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    Kapitel 93: Samstag, 13 Uhr 48 Bibliothek

    Björn Ansgar Lykström starrte völlig verwirrt und verängstigt auf die Kuckucksuhr in seinen Armen und man konnte förmlich sehen, wie sein Gedankenapparat arbeitete und fieberhaft nach einer Lösung suchte, um sich des gefährlichen Gegenstands so schnell wie nur irgend möglich zu entledigen. Der Schwede kam auf eine erstaunlich schnelle Lösung, rappelte sich auf und stürzte quer durch den Raum, wobei er die Kuckucksuhr krampfhaft umklammert hielt und mit steifen Schritten an den größtenteils völlig konsternierten Gästen vorbeitaumelte, die abwechselnd von ihm zu dem afrikanischen Polizisten sahen, der grimmig und sorgvoll jeden Schritt des Schweden verfolgte.

    „Lass das Ding sofort los, stell es sofort irgendwo hier ab!“, forderte der Ghanaer ihn mit harter Stimme auf, doch der schweißüberströmte Schwede schüttelte verbissen den Kopf.

    Thomas sah atemlos zu, wie sein Kollege plötzlich eiskalt den Lauf seiner Waffe auf den Schweden richtete und ihm die Mündung an den Hals drückte. Der Lehrer erstarrte mitten in der Bewegung und verdrehte ängstlich seine Augen. Seine Arme, welche die seltsame Kuckucksuhr hielten, fingen bedrohlich an zu zittern.

    Thomas konnte trotz aller Angst die erstaunliche Reaktion seines Kollegen nicht verstehen. Gleichzeitig fiel Thomas, als er die Waffe wieder sah, auch auf, dass diese vor wenigen Stunden erst verschwunden war, als sich der Ghanaer in einer ähnlichen Situation wie der Schotte befunden hatte. So gesehen waren sie Leidensgenossen oder gar noch mehr, doch in diesem Fall waren ihre Einstellungen alles Andere als konform und Thomas verspürte das brennende Bedürfnis einzugreifen, um eine größere Eskalation noch rechtzeitig abzuwenden.

    „Mamadou, ich weiß nicht, was mit dir los ist? Du verhältst dich seit geraumer Zeit mehr als seltsam uns gegenüber! Woher nimmst du diese sichere Kenntnis, dass es sich um eine Falle handelt?“, fragte Thomas ihn, nachdem einige Sekunden des Schocks verstrichen waren.

    Der Ghanaer wandte ihm nicht einmal den Blick zu und seine Antwort klang entsprechend kalt und gleichgültig, doch der Inhalt seiner Aussage verschlug allen Anwesenden simultan die Sprache.

    „Ich weiß sogar, wer unter uns der Mörder ist.“, gab Mamadou zurück und warf einen raschen Blick in die Runde. Seine Hand hatte krampfhaft den Lauf seiner Waffe umklammert, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. Er hatte die wulstigen Lippen zu dünnen Strichen zusammen gekniffen, seine Augen waren ebenfalls schmal und kalt geworden.

    „Warum hast du uns das nicht vorher gesagt?“, fragte Abdullah Gadua inzwischen völlig entgeistert, wagte sich jedoch trotz seiner offensichtlichen Empörung keinen Schritt näher an den wütenden Ghanaer heran.

    „Ich musste den Täter gegen meinen Willen schützen, doch das ist jetzt entgültig vorbei. Unter Todesdrohungen wurde ich in Schach gehalten. Ich halte das aber jetzt einfach nicht mehr aus, egal was passiert. Ich muss es jetzt tun.“, redete sich der Ghanaer selbst Mut zu. Seine Aussagen waren für die meisten unter den Anwesenden jedoch immer noch völlig unverständlich.

    „Was musst du jetzt tun? Wer steckt dahinter?“, wollte Thomas wissen. Er lispelte und stotterte vor Aufregung, Schweiß schien aus jeder Pore seines Körpers ausgebrochen zu sein.

    Wie in Zeitlupe wandte sich sein so veränderter Kollege zu ihm um und blickte Thomas eindringlich an. Der Blick schien bis auf die Seele des Schotten hinabzureichen und diese kalte Überlegenheit jagte dem verwirrten Thomas einen Schauer nach dem nächsten über den Rücken.

    „Du hast mich erst auf die richtige Spur gebracht. Du hast mir die Augen geöffnet, ohne es selbst zu ahnen, habe ich recht?“, fragte der Ghanaer in einer Mischung aus anerkennendem Spott und zynischer Härte.

    „Ich weiß gar nicht, wovon du überhaupt redest, Mamadou! Verdammt, was ist bloß mit dir los?“, wollte Thomas wissen und fühle sich immer unruhiger und in die Enge getrieben.

    „Man hat mir gedroht, als ich klaren Tisch machen wollte und die Gefahr ist leider noch lange nicht beseitigt. Ich muss die Verantwortung für uns alle auf mich nehmen und es tut mir furchtbar Leid, aber vielleicht wird irgendjemand von uns das Ganze hier überleben und eines Tages die Wahrheit verkünden können.“, entgegnete der Ghanaer kalt und warf einen bedeutungsschwangeren Blick in die Runde.

    „Du sprichst in Rätseln! Was willst du jetzt tun?“, fragte Thomas besorgt.

    „Es gibt nur eine Lösung. Wir sind nirgendwo vor diesem Biest sicher, egal was wir mit ihm anstellen. Wer weiß, wie viele Fallen es noch in petto hat. Du kennst mich als einen ruhigen, besonnenen und gerechten Menschen. Doch der bin ich nicht mehr. Die letzten Stunden haben mich verändert, haben meine gesamte Lebensphilosophie über den Haufen geworfen.“, führte Mamadou großspurig aus.

    „Gerade deswegen solltest du besonnen und kooperativ agieren.“, warf Thomas mahnend ein und erkannte seinen sonst so vernünftigen Kollegen nicht mehr wieder.

    „Besonnenheit? Das ich nicht lache! Der sogenannte Killer weiß doch ganz genau, was ich jetzt tun werde, denn das habe ich mir inzwischen geschworen. Ich möchte dem ganzen Alptraum ein gewaltsames Ende setzen. Diplomatie ist sinnlos, es muss jetzt eine radikale Maßnahme getroffen werden“, verkündete Mamadou hart und entsicherte grob seine Waffe. Dabei klang der Afrikaner schon fast so fanatisch wie der gefesselte und geknebelte Gwang-jo, der demn Konflikt mit starrer Aufmerksamkeit verfolgte.

    Das metallische Klicken der Waffe ging allen Anwesenden durch Mark und Bein.

    Thomas stockte der Atem, er konnte kaum fassen, wie weit sich sein Kollege gewandelt hatte und dass nun scheinbar eine Art Exekution bevorzustehen drohte. Würde sich das gesamte Blatt nun wenden? Waren sie an dem entscheidenden Wendepunkt angekommen?

    „Du willst den Killer doch jetzt nicht etwa umbringen?“, hakte Thomas entgeistert nach.

    „Jedem das seine. Unverdient wäre es sicherlich nicht. Ich habe als Polizist gelernt, dass jedes Menschenleben einen unersetzbaren Wert hat und dass man alles dafür tun muss, um den Tod eines Menschen zu vermeiden, egal wie schlimm diese Person auch sein mag. Damit ist es jetzt vorbei. Diese Person muss sterben, bevor sie noch mehr Unheil anrichten kann. Mir ist es inzwischen völlig egal, ob ich vom Dienst suspendiert werde oder als Mörder ins Gefängnis muss, es geht mir nur noch um das nackte Überleben und da gibt es keine Grundsätze mehr. Die Schonzeit ist vorbei, die Zeit der Vergeltung ist gekommen.“, entgegnete der Afrikaner ohne den Hauch eines Zweifels oder Gewissenbissens. Er schien sich seiner Sache völlig sicher zu sein. Gerade diese verbohrte Überzeugung stufte Thomas als ungemein gefährlich ein. Er befürchtete, dass die Sache einen schlimmen Haken haben könnte. Doch er sah zunächst keine offensichtliche Falle. Mit einem nervösen Blick auf seine Armbanduhr bemerkte der Schotte zudem dass der mögliche nächste Todeszeitpunkt unmittelbar bevorstand und sich alle Anwesenden auf engem Raum in unmittelbarer Gefahr befanden. Ein vorschnelles handeln des Ghanaers hätte eine Kettenreaktion auslösen können.

    „Du sprichst wie ein Orakel. Höre mit diesen Paraphrasen und Metaphern auf, sage uns endlich, was du weißt!“, schrie jetzt auch Abdullah Gadua dem afrikanischen Polizisten entgegen und Speichel sprühte dabei von seinen Lippen.

    Marilou sah ihren Ehepartner dabei fast mitleidig an, senkte kurz den Kopf und schien über die richtige Formulierung ihrer nächsten Worte nachzudenken, die sie jedoch vorerst nicht aussprach und eher passiv blieb.

    Die um Thomas herum stehenden Anwesenden wirkten allesamt enorm angespannt und der wilde Schotte konnte dadurch mit einigen kurzen Seitenblicken auch nicht darauf schließen, wer der Täter sein könnte, der gerade vermutlich die aufgeregteste Person in diesem Raum war.

    Mamadou hatte sich scheinbar gerade zu einer Aussage durchgerungen, als Björn Ansgar Lykström plötzlich überreagierte. Er war in den letzten Augenblicken überhaupt nicht mehr beachtet worden, hatte aber trotz der Extremsituation an seinem ursprünglichen Plan festhalten wollen. Mit der Kuckucksuhr wollte er so schnell wie möglich aus der Bibliothek fliehen und glaubte völlig unbeobachtet zu sein, doch er unterschätzte die geschulten Reflexe des ghanaischen Polizisten mit der Waffe.

