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    Kapitel 103: Samstag, 18 Uhr 40 Eingangshalle

     

    Nach diesen sich überstürzenden Ereignissen hatten alle Anwesenden sich zunächst eine kleine Auszeit genommen und waren nahe dem Eingangsportal zur Ruhe gekommen. Björn Ansgar Lykström stand völlig regungslos im Regen unterhalb der äußeren Treppe und kicherte nur hin und wieder heiser. Abdullah Gadua hatte seinen Arm um die Schultern seiner Gattin gelegt und stand mit ihr nachdenklich im Türrahmen. Elaine Maria da Silva hatte jedoch innerhalb des Schlosses Platz genommen und sich auf die unterste Stufe des Aufgangs zu den Zimmerfluren gesetzt. Sie knetete nervös ihre Schläfen, fixierte ihre Fußspitzen und blickte sich mehrmals fröstelnd in der Halle um. Thomas wirkte von allen Anwesenden jedoch am unruhigsten, denn er lief ständig hin und her und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Da er niemandem mehr trauen konnte und all seine Hoffnungen auf eine Aufklärung erneut jäh zerstört worden waren, sprach er gedankenverloren zu sich selbst und schaffte es so immerhin auch die hämischen Stimmen aus seinem Kopf zu vertreiben.

    „Ein Toter am ersten Tag, zwei Tote am zweiten Tag, drei Tote am dritten Tag und vier Opfer am heutigen Tag. Immerhin bleibt mir jetzt ein wenig Zeit. Das ist meine letzte Chance, ich bin in den letzten Stunden ja kaum mehr zum Überlegen gekommen. Wann könnte es den Nächsten treffen? Wo könnte am Tatort ein Indiz gewesen sein? Vielleicht die Anzahl der Zigaretten, die sich noch in der Packung des Koreaners befanden? Aber das kann nicht sein, die Schachtel war praktisch noch voll und der Täter würde bis zum nächsten Mord nicht erst bis morgen Nachmittag warten. Die restlichen Überlebenden müssen im besten Fall tot sein, bevor die Polizei hier ankommt. So gesehen wird es den nächsten Anschlag in den frühen Morgenstunden geben. Wer einschläft, der hat vielleicht schon verloren. Wir müssen uns wach halten, um jeden Preis. Verdammt, wann könnte der Täter erneut zuschlagen? Obwohl, Moment mal, da war doch noch etwas bei Gwang-jo. Genau, diese Zigarettenpackung, die Marke war mit der Zahl Fünf beschriftet. Fünf Uhr morgens. Der nächste Anschlag wird um fünf Uhr morgens erfolgen. Jedenfalls wäre das eine realistische Option. Bis dahin ist noch viel Zeit, über zehn Stunden, da kann viel passieren. Die Zeit muss genutzt werden, sofort.“, murmelte Thomas und war zuletzt immer lauter und hektischer geworden, sodass nicht nur Elaine ihm bedrückt zugeblickt, sondern auch Marilou und Abdullah ihm interessiert zugehört hatten.

    „Wir sollten den Toten zunächst einmal in den Keller bringen, wir können ihn nicht einfach draußen liegen lassen.“, bemerkte Abdullah, der sein letztes Gefühl von Moral noch nicht völlig verloren hatte.

    „Der Kerl ist das doch wirklich nicht wert.“, bemerkte seine Frau hingegen abfällig und gehässig und trat demonstrativ von ihrem Mann weg, der ihr hilflos hinterher blickte.

    „Er hat recht. Das sind wir dem Toten schuldig.“, sprach Elaine Maria da Silva dazwischen und stand demonstrativ auf und ging raschen Schrittes auf das offenstehende Portal zu, durch welches geräuschvoll der Wind ins Innere des Schlosses blies.

    Plötzlich stockte die Brasilianerin jedoch in ihrem Schritt und wandte sich wie vom Blitz gerührt um. Stammelnd rieb sie sich die Augen und blickte erneut nach draußen. Thomas hatte bereits eine düstere Vorahnung und eilte rasch zu seiner Geliebten. Symbolisch schützend legte er seine Hand auf ihre Schulter und blickte an ihr vorbei in de verregneten Vorgarten, der völlig leer vor ihnen lag. Die Leiche war verschwunden.

