uhr sechs Mal geschlagen hatte und das Schweigen ihn nun entgültig umgab. Ungeduldig marschierte Thomas hin und her, warf nervöse Blicke auf die Gemälde, Ritterrüstungen und Treppen, als ob er einen unbekannten Spion irgendwo im Schatten eines Gegenstandes vermuten würde, der für die gesamte Misere verantwortlich war. Doch insgeheim hatte Thomas für sich ausgeschlossen, dass eine noch unbekannte Person von außerhalb die Morde inszeniert hatte. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los von irgendwo ganz genau beobachtet zu werden. In der gigantischen Halle fühlte sich Thomas wie auf dem Präsentierteller.

    Der Polizist wurde immer ungeduldiger, seine Schritte immer hektischer. Erwartungsvoll blickte er immer wieder zum Eingangsportal. Wie viele Minuten hatte er dem Koreaner jetzt schon für seine Zigarette gegeben? Die zwei Minuten waren mit Sicherheit schon längst verstrichen.

    Thomas atmete tief durch, wandte sich mit einem Schaudern dem Portal zu und drückte die schwere Klinke nach unten, um das Tor mit einem Ruck aufzuziehen.

    Das Erste, was er bemerkte war der dichte Regenfall und leicht wallender Nebel, der sich um die Insel gelegt hatte und kaum mehr einen Blick auf das Meer zuließ. Die Natur schien sie immer mehr zu isolieren.

    Dann traf Thomas der Schock, denn als er einige Schritte nach vorne ging, sah er regungslos den Koreaner auf der untersten Treppenstufe liegen, das Gesicht zum Boden gewandt. Seine Zigarettenpackung lag zerknüllt neben seiner verkrampften Hand, die er hilfesuchend ausgestreckt hatte. Viel erstaunlicher war allerdings noch die Tatsache, dass ein völlig verwirrter Björn Ansgar Lykström neben dem regungslosen Choleriker hockte und Thomas verschreckt entgegenblickte.

    Der schottische Polizist war wie paralysiert, stand mit offenem Mund vor dem ihm unbeschreiblichen Szenario, schloss die Augen, blinzelte, als ob er den Anblick wie einen illusorischen Traum davonjagen könnte, doch das Bild blieb.

    Erst jetzt fiel die Starre von ihm ab und er stürzte hastig über die glatte Treppe in die Tiefe. Ächzend ließ er sich neben Gwang-jo auf die Knie fallen, hob dessen Kopf an und zuckte erschrocken zurück. Es waren weniger die leblosen und glasigen Augen, die den letzten Todesschrecken noch widerspiegelten, die ihn verstörten, sondern die Tatsache, dass der Mund des Koreaners rußgeschwärzt war und seltsam verbrannt oder mehr noch verätzt wirkte.

    Voller Ekel ließ Thomas den leblosen Kopf zurück in den Kies fallen und blickte starr auf die zerknüllte Zigarettenpackung. Neben einigen ihm unverständlichen koreanischen Zeichen stand darauf eine große Fünf. Die Marke war Thomas völlig unbekannt, doch ihm war klar, dass die Zigaretten vergiftet worden sein mussten.

    Sein Blick traf den des schwedischen Lehrers, der fassungslos und unheimlich kicherte und mit seiner linken Hand eine Rauchbewegung nachahmte. Thomas empfand dieses Benehmen als puren Hohn und Provokation und er hielt sich nur mit Mühe im Zaum. Mit zusammengekniffenen Lippen und geballten Fäusten stand er auf und redete sich ein, dass er Lykström diese Handlungsweise nicht Übel nehmen konnte, da dieser offensichtlich entgültig dem Wahnsinn verfallen war.

    In diesem Moment ertönte überlaut das Quietschen des Eingangsportals und Thomas erkannte mit Schrecken, wie Marilou Gauthier erschrocken und wütend zugleich nach draußen rannte. Hinter ihr traten ebenfalls Elaine Maria da Silva und Abdullah Gadua ein wenig ruhiger, aber sichtlich geschockt und erbleicht, aus dem Schloss.