    Björn Ansgar Lykström hatte rasch zum Sprint angesetzt und drückte sich hektisch zwischen der leicht offen stehenden Türspalte hindurch in den Speiseraum, während Mamadou Kharissimi herumwirbelte und plötzlich ohne Vorwarnung abdrückte, noch bevor der unter Strom stehende Schwede die Bibliothek tatsächlich verlassen konnte.

    Mit einem infernalischen Knall löste sich ein Schuss aus seiner Waffe und dieser verfehlte sein ungewöhnliches Ziel in der Tat nicht.

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    Kapitel 92: Samstag, 13 Uhr 11 Bibliothek

    Als Thomas in frischer Kleidung und mit frischem Optimismus ausgestattet Seite an Seite mit der südamerikanischen Schönheit in die düstere Bibliothek schritt, kam er sich sofort wie ein Fremdkörper vor, denn um ihn herum herrschte ängstliches, bedrückendes Schweigen.

    Alle im Schloss anwesenden Personen hatten sich hier verschanzt, sogar der Koch hatte seine Scheu überwunden und hatte auf einem Rollwagen einige Schnittchen vorbereitet, doch er selbst schien der einzige zu sein, der davon überhaupt kostete. Verstört saß er ein wenig abseits und blickte wie paralysiert seine schwarzen, glänzend polierten Schuhe an.

    Ebenso isoliert, jedoch in der anderen Ecke des Raumes und hin und wieder kritisch beäugt und kontrolliert, saß Gwang-jo, den man tatsächlich gefesselt hatte. Zusätzlich hatte man ein altes Stofftaschentuch des Hauses als Knebel missbraucht, um den koreanischen Wüterich ruhig zu stellen. Der Choleriker hatte seinen körperlichen Protest eingestellt, doch die Blicke, die er jetzt auf Thomas Jason Smith richtete, sprachen Bände und trafen den Schotten trotz seiner neuen Zuversicht bis ins Mark. Obwohl der eigenwillige Koreaner so leicht auszurechnen war, so hatte seine kalte und willkürliche Brutalität doch etwas Furchteinflößendes. Thomas war sich sicher, dass dieser Mensch niemals aus seinen Fehlern lernen würde und bereits jetzt wieder neue hinterhältige Rachefeldzüge ausbaldowerte.

    Die anderen Gäste saßen immer noch mehr oder weniger verstreut in der Bibliothek und beobachteten sich schweigend gegenseitig. Mamadou wirkte unglaublich nervös, wie man es sonst gar nicht von ihm kannte. Er knetete unablässig seine Hände, warf kurze rasche Blicke durch den Raum und wackelte unruhig und unablässig auf seinem Sessel hin und her. Es schien beinahe so, als ob er sich erheben wollte, um etwas Wichtiges zu verkünden, doch sein Tatendrang schien aus irgendeinem Grund unfreiwillig eingeschränkt zu sein.

    Im Gegensatz zu ihm wirkte Marilou Gauthier, die zuletzt erstaunlicherweise in den Mittelpunkt getreten war, ausgeglichen und überlegen. Ein schmales Lächeln huschte gar hin und wieder durch ihr von Leid und Schicksalsschlägen gezeichnetes Gesicht.

    Thomas überlegte, was er nun tun konnte und entschloss sich dazu seine Idee den anderen Gästen mitzuteilen. Eine konstruktive Diskussion oder mahnende Warnung war seiner Ansicht nach allemal besser als das depressive Schweigen, das alle innerlich aufzufressen drohte und die Konfrontationsquote eher steigerte, als senkte.

    Fast elegant und überheblich trat er auf den kleinen Sims vor dem Kamin an der Längsseite der Bibliothek, wo er von allen Anwesenden gut gesehen werden konnte. Die meisten blickten ihm relativ gleichgültig oder gar mit leeren Blicken entgegen und dieses Zeichen der Kapitulation traf Thomas mehr als jede harsche Kritik. Der schottische Polizist bemerkte, dass es nun um mehr als eine Idee, sondern um rhetorische Mittel und pädagogisches Verständnis ging, um eine totgelaufene Gruppendynamik und einen neuen Überlebensdrang zu revitalisieren.

    „Hört mir bitte zu. Ich weiß, dass wir gerade eine Situation erleben, auf die wir völlig unvorbereitet sind, die wir uns in unseren schlimmsten Alpträumen so niemals ausgemalt hätten und dass wir auf diese Dinge in ebenso unterschiedlichen Extremen reagieren. Mir ist völlig klar, dass niemand mehr dem Anderen vertrauen kann. Doch versetzt euch mal in die Lage des Täters hinein! Es ist sein Ziel mit uns zu spielen, uns auf sadistische Weise in die ultimative Verzweiflung zu treiben, sodass wir uns gegenseitig vor seinen Augen umbringen oder schikanieren. Wir tappen mit offenen Augen in seine Fallen, werden dadurch anfälliger und zu leichten Opfern, die man einfach ausschalten kann. Genau hier müssen wir aber den Hebel ansetzen, um den Täter z überraschen. Wenn wir zusammenhalten und versuchen analytisch und logisch zu denken, dann haben wir gegen diese Person eine Chance. Wir sollten unsere persönlichen Dispute und Gefühle ausschalten, denn wer jetzt emotional reagiert, den wird es als Nächstes erwischen. Wir sollten gemeinsam wachsam sein, ab sofort sollte sich niemand mehr von der Gruppe trennen. Ich bin davon überzeugt, dass es bald schon einen nächsten Anschlag geben wird und zwar in genau einer Stunde.“, eröffnete Thomas seine eindringliche Rede, die eine offensichtlich zwiespältige Wirkung erzielte.

    Manche Gäste lauschten nach anfänglichem Desinteresse aufmerksam seinen Worten und nickten manchmal zustimmend und grimmig, während die andere Gruppierung die Gesichter in den Händen vergrub oder nur spöttisch lächelte. Mit seiner letzten Ankündigung hatte Thomas jedoch alle Anwesenden in seinen Bann gezogen, selbst die Kritiker, die sich sogleich zu Wort meldeten.

    „Wie kommst du zu dieser Schlussfolgerung? Ich finde, dass wir ganz vorsichtig sein sollten, denn bei unseren letzten Schätzungen haben wir völlig daneben gelegen.“, entgegnete Björn Ansgar Lykström prompt.

    „Ich möchte mich auch zu Wort melden. Ich befürchte, dass es taktisch sehr ungeschickt war, diese Vermutung Preis zu geben. Immerhin weiß der Täter nun Bescheid und kann sich entsprechend auf die neue Situation einstellen. Er wird den geplanten Angriff einfach eine Stunde später vollziehen oder sein Konzept umstellen.“, bemerkte der Koch schüchtern, aber verhältnismäßig ruhig.

    „Das denke ich nicht. Der Killer ist ein eiskalter Perfektionist. Er hinterlässt an jedem Tatort Zeichen und Vorausdeutungen auf die nächste Tatzeit. Er ist viel zu eitel, als dass er diese Indizien nun ignoriert, seine Pläne abwandelt und völlig anarchisch handelt, denn so würde er sein von Anfang ausgetüfteltes Kunstwerk verraten und zerstören. Er würde Schwäche zeigen und mir nachgeben müssen, weil ich ihm in diesem Fall überlegen war und ihn durchschaut habe. So eine Niederlage kann sein Ego nicht verkraften. Der Mörder wird seinen Plan eiskalt durchziehen, ohne jegliche Kompromisse.“, entgegnete Thomas mit einer logischen Argumentation, die dann auch auf keinerlei Einwände stieß.

    Der Schotte hatte sich bei seiner Erläuterung unauffällig umgesehen und ein gequältes Lächeln auf dem Gesicht seines Kollegen bemerkt, der sich jedoch einen Kommentar verkniffen hatte. Dennoch glaubte Thomas in dem Blick seines Kollegen einen seltsamen, grimmigen Stolz zu erkennen. Der Rest der Gruppe hatte sich die Erläuterungen stumm und verbissen angehört.

    „Wieso bist du denn auf diese Uhrzeit gekommen?“, wollte Björn Ansgar Lykström wissen, der als einer der wenigen Anwesenden seine Lethargie überwunden hatte und sich erstaunlich lebhaft und engagiert zeigte.

    „Das lässt sich schnell zusammenfassen.“, begann Thomas mit einem leicht triumphierenden Lächeln und schilderte in knappen Worten, was er kurz zuvor bereits seiner Geliebten unter der Dusche erklärt hatte. Zufrieden stellte er fest, dass die Anwesenden keinerlei Zweifel äußerten und seinen Gedankengängen offensichtlich folgen konnten. Dennoch waren mit seiner Theorie noch längst nicht alle Fragen geklärt und Probleme beseitigt. Es war erneut Björn Ansgar Lykström, der einen Schritt weiter dachte.

    „Was können wir denn machen, um nicht mit offenen Augen ins Messer zu laufen? Ich denke nicht, dass es hilft, wenn wir alle zusammen tatenlos sitzen bleiben und uns gegenseitig beobachten.“, bemerkte der Schwede, der den Serienmörder auf keinen Fall unterschätzte und sehr organisiert wirkte, was Thomas gleichsam freute, wie auch überraschte, da er noch an die letzten Schicksalsschläge für den Schweden denken musste. War das Verhalten des Lehrers eine Art neue Sichtweise, eine positivere Lebensideologie oder war sie vielmehr ein letztes, krampfhaftes Aufbäumen gegen die drohende Niederlage? Thomas wolltelieber an den ersteren Teil glauben und verdrängte den starren  Blick des fast krapmfhaft wach wirkenden Schwedens schnell aus seiner Gedankenwelt.