    „Mein Gott, das kann doch nur Lykström gewesen sein.“, schlussfolgerte Elaine Maria da Silva überrascht.

    „Weit kann er jedenfalls noch nicht sein.“, bemerkte Thomas in einer Mischung aus Zorn und Ernüchterung und drückte sich geschmeidig an den Anwesenden vorbei nach draußen.

    Rasch blickte Thomas sich um, entschied sich dann für die linke Seite, als er dort eine Art Schleifspur sah. Er setzte zum kurzen Sprint an, rutschte auf der nassen Wiese weg, fiel auf die Seite, rappelte sich grimmig stöhnend auf und lief geduckt bis zur Ecke der Schlossfront. Schwer atmend taumelte er um die Ecke und sah durch den wieder dichter werdenden Regenschauer eine verschwommene Gestalt, die einen Körper auf ihren Rücken gehievt hatte und unbeholfen, aber erstaunlich schnell in Richtung des Waldes verschwand. 

    Thomas musste sich rasch entscheiden. Es war weniger die Leiche, die ihm in diesem Moment für eventuelle Untersuchungen wichtig war, sondern der verwirrte Schwede, der in seinem Wahn womöglich sich und auch seiner Umwelt enormen Schaden zufügen konnte. Zudem vermutete Thomas auch, dass Lykström den Tod des Koreaners selbst gesehen hatte und vielleicht sogar trotz seiner Verwirrungen ein entscheidendes Detail nennen konnte. Vielleicht würde der Schwede, der auf Grund seiner geistigen Verwirrung vom Täter möglicherweise nicht mehr als Gefahr angesehen wurde, sogar den Übeltäter identifizieren oder für einen Plan von Thomas sogar einen idealen Lockvogel spielen.

    All diese Ideen schossen ihm durch den Kopf, als der religiöse Polizist sich kurz vornüber beugte, tief durchatmete, den Regenschleier aus den Augen wischte und dann hinter dem wankenden Schweden herspurtete.

    Dieses Mal hatte der Schotte sich besser an den glitschigen Boden gewöhnt und gewann rasch an Geschwindigkeit und Sicherheit. Er passierte das zerbrochene Fenster der Bibliothek, wo er auch die verkohlten Überreste der präparierten Uhr bemerkte, die er rasch übersprang oder umkurvte. Bald darauf kam er auch am durchnässten und erbärmlich anzusehenden Leichnam des gemeinen Wolfes vorbei, den er bewusst in einem weiten Bogen umging. Thomas musste immer noch an seinen kurzen emotionalen Ausbruch denken und war auch ein wenig abergläubig. Das Tier sah mehr so aus, als würde es nur schlafen und sich im nächsten Moment auf den Schotten stürzen wollen. Thomas spürte einen eisigen Schauer in seinem Rücken und ein kurzes Zittern in seinen Beinen. Für einen Moment geriet er aus der Fassung und hatte beim Anblick der dunklen und toten Augen der Bestie panische Angst. Er beschleunigte seine Schritte, fixierte den grausigen Leichnam, achtete nicht mehr auf den Weg und sah viel zu spät das Gitter des Vogelkäfigs vor sich auftauchen.

    Thomas bremste seinen Lauf noch instinktiv ab, rutschte dabei weg und fiel seitlich nach vorne, wo er mit seiner Stirn genau gegen die Eckkante des Käfigs knallte. Er hörte das verschreckte Kreischen der Tiere, sah einen roten Schleier vor seinem Gesicht und spürte, wie etwas Heißes über seine Stirn rann und ihn kurz darauf blendete. Die Welt schien sich vor seinen Augen zu drehen, auch dann noch, als er in das nasse Gras sank. Unheimliche und undefinierbare Geräusche umgaben ihn, er sah wie in einem Fieberwahn, wie sich die tote Gestalt des Wolfes erhob und mit grausamer Langsamkeit auf ihn zuwankte. Er sah den Geifer, die hässlich gebleckten Zähne, die animalischen und kalten Augen, er sah eine fast unendliche Menge von Blut, das von allen Seiten auf ihn zuzuströmen schien.