    Die Kanadierin packte dem sich langsam aufrappelnden Thomas grob an die Schulter und redete nervös fragend auf ihn ein, sodass der Schotte nur noch die Hälfte verstand. Die keifende, herrische Stimme schien ihm fast den Verstand zu rauben und alles schien sich plötzlich um ihn herum zu drehen. Kraftlos, aber entschlossen stieß er Marilou von sich weg und massierte sich die Schläfen. Ein drückendes, krampfhaftes Gefühl bereitete sich in seinem unangenehm knurrenden Magen aus. Thomas wurde mit einem Mal speiübel und er schwankte, als ob er sich auf einem schiffbrüchigen alten Kahn befinden würde.

    Ein grausamer Gedanke spukte durch seinen Kopf. Der Koreaner war offensichtlich mit der Zigarette vergiftet worden und Thomas hatte ihren Rauch in der Eingangshalle kurz eingeatmet. Stand ihm jetzt ein ähnlich grausames Schicksal bevor? War das Gift durch das passive Rauchen auf ihn übertragen worden?

    Kaum hatte er diese Gedanken formuliert, als der kurze Schwächeanfall so rasch verschwand, wie er gekommen war. Schweißüberströmt und kraftlos stöhnend ließ Thomas sich zu Boden sinken und lag flach auf dem Rücken im stechenden und nassen Kies. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den angeregten Dialog, der unter den restlichen Anwesenden ausbrach. Niemand schien ihn großartig zu beachten, der Tote und die Sorgen um das eigene Überleben standen im Mittelpunkt und selbst Elaine Maria da Silva kam ihm nicht zur Hilfe.

    „Da waren es nur noch fünf kleine Negerlein.“, zitierte Abdullah in einer tonlosen Mischung aus gleichgültigem Sarkasmus und Betroffenheit.

    „So ein Pech aber auch, wo er gerade auspacken wollte. Wir kommen einfach kein einziges Stück voran. Auch Mamadou hatte schon etwas gewusst und war just in dem Moment um die Ecke gebracht worden, als er die Sache aufklären wollte.“, bemerkte die Brasilianerin kritisch und Thomas konnte förmlich spüren, wie sie jetzt eindringlich und vorwurfsvoll die Kanadierin ansah, die sich ihrerseits einen gehässigen Kommentar nicht nehmen ließ.

    „Dein toller Partner und Superpolizist hat den Fall ja sicherlich schon zehnmal aufgeklärt, so wie er sich aufspielt. Aber wer weiß, was der Koreaner gesagt hätte. Vermutlich hätte er wieder nur eine wahnwitzige Verschwörungstheorie ohne Hand und Fuß ausgepackt. Wer kann solch einem unberechenbaren Choleriker nur Vertrauen schenken?“, fragte Marilou kritisch und fordernd nach.

    „Er war weniger unberechenbar als du. Dich kann niemand hier genau einschätzen, selbst dein eigener Mann nicht.“, gab Elaine Maria da Silva bissig zurück.

    „Und was sollen wir von einer Frau halten, die sadomasochistische Pornoromane schreibt und sich nun wie ein Häufchen Elend an den nächstbesten Bullen kettet?“, provozierte die Kanadierin zurück und der sonst recht besonnene und ruhige Abdullah fühlte sich berufen lauthals einzugreifen.

    „Fangt bloß nicht wieder damit an! Fakt ist, dass der Koreaner etwas auspacken wollte und ernster und niedergeschlagener als sonst wirkte. Tote können uns nicht mehr von ihren Absichten und ihrem Wissen erzählen. Wir sollten lieber nach Anhaltspunkten für den Mörder suchen.“, rief Abdullah die weiblichen Anwesenden zur Raison.