    „Das sollten wir zusammen überlegen. Als Erstes sollten wir tatsächlich niemals allein unterwegs sein, nicht einmal mehr auf Toilette oder draußen zum Rauchen. Des Weiteren sollten wir uns vor allen Dingen in Acht nehmen, die vergiftet sein könnten.“, bemerkte Thomas und warf einen argwöhnischen Blick auf die Schnittchen des Koches, der überrascht aufblickte und schreckensbleich das Silbertablett anstarrte.

    „Ich habe nichts vergiftet, wirklich nicht, sonst würde ich doch selbst gar nichts davon probieren.“, stammelte der alte Mann nervös und litt sichtbar darunter, dass er plötzlich im Fokus der ihm unbekannten Anwesenden stand.

    Thomas versuchte für den alten, grauhaarigen und etwas konservativ wirkenden Briten Partei zu ergreifen und seine etwas unachtsam aufgestellte Vermutung ein wenig zu entschärfen.

    „Das glaube ich Ihnen gerne. Aber wer weiß, vielleicht hat der Täter ja bereits im Voraus gewisse Speisen, Gewürze oder Getränke präpariert, das kann man niemals wissen.“, entgegnete Thomas und merkte, dass der Blick des Butlers nicht gerade zuversichtlicher wurde und er zudem ein würgendes Geräusch von sich gab.

    „Das würde aber nicht zum Täter passen. Er kann ja nicht ahnen, dass das nächste Opfer in genau einer Stunde etwas essen müsste. Das Risiko einer unplanmäßigen Zeitverschiebung wäre bei einer solchen Vergiftung viel zu groß.“, warf Björn Ansgar Lykström erstaunlich souverän ein und bekam dafür ein dankbares Nicken des schottischen Polizisten zugestanden.

    „Da hat er recht. Ich denke viel mehr an eine Art Mechanismus, der zu einer exakten Zeit aktiviert werden könnte. Möglicherweise eine Uhr oder Ähnliches.“, führte Thomas weiter aus und blickte nun aufmerksam auf die Uhren, die in der Bibliothek standen.

    Björn Ansgar Lykström griff die Idee sofort auf und ging rasch zur ersten Uhr, die auf einem kleinen Holztisch unweit des Kamins stand. Sie war sehr edel und teuer. Der Holzrahmen war fast vierzig Zentimeter hoch, im oberen Bereich sah man goldene Zeiger, während man unterhalb davon ein ebenfalls goldenes Pendel vor einem mechanisch wirkenden Hintergrund mit diversen Zahnrädern, kleineren Hebeln oder Hammern sah, die größtenteils kreisförmig vor dem Hintergrund einer mittelalterlichen Landkarte angedeutet waren.

    Behutsam hob der Schwede die schwere Uhr hoch und öffnete an ihrer Unterseite mühsam eine Klappe. Thomas war sehr nervös, als er dem Schweden dabei zusah, der Schweiß perlte von seiner Stirn.

    „Pass bloß auf, wer weiß, was du damit aktivieren könntest, wenn dort wirklich eine präparierte Falle versteckt ist.“, warf der Schotte mit gedrückter Stimme ein und sein Herz drohte auszusetzen, als der Schwede plötzlich geräuschvoll die Holzklappe aus ihrer Verankerung riss und verduzt in den Händen hielt.

    Alle Anwesenden starrten wie gebannt auf den Schweden, der krampfhaft die Augen geschlossen hatte. Die Sekunden atemlosen Schweigens verstrichen, ohne dass sich irgendetwas ereignet hätten. Zögerlich atmeten die Gäste auf. Auch Björn Ansgar Lykström hatte sich wieder beruhigt, setzte die schwere Uhr ab und blickte nachdenklich auf mehrere ältere Batterien und Zahnräder, die er kurz betastete. Nach einer kurzen und ergebnislosen Untersuchung drückte er die leicht beschädigte Holzklappe wieder in die Öffnung und stellte die Uhr mit zittrigen und schweißbedeckten Händen wieder an ihren angestammten Platz.

    Sein nächstes Ziel war eine altmodische, deutsche Kuckucksuhr, die oberhalb des kalten Kamins hing. Sie war eingerahmt von drei schwarzen afrikanischen Holzmasken, die entsetzliche Fratzen symbolisierten und mit struppigen Haarbüscheln toter Tiere verziert waren.

    Da der Schwede nicht groß genug war, zog er sich langsam einen Stuhl heran, der geräuschvoll über den nicht mit Teppich belegten und gefliesten Boden schabte. Thomas bekam eine unangenehme Gänsehaut, als er das Geräusch hörte und musste sofort an feingliedrige Totenhände denken, die mit ihren langen und verfaulten Fingernägeln über das Holz eines Sarges schabten, wie man es aus den einschlägigen Horrorfilmen kannte. Überhaupt wirkte die Stimmung in diesem Schloss auf Thomas einigermaßen mysteriös und übersinnlich. Ihm kam zwischenzeitlich gar der abwegige Gedanke, dass möglicherweise doch eine höhere Kraft bei dieser Mordserie ihre Hände im Spiel hatte. Repräsentierte diese abgelegene Schlossinsel möglicherweise die Hölle, ein Hort schwarzer Magie? Thomas traute dem toten Schlossherrn sogar zu, dass dieser sich mit sadistischen und okkulten Riten beschäftigt haben könnte. Die okkulten Masken hätten jedenfalls gut zu dieser Theorie gepasst. Allerdings konnte diese kleine Sammlung auch einfach ein Geschenk eines ehemaligen Schülers sein, das der Schlossherr in Ehren gehalten hatte, da er wohl generell viele kulturelle Gegenstände zu sammeln schien.

    Thomas ärgerte sich im Nachhinein, dass er den nun toten Direktor nicht näher über sein Privatleben und das Schloss ausgehorcht hatte und auch seine spanische Frau weilte nun mittlerweile nicht mehr unter den Anwesenden. Thomas hatte allerdings einen kurzen Geistesblitz, als er zufällig auf den verklemmt wirkenden Koch blickte, der seinem Blick schüchtern begegnete. Wusste der Greis möglicherweise mehr über dieses Schloss und seine Besitzer? Der schottische Polizist nahm sich bereits vor diesen Mann, der so unauffällig erschien, näher zu befragen. In solch einer Situation konnte jedes noch so unnütz erscheinende Detail am Ende das entscheidende Puzzlestück darstellen oder einen knappen Vorteil gegenüber dem Killer ausmachen.

    Inzwischen hatte der schwedische Lehrer sich auf den Holzstuhl gestellt und die Kuckucksuhr von ihrer Halterung genommen. Ächzend hievte er das schwere Ding auf einen altmodischen Tisch in der Nähe des Kamins und wirbelte dabei jede Menge Staub auf. Mit einem düsteren Poltern setzte er die Uhr ab und beäugte sie fast respektvoll.

    In diesem Moment wurde Thomas stutzig. Bei dem Poltern hatte Thomas ein seltsam metallisches Scheppern vernommen, was so gar nicht zu der aus edlem Holz geschnitzten Uhr passen wollte. Siedend heiß fiel ihm plötzlich noch ein anderes Detail ins Auge.

    Der schottische Polizist erinnerte sich mit einem Mal an den Tag der Ankunft auf der Schlossinsel, der gerade mal drei Tage zurücklag, obwohl der Aufenthalt in diesem grausigen Gefängnis Thomas schon wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen war. Wie ein alter Film spulten sich die Bilder in seinem Kopf ab und er erinnerte sich auch an die Kuckucksuhr, die damals völlig verstaubt gewesen war. Die Zeiger hatten sich nicht mehr bewegt und schienen lange stehen geblieben zu sein.

    Völlig konsterniert blickte Thomas nun auf eine absolut staubfreie Kuckucksuhr, deren Zeiger ohne Zweifel die korrekte Uhrzeit anzeigten. Björn Ansgar Lykström schien sich an solch ein nebensächliches Detail nicht mehr zu erinnern und hantierte relativ sorglos an der hinteren Holzwand der Uhr herum, die er nun langsam aus ihrer Verankerung drückte.

    Thomas starrte wie paralysiert auf die Uhr und konnte die drohende Gefahr förmlich vorausahnen und spüren, doch es war plötzlich eine andere Person, die entschieden eingriff und hinter dem schottischen Polizisten vehement aufsprang.

    Alle Anwesenden, einschließlich des schwedischen Lehrers, der mitten in seiner Bewegung verschreckt inne gehalten hatte, wandten sich zu Mamadou um, der grimmig und robust im Hintergrund der Bibliothek stand und zitternd auf die Kuckucksuhr deutete.

    „Macht das Ding nicht auf! Das ist eine Falle, die uns alle umbringen wird!“, schrie er laut und hart und hatte in diesem Moment bereits seine Waffe gezückt, um die Ernsthaftigkeit seiner Worte brutal zu unterstreichen.

    Thomas erschrak bei dieser Überreaktion zutiefst. Hatte der Ghanaer dieselbe Entdeckung gemacht, wie er selbst? Oder wusste sein Kollege sogar mehr, als er allen Anwesenden zuvor hatte weiß machen wollen?

    Thomas kam nicht mehr dazu, aus seinen überlegungen Schlüsse zu ziehen, denn erneut spitzte sich die Lage in der Bibliothek wieder zu.

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    Kapitel 91: Samstag, 12 Uhr 19 Elaines Zimmer

    Thomas spürte, wie ein warmes Rinnsal durch seine Haare drang und langsam über seine Wangen floss. Er spürte weiche Hände, die seine Taille umfasst hatten und merkte, wie ein weicher, feuchter Stoff von dort aus langsam über seine Oberschenkel strich. Der parfümierte Duft frischer Blüten zog sanft in seine Nase, während Dampfschwaden ihn umwallten.