    Thomas schrie gepeinigt auf, er bekam keine Luft mehr und hatte den Eindruck in dem dunkelroten Ozean voller Blut zu ertrinken, während die Bluttropfen überall wie Nadelstiche auf ihn einprasselten. Die Gestalt des Wolfes war mit einem Mal verschwunden und danach verschwand auch der Rest seiner abstrusen Phantasiewelt völlig abrupt.

    Thomas versank in einer tiefen Schwärze ohne Gefühle und ohne Klarheit. Doch dies sollte nicht das Ende sein! Der Schotte schöpfte neue Kräfte, faltete die Hände verkrampft zum Gebet und hauchte ehrfürchtige, sinnlos gestammelte Wörter über seine Lippen. Er kämpfte nicht nur gegen die äußeren Umstände, sondern viel mehr gegen sich selbst und das verworrene Zwiegespräch mit Gott gab ihm neue Kraft und ließ ihn plötzlich ein blendendes und doch warmes Licht am Ende der rotschwarzen Düsternis der Bewusstlosigkeit aufflammen sehen. Seine inbrünstigen Gebete schienen erhört worden zu sein.

    Der schottische Polizist kämpfte sich zurück, spürte seinen langsamen und überlauten Herzschlag, die rasende Hitze in seinem Kopf, der zu zerplatzen drohte, das übelkeitserregende Schwindelgefühl. Er öffnete die Augen, sah einen roten Schleier, sah eine dunkle Gestalt auf ihn zulaufen, das Bild drehte sich, Thomas Magen drehte sich mit.

    In dem Moment, als der Schotte sich in die nasse Wiese erbrach, war die Benommenheit mit einem Mal vorbei. Der Schwindel war verflogen und hatte einem elenden Gefühl Platz gemacht, doch die Realität hatte ihn wieder. Er erkannte unter tränenden Augen, dass Abdullah auf ihn zugestürzt kam, der fragend und hektisch in Richtung des Waldes blickte, wo Lykström mit dem toten Koreaner verschwunden war. Abdullah fluchte laut, bevor er sich dem Verletzten zuwandte.

    „Du hast eine ganz schön große Platzwunde an deiner Stirn.“, bemerkte Abdullah fast schon lapidar und Thomas musste stöhnend lächeln, obwohl er genau das Gegenteil ausdrücken wollte.

    Der schwächelnde Schotte wollte noch irgendetwas erwähnen, als Abdullah kurzen Prozess mit ihm machte, seinen linken Arm ergriff, ihm unter die Schultern packte und den benommenen Schotten grob in die Höhe hievte und dann quer halb über sein breites Kreuz legte.

    Rasch und rücksichtslos setzte Abdullah sich in Bewegung, während diese Kraftanstrengung für Thomas zu viel gewesen war. Ihm wurde erst schwarz vor Augen, bevor die Übelkeit ihn erneut vor der Bewusstlosigkeit rettete und er sich geräuschvoll über sich selbst und die Schultern seines rauen Helfers erbrach, der überrascht fluchte, sich hektisch bewegte, dann aber grimmig weiterging und seinen Schritt sogar noch beschleunigte.

    Der schottische Polizist hielt seine Hände verkrampft gefaltet und wollte ein Wort der Entschuldigung zwischen seiner spröden Lippen hervorpressen, doch er brachte nur ein heiseres Krächzen zustande, das in dem Lärm des prasselnden Regens völlig unterging.

    Thomas schloss die Augen und kämpfte gegen eine weitere Welle der Übelkeit an. Sein Magen zog sich krampfartig zusammen, Thomas unterdrückte einige würgende Geräusche, atmete keuchend und schloss verbissen die Augen, Er gewöhnte sich an die monotone, wenn auch harte Schrittfolge seines Helfers und hatte sich bald wieder besser unter Kontrolle. Mit viel Konzentration gewann er den Kampf gegen die Übelkeit und sein Magen beruhigte sich knurrend und plätschernd.

    Als Thomas tief und gierig atmend wieder die Augen öffnete, sah er unmittelbar vor sich das Eingangsportal. Er bekam es sofort mit der Angst zu tun und versteifte sich schützend, als Abdullah rasch und wild gestikulierend die Stufen in Angriff nahm, deren Besteigung noch eine letzte harte Probe für Thomas war. Er sandte ein Stoßgebet gen Himmel, spannte sämtliche Muskeln an und atmete erleichtert auf, als Abdullah mit ihm durch das Eingangsportal trat, das selbiger mürrisch hinter sich zuschlug und den bereits ungeduldigen Thomas auf ein altes Sofa nahe einer Rüstung an der linken Seite des Eingangsportals bettete. Die beiden gläubigen Männer hatten es gemeinsam geschafft der meteorologischen Hölle zu entfliehen. 