    „Da können wir lange suchen. Thomas könnte ihn in der Eingangshalle umgebracht und hier theatralisch platziert haben.“, schlug Marilou Gauthier vor und blickte ihre brasilianische Kontrahentin dabei scharf und zynisch lächelnd an.

    „Dein Mann oder du könnten es auch gewesen sein. Während Thomas und ich draußen bei dem Wolf waren, habt ihr die Zigarettenschachtel präpariert und offenbar bewusst klar sichtbar im Speisesaal platziert.“, konterte die Brasilianerin kalt und schlagfertig und würdigte ihrerseits die Kanadierin keines Blickes, obwohl ihr Gesicht doch von einem wissenden Lächeln umspielt war, was Marilou sichtlich in Rage brachte, da sie stocksteif vor dem Toten stand und angestrengt ihren Kiefer knackend von einer Seite zur anderen schob.

    „Vielleicht war es aber auch Lykström. Wir haben ihn längere Zeit nicht mehr gesehen, er wirkte wahrlich wie verschollen. Vielleicht kann er uns etwas zum Fund des Toten sagen.“, stellte Abdullah Gadua fragend fest und schaute dem wahnsinnigen Blick des Schweden halb erwartungsvoll, halb angeekelt entgegen.

    „Er hat einen schwachen Geist. Menschen mit einem schwachen Geist haben kein Existenzrecht, geschweige denn ein klares Wort zu sagen. Er wird uns bestimmt nicht weiterhelfen können.“, kommentierte Marilou den Betroffenen radikal und diese drastische Behauptung machte selbst ihrem fröstelnden Gatten Angst.

    „Solch ein labiler Geist wird es wohl auch kaum bewerkstelligt haben können den Koreaner so kaltblütig umzubringen.“, argumentierte Elaine Maria da Silva nachdenklich, nachdem sie Marilou erst entgeistert angeblickt und mehrmals geschluckt hatte, bevor sie für sich entschieden hatte auf ihre Aussage nicht direkt einzugehen.

    „Du musst es ja genau wissen, so gut, wie du dich mit geisteskranken Gehirnen auskennst. Scheint eine Art Obsession von dir zu sein, nicht wahr?“, stichelte die Kanadierin wieder und die Brasilianerin unterdrückte ihre Wut mit einem eiskalten Lächeln, als sie sich wie in Zeitlupe zu Marilou herumdrehte und noch kurz nach den idealen Worten für eine kühne Antwort suchte. Da ihr auf der Stelle wenig einfiel, verschärfte sie ihren kalten Tonfall und auch ihre Intention.

    „Wenn du mich noch ein einziges Mal in irgendeiner Form provozieren solltest, dann bist du eine tote Frau. Glaube mir das, du krankes Biest.“, flüsterte sie drohend.

    In diesem Moment riss Thomas wieder entschlossen die Augen auf, sprang auf die Füße und stieß die beiden überraschten Frauen radikal und kräftig auseinander. Beide hatten Mühe nach diesem kurzen Gewaltausbruch ihre Haltung und Fassung zu wahren, doch Thomas ließ auch noch eine verbale Standpauke folgen, während Abdullah nicht wusste, wie er zu der neu entstandenen Situation überhaupt stehen sollte. Björn Ansgar Lykström schaute nur interessiert, aber geistig doch ein wenig abgelenkt und abseits des Geschehens, zu und bewegte wortlos und gebetsmühlenartig seine aufgeplatzten, bleichen Lippen. Der einstige Sunnyboy war innerhalb weniger Tage eine graue und verwirrte Persönlichkeit geworden. Scheinbar hatten ihn die Veränderungen von allen Anwesenden am meisten getroffen.