    Mit einem wohligen Stöhnen öffnete Thomas die Augen und realisierte, dass er sich aufrecht stehend oder viel mehr lehnend in einer Dusche befand. Vor ihm stand die nackte Elaine, die ihm in diesen Momenten wie ein Engel vorkam. Sanft säuberte sie seinen Körper von Schweiß und Blut und strich mit dem weichen und nassen Lappen vorsichtig und beinahe schon wieder lasziv über seine empfindlichen Körperstellen. Thomas wusste nicht, wie die Brasilianerin es geschafft hatte, ihn bis in die Dusche zu tragen und noch mehr wunderte er sich über den mit einer angeklebten Plastiktüte geschützten Verband, den sie um seine Wunde gewickelt hatte.

    Das heiße Wasser brannte auch in den kleinen Schnittwunden seiner Arme, doch die zärtlichen Berührungen seiner Partnerin glichen die Schmerzen wieder aus, sodass sich Thomas fast wortwörtlich in einem Wechselbad der Gefühle befand. Die Brasilianerin lächelte ihn verführerisch an, als sie den Körper des Schotten langsam einseifte.

    Allmählich kehrten die Kräfte in den Körper des jungen Polizisten zurück. Seine Müdigkeit war wie weggefegt, lediglich das wärmende Wasser benebelte noch seine Sinne. Seine Hände suchten und fanden die Taille der Brasilianerin, die er sanft an sich heranzog. Mit einem sanften Lachen ließ sie den feuchten Lappen fallen und gab Thomas einen heißen Kuss, der diesen entgültig aus seiner märchenhaften Müdigkeit entriss. Langsam suchten seine Hände die Brüste der Brasilianerin, die er rhythmisch streichelte, bis die dunklen Warzen hart und spitz wurden. Seine Partnerin blieb ihrerseits nicht untätig und massierte den erregten Körper ihres Partners, der mit einem warmen Schaudern aufstöhnte und die Frau näher an sich heranzog, wobei er leicht in die Knie ging.

    Die Lippen der beiden Verliebten fanden sich, als die Brasilianerin die Pobacken ihres Partners ergriff und dessen Unterleib langsam, aber mit zärtlicher Zielstrebigkeit, an sich heranführte.

    Ein stummer Schrei der Leidenschaft schien über ihre geöffneten Lippen gleiten zu wollen, als sie spürte, wie sich ihre Körper sanft vereinigten. Sie krallte ihre spitzen Fingernägel fordernd in den Rücken des Schotten und strich mit ihrer Zunge über seinen Hals hinweg, bis sie seine Lippen traf. Sanft saugte sie an der Zunge des Schotten, der simultan dazu tiefer in ihren Körper eindrang. Sein Unterleib vibrierte vor Erregung, als die Brasilianerin in langsame und rhythmische Bewegungen überging und sich mit aller Gewalt nun gegen den Körper ihres Liebhabers presste, ihren Kopf in den Nacken legte und ihre Haarpracht dabei unter den Duschahn legte. Sanft perlte das Wasser durch ihre Haare, über ihr Gesicht hinweg durch das kleine Tal zwischen ihren Brüsten und sammelte sich in ihrem Bauchnabel.

    Mit einem kurzen Griff stellte die Brasilianerin das Wasser noch heißer und spürte auch, wie sie selbst immer leidenschaftlicher und wilder wurde. Der brennende Schmerz des Wassers versetzte die beiden Liebenden in einen rasenden Zustand, der sich immer mehr dem Höhepunkt annäherte. Thomas fühlte sich geborgen und wie in einem unwirklichen Traum gab er sich der fleischlichen Leidenschaft hin und spürte, wie das Fieber immer mehr in ihn eindrang.

    Irgendwann hielt er dem leidenschaftlichen Druck nicht mehr stand, seine Bewegungen wurden schneller, seine Griffe fordernder und seine Partnerin gurrte erregt auf. Thomas spürte, wie das Adrenalin durch jede Faser seines Körpers gepumpt wurde und fühlte im selben Moment ein schauderndes Glücksgefühl. Er schloss seine Augen und war von einer fremden, paradiesischen Welt umfangen, in der er den erregten Schrei seiner Partnerin kaum merkte und auch nicht den leichten Schmerz, als sie ihm in sein Ohrläppchen biss.

    Nach einiger Zeit war dann der Moment der körperlichen Glückseligkeit auch vorbei und das Thomas sank zitternd zusammen. Stöhnend fand er sich auf dem Boden der Dusche wieder, während die Brasilianerin immer noch auf ihm lag und sich langsam und zärtlich von ihm löste. Mit einem zufriedenen, aber erschöpften Seufzen presste sie ihren Kopf und ihre nassen Haare gegen die Brust des Schotten, der seiner Partnerin sanft durch die üppige Haarpracht strich.

    Thomas kam dieser Moment des Glücks so unwirklich vor und doch hatte er durch diesen eigentlich erschöpfenden Akt neue Kräfte, neue Motivation gefunden. Er fühlte sich befreit und wieder wohl in seiner Haut und als er seinen Blick auf die Brasilianerin senkte, die ihre Augen geschlossen hatte und mit ihren Händen sanft über die Wangen des Schotten streichelte, fühlte er sich plötzlich nicht nur glücklich, sondern fast sogar unbesiegbar.

    Doch mit einem drückenden Schuldbewusstsein kehrten alsbald die düsteren Gedanken zurück in seine Sinne. Voller Nervosität dachte er an den letzten Amoklauf des Koreaners, das seltsame Einschreiten von Marilou und das unverständliche Verhalten seines ghanaischen Kollegen. Bruchstückhaft kehrten mehr und mehr detaillierte Erinnerungen kurz vor seiner Bewusstlosigkeit in seine Gedankenwelt zurück, die sich nun wieder langsam regenerieren konnte.

    Thomas warf einen kurzen Blick auf seine sportliche Armbanduhr und erschrak. Es war schon verdammt spät geworden und Thomas fragte sich mit einem unangenehmen Drücken im Magen, ob der Serienkiller inzwischen ein neues Opfer gefunden haben könnte.

    Mit Unbehagen dachte er an den seltsamen Mord an Fatmir Skola. Wo hatte der Täter seine Visitenkarte hinterlassen? Wo gab es bei diesem Toten einen Hinweis auf die nächste Uhrzeit?

    Der nachdenkliche Schotte ging den Tatort noch einmal gedanklich durch. Am Kühlschrank selbst hatte es keinen Hinweis gegeben, keine auffällige Zahl oder ein seltsamer Firmenname. Die Leiche des Toten war auch nicht anderweitig präpariert worden, die Kleider des Toten ebenfalls nicht, so weit er dies bei seinen kurzen Untersuchungen hatte feststellen können.

    Der junge Polizist zermarterte sich den Kopf, während er geistesabwesend über die weichen Schenkel der Brasilianerin strich. Als diese sich gerade leicht aufrichtete und ihrem Partner einen Kuss auf die Lippen hauchte, welchen dieser kaum erwiderte, fiel es dem Schotten plötzlich wie Schuppen vor die Augen.

    Nervös richtete er sich auf, packte seine Partnerin an den Schultern und drückte sie langsam in der Dusche hoch. Erhitzt ging er die Möglichkeit noch einmal in seinem Kopf durch und bekam nun doch erste Zweifel, ob seine plötzliche Lösung die richtige war. Auf den ersten vermeintlichen Geistesblitz folgte die Ernüchterung und doch rappelte sich der Schotte auf. Seine Idee war zwar nur sehr vage, aber er redete sich ein, dass dies immer noch besser war, als wenn er gar keinen blassen Schimmer gehabt hätte. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich voller Trotz an seinen Einfall.

    Seine hektischen Gedankengänge wurden durch die weiche Stimme der Brasilianerin unterbrochen, die gleichzeitig irritiert und besorgt wirkte und ihrem Partner fest in die Augen blickte und an seinen Schultern rüttelte.

    „Was ist los mit dir?“, wollte Elaine Maria da Silva wissen.

    „Ich musste gerade wieder an die Morde denken. Ich habe eine Idee, für welche Uhrzeit der nächste Mord geplant sein könnte. Wir müssen jetzt schnell handeln und alle Leute zusammenbringen, um die Pläne des Psychopathen zu durchkreuzen.“, bemerkte Thomas voller wildem Eifer.

    „Wenn es so einfach wäre, dann würde mich das wundern. Bis jetzt hat der Täter noch keinen Fehler gemacht und irgendwelche Apparaturen immer an den passenden Stellen befestigt. Wir müssten das Verhalten jedes einzelnen Anwesenden perfekt analysieren, um auf demselben Niveau wie der Täter zu denken. Nur wenn wir das schaffen, dann können wir auch diese Morde verhindern. Aber ich stelle mir das ganze recht schwer vor. Manche Anwesenden wirken selbst auf mich undurchschaubar.“, entgegnete die Brasilianerin, die mit einem Mal wieder sehr kühl wirkte und dem übereiligen Optimismus ihres Partners einen herben Dämpfer verpasste.

    „Welche Personen wirken auf dich denn undurchschaubar?“, wollte Thomas wissen, nachdem er seine aufkeimende Enttäuschung und das leise Wutgefühl im Bauch erfolgreich unterdrückt hatte.

    „Ich denke da vor allem an zwei Personen. Zum Einen deinen Kollegen, der sich arg seltsam verhält. Er scheint immer motiviert und ganz vernünftig zu sein, aber diese scheinheilige Überlegenheit könnte er auch für Dinge benutzen, mit denen wir niemals rechnen würden.“, bemerkte die Brasilianerin eindringlich.

    „Das glaube ich kaum. Ich habe mit ihm zusammengearbeitet und er hat mit denselben Motiven und derselben Motivation gehandelt wie ich selbst. Er steckt auf keinen Fall dahinter.“, entgegnete Thomas im Brustton der Überzeugung, doch seine Partnerin fand wieder einmal ein schlagfertiges Gegenargument.

    „Selbst dir wird wohl nicht entgangen sein, das seit dieser Nacht irgendetwas mit ihm los ist und er sich selbst dir gegenüber abwesend und seltsam verklemmt gibt.“, entgegnete die Brasilianerin rasch und scharf und stand dabei langsam auf.