    Der gepeinigte Ermittler wider Willen atmete auf, als er endlich ruhig lag, schloss die Augen und versuchte seinen Puls und seinen Magen wieder zu beruhigen. Er nahm den Geruch von Erbrochenem, Schweiß und nassem Laub war, was einer raschen Genesung nicht gerade zuträglich war. Er schaffte es diese Störfaktoren auszublenden und hatte sich bald wieder unter Kontrolle. Erneut war er für seine Zeit im Kloster wieder sehr dankbar, denn ohne die erlernte ruhige Kontrolle über Körper, Geist und Seele wäre er längst schon physisch und psychisch zerbrochen und wäre vermutlich in einem ähnlichen Zustand wie Björn Ansgar Lykström, der jetzt inzwischen wohl völlig verstört mit einem Toten im Dickicht kauerte. Auch wenn Thomas gewissen Dingen, wie der Schönheit der Frauen, nie ganz entsagen konnte, so sehnte er sich in diesen Momenten nach den schützenden Mauern des altertümlichen Klosters und schwor sich, dass er für einige Zeit dorthin zurückkehren wollte, wenn er den ganzen Schrecken überleben sollte und Gott ihm gnädig gesonnen war. Thomas konnte sich nach einiger Zeit wieder weitestgehend entspannen.

    Insofern bewunderte der Schotte durchaus die anderen Anwesenden dafür, dass sie alle noch einigermaßen normal waren. Natürlich hatte sich jeder auf seine Weise verändert im Laufe der letzten Tage, aber sie waren noch alle am Leben und hatten sich nicht völlig gegenseitig zerfleischt, was auch die unerwartet solidarische Aktion von Abdullah wieder bewiesen hatte. Dies fand Thomas umso erstaunlicher, als er daran dachte, dass der Mann ihn bei dem Kampf auf dem Springbrunnen fast noch hatte eigenhändig umbringen wollen. Scheinbar war der Mann nicht allzu schmerzempfindlich und nachtragend und diese Tat gab Thomas neue Hoffnung und schenkte ihm gar neues Vertrauen. Irgendwie spürte er, dass solch eine Person ihm nicht wirklich böse gesonnen sein konnte. Folglich blieben als potenzielle Täterinnen nur noch die beiden schwer durchschaubaren Damen übrig, denn den verwirrten Schweden schloss Thomas auch sogleich aus. Thomas spürte, dass seine Gedankengänge wieder klar und logisch waren und war fast schon nervös erregt, als er merkte, dass er für sch selbst gerade ein wichtiges Gedankenexperiment durchführte und geradezu ungewollt der Entlarvung des Täters sehr nahe kam.

    Marilou schien mit der hilfreichen Tat ihres Gatten jedoch weniger einverstanden zu sein, denn ihre Worte waren die ersten, die Thomas wieder bewusst und deutlich wahrnahm und die ihn auch wieder aus dem Konzept brachten und verhinderten, dass er gedanklich zu einem klaren Ergebnis im Bezug auf die Täterfrage kam. Er spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn, als er atemlos und auf unheimliche Art und Weise fast zwanghaft der energisch sprechenden Kanadierin lauschte.

    „Warum hast du das bloß getan? Dieser Wahnsinnige hätte dich umbringen können! Ich sagte doch, dass wir ihn mit dieser wertlosen Leiche laufen lassen können. Hätte man auf mich gehört, wäre das jetzt nicht passiert.“, bemerkte sie kritisch und Thomas spürte geradezu, wie Marilou ihn fixierte und stellte sich vor, wie sie anklagend mit dem Zeigefinger auf ihn wies.

    „Du könntest dir von seinem Anstand und seiner Solidarität eine Scheibe abschneiden.“, stichelte Elaine Maria da Silva wieder und Thomas fragte sich inständig, wann und vor allem wie dieses psychische und erniedrigende Duell zwischen den beiden Damen enden würde.