    „Es ist jetzt verdammt noch mal keine Zeit für persönliche Fehden und Sticheleien! Euer Ego müsst ihr hinten anstellen, es geht nur noch um das pure Überleben. Morgen wird Rettung kommen, die Sondereinheiten der Polizei werden auf der Insel anrücken und dann ist alles vorbei. Das Ganze dauert noch etwas mehr als zwölf Stunden, aber wenn wir jetzt zusammenhalten und uns gegenseitig beobachten und nichts mehr essen, trinken, rauchen oder angucken, dann werden wir dieser Hölle entkommen.“, mahnte er eindringlich und hoffte auf das zustimmende Verständnis der restlichen Anwesenden. Die einzige Reaktion, die seine kurze Rede hervorrief, war jedoch wieder eine lauernde Frage von Seiten von Marilou.

    „Woher ziehst du diese Erkenntnis schon wieder? Wer hat denn wie die Polizei informiert? Die Telefonleitungen sind doch allesamt gekappt und elektronische Geräte sollte niemand hierhin auf die Insel mitgebracht haben.“, ließ Marilou verwirrend die scheinbaren Fakten Revue passieren. 

    „Dein Plan hatte eben einen kleinen, aber beachtlichen Fehler.“, gab Elaine Maria da Silva ungefragt provokant und vorlaut zurück.

    „Mamadou wusste Bescheid. Er hat die nächste Polizeidienststelle mit einem mir zuvor auch unbekannten Laptop angeschrieben. Sie können wegen des Sturmes heute nicht kommen, aber werden mit einem Sonderkommando am Morgen nach den abgeflauten Ausläufern des Sturms hier anrücken.“, erklärte Thomas kurz und ehrlich. Er hoffte mit dieser Aussage, die er ursprünglich eigentlich gar nicht preisgeben wollte, sich nun aber wieder versprochen hatte, den Täter weiter aus der Reserve zu locken. Es war ein Spiel mit dem Feuer.

    „Wunderbar, jetzt weiß der Mörder auch noch, dass er sich beeilen muss.“, kritisierte Elaine Maria da Silva dieses Eingeständnis von Thomas auch entsprechend sarkastisch.

    „Lass dir von der falschen Schlange nichts einreden, sie will dich doch nur isolieren und dann eiskalt zuschlagen. Alle Weiber, die ich so kenne sind abgrundtief schlecht. Wir sollten jetzt immer ehrlich und offen zueinander sein, uns vielleicht bestenfalls über den Aufenthaltsort und die Vorlieben und Schwächen der Anderen informieren.“, schlug die Kanadierin schnell sprechend und auf arrogante Art und Weise vor, da ihre brasilianische Lieblingsfeindin mit offenem Mund zu einer spitzzüngigen Erwiderung angesetzt hatte, aber grob unterbrochen und sogar provoziert wurde, da Marilou ihr die Hand vor das Gesicht hielt und ihr eigenes Antlitz dennoch demonstrativ abwandte. Die Brasilianerin schlug die Hand entzürnt und mit funkelnden Augen weg.

    „Wir sollten die Nachrichten noch einmal genau lesen und auf Hinweise durcharbeiten. Mamadou wird den Mörder gekannt haben.“, bemerkte Abdullah Gadua nach einer kurzen Zeit des eisigen Schweigens.

    „Davon gehe ich mittlerweile auch aus. Nun ja, zehn Augen sehen mehr als zwei oder vier und irgendwo muss es ja endlich einen Anhaltspunkt geben.“, bekräftigte Thomas, der sich inzwischen fast vollständig wieder erholt hatte und lediglich noch etwas wacklig auf den Beinen stand und gierig die Luft in seine Lungen sog.

    „Das Zimmer von Gwang-jo sollten wir uns dann bei Gelegenheit auch mal gründlich vornehmen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass auch er irgendetwas versteckt hält und verbergen wollte.“, weitete Marilou den Untersuchungsradius ungefragt aus.

    Thomas sah keinen Grund darin, der mysteriösen Kanadierin in diesem Fall zu widersprechen, obwohl Elaine Maria da Silva sie wieder tückisch musterte und irgendeinen tieferen Sinn zu erkennen versuchte, mit dem Marilou etwas Böses im Schilde führen könnte.

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