    „Alle Achtung, dir entgeht nichts.“, bemerkte Thomas mit einem anerkennenden Nicken und blickte verstohlen auf die Brasilianerin, die sich aufgerichtet hatte und in ihrer vollen Pracht mit verschränkten Armen vor ihm stand.

    „Sein Verhalten scheint irgendwie auch mit dieser Marilou zusammen zu hängen, was uns direkt zur zweiten schwer einschätzbaren Person führt. Die Frau wirkt sehr verschlossen und fast unnahbar, selbst für Abdullah. Sie wirkt auf mich manchmal fast depressiv, hat dann wieder extreme Stimmungsschwankungen und kann sehr energisch und kalt sein. Sie wirkt auf mich irgendwie richtig gefährlich.“, hauchte die Brasilianerin und Thomas sah wie ein leichtes Frösteln über ihre nackte Haut strich.

    „Ich glaube nicht, dass eine Person mit solchen Stimmungsschwankungen und fast wahnsinnigem Verhalten eine so ausgeklügelte Mordserie konzipieren könnte.“, entgegnete Thomas nachdenklich.

    „Wahnsinn und Intelligenz liegen manchmal sehr nah beieinander.“, orakelte die Brasilianerin und öffnete vorsichtig den Duschvorhang, um auf elegante Weise auf das blütenweiße Handtuch auf dem Boden zu steigen. 

    „Ich halte beide deiner Vorschläge für weniger passend, aber ich weiß selbst absolut nicht, wer dahinter stecken könnte. Was aber meine Idee angeht, so glaube ich, dass der nächste Mord um 14 Uhr stattfinden wird.“, wechselte Thomas das Thema und sah mit einem zufriedenen Lächeln, wie sich seine Partnerin überrascht und langsam zu ihm wandte, während er fast triumphierend und lässig im Rahmen der Duschbegrenzung stand.

    „Wie kommst du zu der Annahme?“, fragte die Brasilianerin nach anfänglicher Überraschung mit deutlich skeptischem Tonfall.

    „Ich bin gedanklich noch einmal den letzten Tatort durchgegangen. Lange Zeit habe ich im Dunkeln getappt, denn es gab keinerlei offensichtliche Anspielungen auf einen nächsten Todeszeitpunkt. Keine auffällige Alkoholmarke im Kühlschrank, keine nachträgliche Tätowierung des Opfers, keinerlei Zahlen auf der Kleidung des Toten. Daher gibt es nur den Schluss, dass die Tatwaffe selbst das entscheidende Indiz ist.“, bemerkte Thomas vorsichtig und sah ein anerkennendes, aber noch nachdenkliches Nicken seiner Partnerin, die sich inzwischen ein blütenweißes Laken um die Taille gelegt hatte.

    „Du meinst die Gasflasche, oder?“, schlussfolgerte sie mit zusammengekniffenen Augen.

    „Ganz genau. Darauf stand die Abkürzung für Helium. Dieses austretende Gas hat den Tod des Alkoholikers provoziert. Helium besitzt die Ziffer zwei im Periodensystem.“, fügte Thomas hinzu und sah mit eifriger Erregung, wie sich das Gesicht der Brasilianerin verständnisvoll aufklärte und sie kurz lächelte.

    „Du meinst also, dass das nächste Opfer um zwei Uhr seinen Tod finden wird, nicht wahr? Respekt, darauf wäre ich niemals gekommen. Die Naturwissenschaften waren nie meine Stärke.“, bemerkte sie, trat zu Thomas heran und stich ihm sanft über den nackten Bauch, sodass der Schotte ganz verlegen wurde und mit einem Mal fast schon Angst vor seinem eigenen couragierten Geistesblitz bekam.

    „Nun, meine Stärke ist es auch nicht gerade gewesen. Es ist ja auch nur eine vage Theorie.“, bemerkte Thomas nun überraschend bescheiden stotternd.

    „Du bist etwas ganz Besonderes, das solltest du hier nicht in falscher Bescheidenheit vertuschen. Du bist die einzige Person in diesem Haus, die es intellektuell überhaupt mit dem Täter aufnehmen kann. Du hast Schicksalsschläge erlitten, viele Dinge erlebt, dir in deiner Zeit im Kloster viel Wissen angeeignet, du bist weniger hitzköpfig, als die meisten anderen Anwesenden. Ich hätte nie gedacht, dass du dich so entwickeln würdest. In unserer gemeinsamen Schulzeit warst du für mich ein einfacher, langweiliger Typ, der wahllos Frauen, Alkohol und jedem verrückten Kräftemessen mit seinen Kumpanen erlegen war. Jetzt bist du sogar mir überlegen und hast einen Blick hinter meine Fassade geworfen, was niemandem zuvor gelungen ist.“, bemerkte Elaine Maria da Silva sanft und Thomas dankte ihr dieses Lob mit einem warmen Lächeln. Noch nie hatte ihm irgendjemand in seinem Leben ein ähnliches Kompliment gemacht. Er war so lange Zeit allein, isoliert gewesen und fing jetzt gerade an das Eis der Einsamkeit zu durchbrechen. Würde es für ihn eine bessere Zukunft geben? Würde auch er sich eines Tages vollständig und erwachsen in die Gesellschaft integrieren können? Würde er diese Ereignisse verkraften können und hatte seine Beziehung zu der Brasilianerin möglicherweise gar eine Zukunft?

    In diesen Momenten durchströmte den schottischen Polizist ein selten gekanntes Gefühl von Optimismus. Mit wohligen Tränen des Glücks in den Augen nahm er seine Partnerin die Arme und genoss das elektrisierende Gefühl der wahren Geborgenheit, um für die bevorstehenden Herausforderungen neue Kräfte zu tanken.

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    Kapitel 90: Samstag, 10 Uhr 12 Bibliothek

    Thomas erstarrte beim Anblick des Koreaners, der besonders ihn kalt und triumphierend zu mustern schien. Wieder einmal erlebten die Anwesenden eine faustdicke Überraschung und unheilvolle Wende. Die Verkettung der wahnwitzigen Ereignisse schien einfach nicht mehr abzubrechen.

    Thomas war völlig konsterniert, als er das großkalibrige Gewehr in der Hand des Koreaners erblickte, dessen Lauf dieser nun grob in den Rücken Abdullahs stieß, der zitternd zu Boden sank und hilflos nach vorne krabbelte. Neben ihm stand Björn Ansgar Lykström wie versteinert, keine Regung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und doch konnte Thomas fühlen, dass der Schwede kurz davor zu sein schien, eine ähnlich kurzschlussartige Tat zu begehen, wie es erst in der vergangenen Nacht der Fall gewesen war. Mit dem kleinen Unterschied, dass er dafür dieses Mal auch konkrete und triftige Gründe hatte.

    Gwang-jo gab dem Schweden einen deftigen Stoß in den Rücken, sodass dieser fast gleichgültig auf die Lehne des Sessels fiel, der unmittelbar vor ihm stand. Jetzt hatte Gwang-jo freie Sicht auf alle Anwesenden und genoss es sichtlich wieder einmal im Mittelpunkt zu stehen. Langsam und drohend entsicherte er das Gewehr und visierte mit einem bösen Lächeln zunächst Thomas an, der versuchte dessen Blick hart zu erwidern. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass seine Hände anfingen zu zittern und der Schweiß ihm über Stirn und Wangen lief. Thomas machte sich keine falschen Hoffnungen. Er wusste genau, dass der Koreaner alles Andere als zimperlich war und sich nicht scheuen würde direkt abzudrücken.

    Für Thomas gab es in dieser bedrohlichen Situation nur eine Möglichkeit. Er musste den Koreaner hinhalten, ihn in ein Gespräch verwickeln, um irgendwie Zeit zu gewinnen und sich einen neuen Plan zu Recht zu legen. Vielleicht würde er ihn auch so sehr ablenken können, dass eine dritte Person den Koreaner überwältigen könnte, denn Thomas war nie im Leben schneller als der Schuss, der sich aus dem Gewehr lösen würde. Verzweifelt klammerte Thomas sich an den brüchigen Strohhalm der Solidarität.

    Mit zitternder Stimme begann er Gwang-jo anzusprechen, presste dabei jedoch stark die Lippen zusammen, um seine Nervosität zu unterdrücken. Sein Stolz verbot es ihm, dem Koreaner gegenüber Angst zu zeigen, denn dieser würde sich dadurch nur bestätigt fühlen.

    „Wo hast du die Waffe her?“, wollte Thomas mit gepresster Stimme wissen und blickte sein gegenüber stoisch an.

    „Während du dein Nickerchen gehalten hast, bin ich in dem Unwetter nach draußen gegangen und war in dem kleinen Schuppen, wo unser Butler sich schon bedient hatte. In einer alten Truhe habe ich tatsächlich dieses schöne Gewehr gefunden. Ich war nicht ganz zufällig dort, denn ich wusste ja, dass der Schlossherr ein begeisterter Jäger war. Die Waffen in seinem Arbeitszimmer sind leider allesamt ungeladen und die Munition konnte ich dafür noch nicht finden. Daher führte mich meine zweite glorreiche Idee in den Schuppen.“, berichtete der Koreaner mit einem Anflug von Stolz und Überheblichkeit.

    „Wie konntest du denn dann die beiden Männer überraschen und hierher führen?“, wollte Thomas wissen und versuchte schielend mit seinem Kollegen Mamadou Blickkontakt aufzunehmen, da er diesem noch am ehesten zutraute, in dieser Szene entscheidend einzugreifen.

    Der Ghanaer erwiderte seinen Blick und erhob sich geräuschlos und langsam aus seinem Sessel. Dabei bemerkte Thomas etwas, was er kaum glauben konnte. Die Waffe, die Mamadou in der Nacht noch vermisste hatte, hing plötzlich wieder an seinem Gürtel!