    „Wir sollten möglichst alle potenziellen Ein- und Ausgänge verriegeln, um vor diesem Psychopathen sicher zu sein.“, bemerkte Abdullah entschlossen, der wohl den verrückt gewordenen Schweden für den Täter hielt.

    „Um Gottes Willen, dann bin hier im Schloss ich ja nur noch mit Psychopathen eingesperrt.“, gab Marilou theatralisch gespielt zurück.

    „Schizophrenie ist aber auch eine gefährliche Sache.“, warf Elaine Maria da Silva spöttisch in die Runde, doch bevor ihr Seitenhieb verstanden wurde und auf fruchtbaren Boden fiel, dachte sie bereits einen Schritt weiter und nahm ihrer Gehässigkeit somit auch nicht ganz unbewusst ihre Kraft, da sie plötzlich fürchtete zu weit gegangen zu sein und auch ihr neuer Partner sie in einem möglichen Konflikt derzeit nicht mehr schützen konnte.

    „Das Versperren der Eingänge ist im Übrigen praktisch nicht möglich, allein das zerbrochene Fenster im Speisesaal spricht dagegen.“, warf Elaine Maria da Silva rasch ein.

    „Dann müssen wir uns dort positionieren und wieder Wachen aufteilen.“, gab Abdullah grimmig zurück und wollte seinen Einfall nicht revidieren oder gar aufgeben.

    „Dann bräuchten wir aber auch eine Absicherung für die Kellerräume, von dort aus könnte er auch eindringen. Das wäre aber fatal, da wir uns dann ja wieder trennen müssten und der Täter völlig freien Spielraum hätte.“, teilte die clevere Brasilianerin ihre weiteren Gedanken und Schlussfolgerungen mit.

    „Wir können doch jetzt nicht aufgeben und tatenlos herumsitzen oder nur sinnlos diskutieren.“, bemerkte Abdullah völlig ernüchtert und musste den Argumenten der Brasilianerin nun doch Tribut zollen.

    „Ganz richtig. Wir sollten deshalb das tun, was bereits vorgeschlagen wurde. Wir nehmen die Zimmer von Mamadou und Gwang-jo jetzt unter die Lupe. Wenn wir dabei gemeinsam vorgehen, dann kann uns Lykström auch nicht überraschen.“, schlug Elaine Maria da Silva mit leicht ironischem Unterton vor und Thomas konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er feststellte, dass sich die schöne Brasilianerin wieder von ihrer entschlossenen, wilden und schlauen Seite zeigte.

    Der Kommentar gab ihm neue Kraft und er öffnete langsam seine Augen. Er fühlte sich noch etwas benommen, aber schlecht war ihm nicht mehr.

    „Gebt mir noch fünf Minuten. Ich möchte kurz auf mein Zimmer, um mich zu waschen und einen Schluck zu trinken. Ohne mich geht hier nichts! Wir müssen zusammenbleiben und danach können wir direkt zur Tat schreiten.“, forderte Thomas den Rest der Gruppe auf und war wieder bei vollem Bewusstsein.

    „Schaut euch den Kotzbrocken an! Gerade eben noch den sterbenden Schwan markiert und jetzt schwingt er wieder die großen Reden.“, bemerkte Marilou höhnisch und lachte dabei meckernd.

    Thomas trafen diese Worte, da er sich eingestehen musste, dass die Kanadierin nicht unrecht hatte und er vielleicht wirklich überheblich wirken musste. Der Schotte war eigentlich ein recht selbstkritischer Mensch geworden, doch manchmal tat er immer noch Dinge, die ihm selbst ein Rätsel waren. Sein Selbstbewusstsein hatte plötzlich einen leichten Knacks erlitten. Doch er wollte sich gerade gegenüber der fiesen Kanadierin keinerlei Fehler eingestehen und tat so, als hätte er den Einwand einfach überhört.

    Nicht ohne Stolz versuchte er sich seinen kurz auflodernden Hass, gepaart mit eigener Betroffenheit und seine leichte Übelkeit nicht anmerken zu lassen, als er ein wenig wacklig an den anderen Anwesenden vorbeistakste und sich schwer atmend am Treppengeländer festhielt, an welchem er sich in die Höhe drückte, um der bedrückenden Gefangenheit der Kleingruppe für eine kurze Weile zu entkommen und in seinem Zimmer, das für ihn jetzt wie eine Oase in der Wüste der stechenden Blicke in seinem Rücken und den Weiten der tristen Depressionen wirkte, allein zu sein und zur Besinnung zu kommen.