    Nach eben jener Waffe griff der Ghanaer nun und Thomas beeilte sich die Aufmerksamkeit des Koreaners wieder nur auf sich zu fokussieren und noch ein wenig Zeit zu gewinnen.

    „Das war ganz einfach. Björn Ansgar Lykström befand sich draußen, er hatte sich mit einem Messer bewaffnet und durchkämmte den Wald. Ich nehme an, dass er nach diesem komischen Wolf geguckt hat, der ja immer noch am Leben zu sein scheint, aber vielleicht doch verletzt ist, wenn der Butler wenigstens ein Mal die Wahrheit gesagt hat. Was Abdullah Gadua angeht, so habe ich ihn im hinteren Teil des Schlosses bei seinem Morgengebet angetroffen. Auch er ist der Religion zum Opfer gefallen, so wie es auch bei der Italienerin schon der Fall gewesen ist. Ich kann diese ganzen blinden Gläubigen nicht verstehen, ihre verdammten Götter werden ihnen auch niemals helfen.“, verkündete Gwang-jo mit zorniger Stimme und versuchte mit dieser Aussage seinen schottischen Gesprächspartner, der ja selbst sehr gläubig war und eine immerhin nicht unbeträchtliche Zeitspanne seines Lebens im Kloster verbracht hatte, bewusst zu provozieren, wie es nun einmal seine Art war.

    „Was hast du nun vor? Willst du nur mich umbringen? Willst du uns alle der Reihe nach töten?“, wollte Thomas wütend wissen und stellte mit einem raschen Seitenblick fest, dass Mamadou sich nun vollends aus seinem Sessel gestemmt und seine Hand schon am Gürtel hatte, während er atemlos und mit wachen Augen die Diskussion verfolgte.

    „Du hast mich durchschaut, Bulle. Selbst ich kann mir inzwischen nicht mehr sicher sein, dass der Butler wirklich hinter allem steckte. Das Risiko ist zu groß, denn ihr habt euch offensichtlich alle gegen mich verschworen und deshalb musste ich reagieren. In dieser Nacht habe ich mir einen Plan zurechtgelegt und viel nachgedacht. Ich bin zu einem einzigen Ergebnis gekommen. Wenn ich überleben will, dann muss ich euch alle um die Ecke bringen. Ich weiß lediglich von mir selbst, dass ich nicht der Täter bin. Ihr müsst sterben und mit dir fange ich auch gleich an, Bulle!“, drohte der Koreaner dem Schotten und visierte plötzlich den Kopf des jungen Polizisten an.

    Rasch und geübt nahm er Maß und hatte den Finger schon am Abzug. 

    Thomas hatte kurz zu Mamadou geblickt, der seine Waffe zwar in der Hand hielt, aber sie mit verbissenem Gesicht erst noch entsichern musste. Dadurch gewann Gwang-jo nochmals einige Sekunden wertvoller Zeit.

    Thomas hatte sein bisheriges Überleben nur der Überheblichkeit seines Gegenübers zu verdanken. Während er selbst in Schweiß ausbrach und ein kaltes Schaudern unablässig durch seinen Körper wallte, wollte der Koreaner den sadistischen Triumph noch weiter auskosten. Instinktiv öffneten sich die Schließmuskeln des Schotten und sein Körper verfiel in ein konvulsivisches Zucken. Er spürte eine unerträgliche Angst in sich, die er trotz seiner harten Lebensgeschichte noch nie zuvor erlebt hatte. Jedes Maß an Selbstbeherrschung und innerer Balance, die er sich zu seiner Zeit im Kloster mühsam angeeignet hatte, schien in wenigen Tagen verlernt und völlig verpufft zu sein. Thomas hatte nicht nur der fleischlichen Versuchung nicht widerstehen können, sonden auch jetzt war er kurz vor der absoluten Hyperventilation.

    War er vorhin noch in eine regelrechte Melancholie verfallen, so rebellierte in ihm nun der Sinn des Überlebensgeistes. Feurig und hart wie sein Herz stemmten sich seine Sinne gegen den Tod und seine Instinkte übernahmen in diesen Momenten die Kontrolle.

    „Verabschiede dich von dieser tristen und ungerechten Welt, Thomas Jason Smith. Schicke dein letztes Stoßgebet gen Himmel, du dreckiger Mönch.“, knurrte Gwang-jo mit kalter Stimme, um sein Gegenüber noch mehr zu demütigen.

    In diesem Moment geschahen plötzlich mehrere Dinge zeitgleich.

    Zunächst hörte Thomas ein metallisches Klicken, während er selbst sich mit der Stoßkraft seiner Arme ansatzlos über die gepolsterte Lehne des Sessels katapultierte. Im selben Moment ertönte ein Knall, der sofort von einem zweiten Schuss erwidert wurde, während Thomas fast wie in Zeitlupe auf die Glasplatte des kleinen Tisches knallte, die klirrend zerbrach. Im selben Moment spürte Thomas einen brennenden Schmerz in seiner Seite und spürte wie heißes Blut aus einer Wunde rann und ein Adrenalinstoß seine Sinne benebelte, bevor er grob auf den Teppich fiel, der sich unterhalb des demolierten Tisches befand. Seine Beine hingen noch über dem Holzrahmen des Tisches und seinen Kopf hatte er sich an einem der Tischbeine schmerzhaft gestoßen. 

    Im Moment seiner Landung hörte Thomas einen erschrockenen Schrei, ein lautes Poltern und ein dumpfes Geräusch, als irgendein Gegenstand auf einen der Teppiche fiel. Der erste Schrei vermischte sich mit einem zweiten, der weitaus tiefer und aggressiver war und erneut hörte Thomas ein dumpfes Geräusch, während Tränen des Schmerzes seinen Blick benebelten und der stechende Schmerz ihn instinktiv dazu zwang, sich wälzend zusammenzukauern.

    Damit war die ereignisreiche Handlungskette aber keinesfalls beendet, denn ein dritter und schriller Schrei mischte sich unter die beiden anderen. Thomas ordnete die Stimme einer Frau zu und schaffte es unter enormen Anstrengungen einen Blick auf die Geräuschquelle zu werfen. Trotz seiner Unruhe und seines Schmerzes, rekonstruierte Thomas fast in Sekundenschnelle, wie sich alles zugetragen haben musste. In diesen Momenten des Nachdenkens versank er in eine dumpfe, isolierte Welt, in der sein Schmerz nur noch pochend, aber nicht mehr stechend war. Er fühlte sich wie ein Betrunkener, der im Delirium plötzlich eine Erleuchtung hatte. Er verstand diesen Vorgang nicht, es kam einfach über ihn. Wie in einem Film liefen die Ereignisse und Fäden in seinem Kopf zusammen und er ließ die letzten Augenblicke Revue passieren.

    Das metallische Klicken war von Mamadou ausgegangen, der seine Waffe entsichert und es wohl irgendwie noch geschafft hatte, einige Millisekunden vor Gwang-jo seinen Schuss abzufeuern. Offensichtlich hatte der Schuss nicht etwa den Koreaner selbst getroffen, sondern dessen großkalibriges Gewehr. Gwang-jo war selbst noch im letzten Moment zum Schuss gekommen, was somit den zweiten Knall erklären konnte. Danach hatte der Koreaner die Waffe vor Schreck oder auch durch die Wucht des Angriffs von Seiten des Ghanaers fallen gelassen.

    Mamadou hatte sofort nachgesetzt und sich auf den überrascht aufschreienden Koreaner gestürzt. Die beiden lagen inzwischen verbissen umklammert auf dem Boden, als mit einem Mal Marilou Gauthier entsetzt rufend dazwischen gegangen war und mit erstaunlicher Kraft die beiden Streithähne auseinander bringen wollte.

    Thomas blickte zu seiner Wunde und bemerkte, dass nicht etwa eine Pistolenkugel ihn getroffen hatte, sondern ein fast handtellergroßer Glassplitter, der aus dem Tisch herausgebrochen war. Die Pistolenkugel musste wenige Millisekunden nach dem beherzten hechtsprung des Schotten in das Polster des Sessels hineingejagt sein.

    Mit verzogenem Gesicht griff Thomas nach dem blutüberströmten Splitter, der zum Glück jedoch nicht zu tief in die Haut eingedrungen war. Mit einem kurzen Ruck zog er sich das Glas heraus und schrie voller Schmerz laut auf. Dabei zitterte seine Hand so sehr, dass er sich mit dem Splitter noch die Unterseite der Handfläche oberflächlich aufritzte. Energisch warf er die Scherbe  im hohen Bogen weg, wobei sie fast noch seine starr sitzende Partnerin Elaine Maria da Silva getroffen hätte, die erst dadurch aus ihrer Lethargie gerissen wurde. Ihr Blick klärte sich und sie sprang auf, um Thomas besorgt zur Hilfe zu eilen.

    Dieser bemerkte, dass es Marilou inzwischen tatsächlich gelungen war die kämpfenden Männer zu trennen. Erstaunlich grob stieß sie den verwunderten Mamadou zurück, packte ihrerseits nun den angeschlagenen Koreaner, den sie am Kragen seines Hemdes in die Höhe zog und ihm einen brutalen Stoß mit dem Knie in die Magengrube verpasste. Dann stieß sie auch ihn von sich und Gwang-jo fiel kraftlos zu Boden.

    Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und wirkte zum ersten Mal wirklich verletzlich und ängstlich. Seine Arroganz und Kraft schien gebrochen und die Frankokanadierin verpasste ihm, als ob sie die Demütigung nur noch steigern wollte, einen kurzen, aber heftigen Tritt gegen die Stirn. Gwang-jo sank entgültig stöhnend in sich zusammen.

    Energisch wandte sich Marilou um und ihr Blick traf den des Ghanaers, der sie halb verwundert, halb lauernd musterte. Erstaunlich selbstsicher richtete sie das Wort an ihn.

    „Hol am besten ein paar Stricke aus dem Zimmer des Butlers. Wir müssen diesen verrückten Koreaner bändigen, bevor er uns alle abschlachten wird.“, bemerkte sie und blickte Mamadou für einige Sekunden hart an.

    Der Ghanaer wirkte wie betäubt und es dauerte eine ganze Weile, bis er überhaupt eine sichtbare Reaktion auf diesen Befehl zeigte. Erst nach fast einer Minute nickte er zögernd und wandte sich mechanisch ab, um die Bibliothek durch den kurzen Tunnelgang zu verlassen. Marilou blickte ihm mit einem mysteriösen Lächeln hinterher.

    Thomas wurde inzwischen von der schönen Brasilianerin auf die Beine geholfen. Sie blickte skeptisch auf die kleineren Schnittwunden an seinen Armen und die immer noch quellartig blutende Wunde an der Seite des Schotten. Vermutlich war irgendeine Arterie getroffen worden. Entschlossen nahm die Brasilianerin den Schotten an der Hand und zerrte diesen aus der Bibliothek heraus.

    Der angeschlagene Thomas ließ dies mit sich machen, da er sich immer schwächer fühlte und ihm mehr als einmal auch schwarz vor den Augen wurde. Er wandte sich noch ein letztes Mal um und begegnete dem harten Blick der Kanadierin, die in dieser Situation plötzlich die Kontrolle ergriffen hatte, während selbst ihr Mann völlig perplex war und mit dem schwedischen Lehrer verwunderte Blicke austauschte. Marilou stand zentral in der Bibliothek und wirkte fast schon majestätisch. Der Anblick der erstaunlichen Frau veschwamm vor den Augen des erschöpften Schotten, der kaum einen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

    In diesem Moment wurde Thomas von der Brasilianerin entschlossen weitergeführt. Der schottische Polizist wankte mehr, als dass er sich selbstständig fortbewegte. Er fühlte sich elend schwach und schmutzig. Schweiß, Blut und Urin bedeckten seinen Körper, doch er war viel zu schwach und von den letzten Geschehnissen noch paralysiert, als dass er ein bewusstes Schamgefühl empfand.

    Vor sich sah er nun die breite Treppe der düsteren Eingangshalle, in der es unangenehm kalt war, da der Wind geräuschvoll unter dem Spalt des Eingangsportals in das Schloss drang.

    Am Ende des Aufstiegs stand Mamadou, der sich verwundert zu den beiden umwandte, Thomas fest anblickte, irgendetwas sagen wollte, dann jedoch einen kurzen Blick auf den Durchgang zur Bibliothek warf, in den inzwischen Marilou getreten war. Verbissen wandte sich Mamadou ab und näherte sich träge dem Aufgang zum Schlossturm, während Elaine und Thomas zunächst dieselbe Seite in Richtung des Zimmers der Brasilianerin ansteuerten, nach einigen Metern allerdings einen anderen weg einschlugen als der Ghanaer, der nicht einmal mehr die Courage hatte sich zu dem Pärchen umzuwenden, sondern eilig die Wendeltreppe zum Schlossturm erklomm.

    Thomas bekam nur noch unterbewusst mit, wie er in das Zimmer der Brasilianerin gelangte, die ihn sanft auf das weiche Bett legte, in welches der Schotte tief hineinsackte und wohlig aufstöhnte. Er spürte wie betäubt, dass Elaine ihm sein Hemd vorsichtig entfernte und dann kurz in das Badezimmer ging, aus dem sie mit einem Becher und einem Wattebausch zurückkehrte.

    Thomas spürte noch einmal einen brennenden Schmerz, als die junge Schönheit seine Wunde mit irgendeinem hochprozentigen Schnaps desinfizierte. Tränen schossen durch die Augen des Schotten, doch selbst für einen schmerzhaften Aufschrei war er zu schwach. Er bemerkte schließlich auf dem kleinen Tisch neben dem Bett eine Flasche, in der sich eine durchsichtige Flüssigkeit befand, die stark nach Alkohol roch.

    Aus irgendeinem Instinkt heraus griff Thomas Jason Smith nach der Flasche, setzte sie zitternd an seine Lippen und flößte sich die brennende Flüssigkeit durch seine Kehle in seinen Magen ein. Die brennende Wärme verwandelte sich nach kurzer Zeit in eine wohlige und benebelte dem Schotten die ohnehin schon geschwächten Sinne.

    Der Schmerz entschwand und die Flasche sank kraftlos aus seinen Händen und fiel dumpf auf den Boden, wo Elaine Maria da Silva sie rasch aufhob und Thomas besorgt anblickte. Sie wischte eine Haarsträne aus seinem Gesicht und dies war das Letzte, was Thomas vorläufig mitbekam.

    Wie schon sooft in den letzten Stunden sank er erschöpft in sich zusammen und zollte den sich überschlagenden Ereignissen Tribut. Benebelt fiel der schottische Polizist in einen fast schon komatösen Schlaf. Eine düstere und tiefe Schwärze umfing seine Sinne, aus der er später erstaunlich sanft herausgerissen werden sollte.

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    Kapitel 89: Samstag, 9 Uhr 38 Bibliothek

    Es war ein leichter Geruch von frisch gekochten Eiern und deftigem Speck, der Thomas am nächsten Morgen verführerisch weckte. Der junge Schotte musste sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, wo er sich überhaupt befand und empfand diesen fast idyllischen und delikaten Geruch als unpassend. Dennoch schienen seine Sinne ihn nicht zu trügen, denn durch das offene Portal zum Speisesaal drang feiner Rauch und Thomas hörte entfernt sogar, wie mindestens eine Person mit irgendwelchen Pfannen oder Töpfen hantierte.

    Der junge Schotte schlug nun entgültig seine Augen auf, doch statt eines friedlichen und sonnigen Morgens, der zu solch einem derben Frühstück gepasst hätte, umfing ihn nur der staubige Geruch alter Bücher und ausrangierter Teppiche, sowie das diffuse Kerzenlicht der Bibliothek.

    Thomas sah mehr aus den Augenwinkeln heraus, wie eine Person vorsichtig aus dem Raum und in Richtung des Eingangsportals schritt, als ob sie ein enormes Schuldbewusstsein mit sich tragen würde und ihre Identität um jeden Preis verheimlichen wollte. Thomas hatte gerade die Augen zusammengekniffen und sich selbige stark gerieben, als die Person plötzlich verschwunden war, als ob es sie nie gegeben hätte. Thomas kratzte sich nachdenklich an der Schläfe und zweifelte an seinem Verstand. Behäbig ließ er seinen Blick durch den Rest der Bibliothek streifen und ein heißer Schreck fuhr ihm durch alle Glieder.

    Alle Anwesenden waren verschwunden! Der schottische Polizist war die einzige Person, die sich noch in der Bibliothek befand. Erschrocken zuckte Thomas aus seinem Sessel hoch und spürte sofort ein unangenehmes Ziehen im Nacken. Er hatte sehr ungünstig geschlafen und auch seine Schultern taten ihm vom Muskelkater bereits jetzt weh.

    Kaum hatte er sich erhoben, als er ein lautes Scheppern hörte, dass sich unaufhörlich und monoton fortlaufend der Bibliothek näherte. Ein seltsames regelmäßiges Quietschen begleitete dieses Geräusch und die Nackenhaare des Schotten richteten sich langsam und warnend auf.

    Mit einem Mal war alle Müdigkeit wieder verflogen und Thomas analysierte sofort den Ort des Geschehens. Das Geräusch kam aus dem Speisesaal und Thomas haderte nicht zu lange. Schnell richtete er sich auf und schleppte sich hinter den aufgeklappten Teil des Portals zwischen der Bibliothek und dem Speisesaal, wo er eine wunderbare Deckung hatte und den lauten Ankömmling beobachten konnte. Schnaufend erreichte Thomas sein Ziel, hatte jedoch noch eine Art dumpfes Gefühl im Kopf, das ihn fast zu einem Schwindelanfall führte. Jetzt war jedoch nicht die Zeit für falsches Selbstmitleid. Thomas hatte sich stramm und diszipliniert in den toten Winkel des Portals gestellt.

    Das Geräusch kam immer näher, als der linke Türflügel plötzlich weiter aufgestoßen wurde und eine Person mit einem riesigen Speisewagen in die Bibliothek kutschiert kam. Darauf lagen nicht nur das Silberbesteck, was wohl so sehr geklirrt hatte, sondern auch mehrere Teller, auf denen Thomas Spiegeleier, Speck und einige Bohnen sah. Wie zur Bestätigung dieser These knurrte der Magen des jungen Schotten in diesem Moment tatsächlich nicht unerheblich und die bislang unerkannte Person stieß rasch nach vorne zu und wandte sich abwehrend und mit finstren Blick zu dem Beobachter im toten Winkel zu.

    Thomas Herzschlag setzte vor Schreck kurzzeitig aus, doch die Erleichterung war umso größer, als er bemerkte, wer sich die ganze Arbeit gemacht hatte und dass seine Nervosität völlig überflüssig gewesen war.

    Vor ihm stand Elaine Maria da Silva, die vor Aufregung noch zitterte und das lange und scharfe Küchenmesser, welches sie instinktiv vom Speisewagen genommen hatte, in der Hand hielt. Wieder einmal fiel Thomas auf, dass die Brasilianerin seit dem gemeinsamen Schäferstündchen viel humaner, weicher, aber dadurch vielleicht auch angreifbarer wirkte. Hatte Thomas einen so großen Einfluss auf die sonst so selbstsichere Autorin? Empfand sie für ihn wirklich so etwas wie wahre Liebe? Der Schotte wurde aus seiner neuen Partnerin, falls es denn überhaupt eine war, nicht schlau, doch allein bei dem Gedanken an ihre gemeinsame Nacht, spürte er ein gieriges Verlangen in sich aufsteigen, was ihn erregte, aber gleichzeitig auch beschämte und fürchtete, als ob er mit einer schlechten und gefährlichen Dame fremdgehen würde.

    Die Brasilianerin ließ das Küchenmesser geräuschvoll auf den Speisewagen fallen und ließ sich stöhnend in den nächstgelegenen Sessel fallen, rieb sich die Augen und blickte Thomas in einer Mischung aus Erleichterung und Wut an.

    „Du hast mir einen tierischen Schrecken eingejagt.“, warf Elaine ihm vor und verschränkte ihre Arme trotzig vor dem weiten Ausschnitt ihres Kleides.

    „Das könnte ich von dir auch sagen, schöne Dame.“, konterte Thomas mit weicher und charmanter Stimme und schritt langsam auf die Brasilianerin zu, die jeden seiner Schritte mit einem mysteriösen Lächeln verfolgte.

    „Vielleicht verzeihe ich dir das noch mal.“, entgegnete die Brasilianerin so spöttisch, dass Thomas sofort bemerkte, dass sie nicht mehr besonders wütend auf ihn war und schon an ganz andere Dinge zu denken schien.

    Der Schotte spürte eine heiße Regung in sich, versuchte diese jedoch zu unterdrücken. Er atmete tief durch, hielt in seinem Schritt inne und merkte, wie sich das Gesicht der Brasilianerin zu einer traurigen Grimasse verzog. Thomas seufzte, doch selbst er wollte sich nicht dem Gefühl der trügerischen Eintracht und des Verlangens hingeben. Zu viele Fragen und Probleme schossen ihm durch den Kopf. Er schaffte es erstmalig seine inneren triebe bewusst zu unterdrücken, doch dies ermutigte ihn kaum.

    „Wo sind die anderen Anwesenden hin?“, wollte Thomas wissen und seine Partnerin antwortete erst nach einigen Sekunden des Schweigens.

    „Warum musst du immer nur an solche Dinge denken? Ein wenig Abwechslung und Ruhe würde uns gut tun. Solange wir zu zweit sind, kann uns nichts passieren.“, entgegnete die Brasilianerin trotzig und enttäuscht.

    Thomas atmete durch und ließ sich nachdenklich auf eine alte Couch fallen, die dem Sessel der Brasilianerin schräg gegenüber stand.  Elaine blickte ihn störrisch und herausfordernd an.

    „Elaine, ich würde auch lieber an andere Dinge denken. Es ist bedauerlich, dass sich unsere Wege in dieser Form erst jetzt gekreuzt haben. Es ist schlecht, dass ich dich in solch einer extremen Situation richtig kennen gelernt habe, in der wir keine Zeit für Zärtlichkeit und Vertrauen haben. Es geht nicht nur um unser Überleben, es geht darum, dass ich diesen wahnsinnigen Psychopathen kriegen will, der all unsere Leben einfach zerstören will.“, erläuterte der Schotte seine Gedankengänge.

    „Warum denkst du immer an alle Anderen? Sie geben dir nichts, manche sind dir sogar feindlich gegenüber eingestellt. Warum bist du bloß so sozial eingestellt?“, wollte die Brasilianerin wissen und wurde dabei lauter und fast hysterisch.

    „Wenn du denkst, dass ich sozial eingestellt bin, dann täuschst du dich in mir. Ich war in den letzten Jahren sehr egoistisch. Ich habe in einem Kloster gelebt, ich habe mich nur um meine eigenen Probleme gekümmert, Familie und Freunde vernachlässigt und selbst meine ambitionierten Karrierepläne einfach auf der Strecke gelassen. Ich bin ein Außenseiter, ein einfacher Polizist, nicht einmal besonders herausragend. Dafür hätte ich niemals diese Privatschule besuchen müssen.“, berichtete Thomas mit schwerem Herzen und fühlte sich mit einem Mal wie vor den Kopf gestoßen und lethargisch.

    „Diese Ereignisse haben dich verändert. Es mag komisch klingen, aber diese Gräueltaten, haben aus dir einen besseren Menschen gemacht. Du bist aufopferungsvoll, du bist mutig, du nimmst eine Führungsposition unter allen Anwesenden ein und versuchst uns allen zu helfen. Wenn du denkst, dass ein Teil deines Lebens nur verlorene Zeit war, dann bist du jetzt gerade dabei, dein Leben zu verändern. Wenn das hier vorbei ist, dann wird es mit dir wieder aufwärts gehen.“, bemerkte die Brasilianerin eindringlich und optimistisch und wirkte mit einem Mal wieder sehr liebevoll und aufrichtig.

    „Wieso sollte es mit mir aufwärts gehen? Ich stehe gerade unter Adrenalin, unter dem Schock der letzten Ereignisse vielleicht. Wenn die Sache hier vorbei ist, dann werde ich in ein Loch fallen, Alpträume haben, Schuldgefühle vielleicht oder Panikattacken. Ich werde wieder allein und erfolglos im Beruf sein und niemanden haben, der mir zur Seite steht. Glaube mir, ich bin viel schwächer, als du denkst.“, antwortete Thomas resigniert.

    Bei den letzten Worten des Schotten war die Brasilianerin plötzlich aufgestanden, näherte sich dem frustrierten Polizisten und setzte sich sanft neben ihn. Energisch ergriff sie seine Hand und blickte ihn mit ihren haselnussbraunen Augen eindringlich an. Im Gegensatz zu den trüben und mit Tränen gefüllten Augen des Polizisten, war ihr Blick fest und rebellisch.

    „Du wirst nicht allein sein, Thomas. Ich werde an deiner Seite sein. Ich hätte niemals damit gerechnet, aber du bist mehr als eine Inspirationsquelle für meine Romane. Du bist mehr als ein einfacher Beschützer für mich. Ich kann es mir nicht erklären, aber meine Empfindungen für dich sind tiefer und ehrlicher, als alles, was ich jemals bisher gespürt habe.“, erläuterte die Brasilianerin, deren Blick im Verlaufe ihrer kurzen Ansprache immer trauriger und flackernder geworden war. Thomas bemerkte mit Erstaunen eine Träne, die aus dem Augenwinkel der Brasilianerin floss, sich durch ihren aufgetragenen Eyeliner schwarz verfärbte und über ihre schneeweiße Wange rann.

    Thomas fühlte eine neue Wärme, einen neuen Optimismus in sich aufsteigen und auch in seine Augen schossen die Tränen. Er fühlte sich glücklich, frei, denn niemals zuvor in seinem Leben hatte eine Person so zu ihm gesprochen und ihn so berührt. Zitternd fiel der Schotte in die Arme seiner Partnerin und drückte sein Gesicht gegen ihre weiche Schulter. Sanft strich er durch ihre Haare und hauchte ihr einen Kuss über die Wange. Seine Erregung war einer leicht romantischen Ehrfurcht gewichen. Durch diese Frau war sein Weltbild, seine Gefühlslage ins Wanken gebracht worden und er konnte damit nicht anders umgehen, als in ihren Armen zu liegen und zu weinen. Er fühlte sich hilflos und gleichzeitig befreit. Was er vor Minuten noch gesagt hatte, war mit einem Mal wie fortgewischt.

    Doch der Moment des kurzen Glücks währte nicht lange. Kaum waren die Tränen des Schotten versiegt, als er eine dunkle Gestalt bemerkte, die mit hängenden Schultern und geballten Fäusten von der Eingangshalle aus in die Bibliothek schritt. Erstaunt erkannte Thomas seinen Kollegen Mamadou, der ihm einen verbissenen Blick zuwarf und sich ungeduldig in einen Sessel fallen ließ.

    Einige Meter hinter ihm erschien mit einem Mal fast schleichend und unbemerkt Marilou, die ebenfalls verbissen wirkte, den ghanaischen Polizisten kurz musterte und sich dann auf einen simplen Holzstuhl nahe der Tür niederließ. Nervös knabberte sie an ihrer Unterlippe, doch ebenso wie der Afrikaner blieb sie stumm.

    Thomas wollte gerade seinen Kollegen ansprechen und hatte sich mit gerötetem Gesicht aus der Umarmung mit der Brasilianerin gelöst, als dieses Mal die andere Tür von der Seite des Speisesaals aufgestoßen wurde. Wie in Zeitlupe traten die drei letzten Gäste hintereinander in die Bibliothek.

    Zunächst war dies Björn Ansgar Lykström, der mit Dreck und Staub bedeckt war. Seine Haare waren nass und fettig und hingen ihm wirr ins Gesicht. Hinter ihm war Abdullah Gadua, der schreckensbleich war und wohl bei einem morgendlichen Gebet überrascht worden war, da er traditionelle, religiöse Kleidung trug und zudem krampfhaft eine gebundene Ausgabe des Korans mit beiden Händen umklammert hielt.

    Entscheidend war aber nur die dritte Person, die langsam und bedrohlich als letzte in den Raum trat. Es handelte sich dabei um niemand Anderen, als den Koreaner Gwang-jo, der die Tür brutal und energisch hinter sich ins Schloss warf und Abdullah, der direkt vor ihm ging, einen brutalen Stoß in den Rücken mitgab, sodass dieser hilflos nach vorne stolperte, auf die Knie fiel und dabei den Koran aus den Händen gleiten ließ.

    Durch diese Tat war aber nun auch der Blick auf den Koreaner für Thomas frei, der mit jeder Sekunde nervöser geworden und in absolute Alarmbereitschaft versetzt worden war. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als er sah, wie der triumphierend und sadistisch grinsende Koreaner, der ebenfalls völlig verdreckt und verschwitzt war, seine Waffe in die Luft reckte und den entsetzten Anwesenden ein überhebliches und dreckiges Lachen entgegen schickte.

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