    Die Zeit, die er brauchte, um endlich den Zimmerflur zu erreichen, kam ihm unsagbar lang vor und er blickte sich kurz am oberen Ende des Treppengeländers um, von wo aus er die anderen drei Anwesenden fast verschwörerisch wie starre Mahnmale in der Eingangshalle stehen sah. Er spürte die knisternde Atmosphäre, die untrügerische Gefahr in der Luft und riss sich von dem schockierenden Anblick los und taumelte wie ein ertrinkender in der Wüste der Emotionen seiner breiten und harten Zimmertür entgegen, die er hektisch aufriss und mit rasendem Herzen geräuschvoll hinter sich zuschlug, um sich schweißgebadet auf das kühle Bett fallen zu lassen und endlich tief und ungestört durchzuatmen.

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    Kapitel 104: Samstag, 19 Uhr 09 Zimmerflur


    Thomas hatte sich nur kurz waschen können. Er hatte direkt gemerkt, dass der Adrenalinpegel noch viel zu hoch war, als dass er in dieser kurzen Erholpause einen wirklich klaren Gedanken hätte fassen können. Der junge Schotte wollte keine Zeit verlieren und machte sich zudem Vorwürfe, dass er die drei verbliebenen Personen allein in der Eingangshalle gelassen hatte. Jede Minute seiner Abwesenheit konnte nun entscheidend und möglicherweise tödlich sein.

    Thomas stand bereits wieder an seiner Zimmertür, als er einen Blick auf seine Sporttasche lag, die in der Ecke seines Zimmers stand. Nach kurzem Überlegen eilte er dorthin, riss sich hektisch sein Hemd über den Kopf und warf den vor Schweiß und Erbrochenem übelriechenden Stoff zur Seite. Er zog ebenfalls rasch seine Hose aus, die völlig durchnässt gewesen war und sich jetzt nur noch knochentrocken und kalt anfühlte und zudem überall mit Lehm beschmiert war. Eilig nahm Thomas die erstbesten Kleidungsstücke und stieß dabei zufällig auf einen blauen Jogginganzug, den er schnell überstreifte. Es mochte Einbildung sein, aber kaum hatte er sich den Trainingsanzug übergezogen, fühlte er sich direkt wieder frischer und wacher.

    Der junge Polizist wollte keine weitere Zeit mehr verlieren, als er zufällig das braun eingebundene Buch sah, dass er zwischen seine Anziehsachen gebettet hatte. Fast ehrfürchtig hielt er inne, ergriff den schweren Wälzer und drückte den kalten Buchrücken gegen seine Stirn. Er realisierte erst jetzt in diesem Moment der Stille, dass er es in den letzten Tagen versäumt hatte seine Bibel zu lesen und zu beten. Es war seit jeher seine Tradition gewesen, am frühen Morgen nach dem Aufstehen und am späten Abend vor der Nachtruhe einige Psalme zu lesen und den Tag Revue passieren zu lassen. Vielleicht war dieses Versäumnis auch ein Grund dafür, dass Thomas sich so unausgeglichen und nervös fühlte. Seine innere Unruhe erinnerte ihn mit Schrecken an die wildesten Jahre seiner Jugend. Doch dieses Mal ging es um keine Saufeskapaden oder erotische Erfahrungen, sondern um eine tödliche Bedrohung.

    Kaum hatte er nun den kalten und staubigen Wälzer gegen seine Stirne gepresst, da fühlte er sich geradezu erleichtert und auch die zweifelnden Stimmen in seinem Kopf wurden wie magisch vertrieben. Der Schotte hatte für einige Minuten wieder einen völlig klaren Kopf und harrte in dieser Pose mit einem geradezu steinernen Lächeln aus.

    Thomas fand in der Innenseite seiner Trainingjacke eine große Tasche und er schob das Buch dort hinein. Es war zwar sehr schwer, aber kaum hatte Thomas sein Zimmer wieder verlassen, bemerkte er die Last kaum mehr. Es kam ihm allerdings fast kindisch vor, dass er das Gottesbuch jetzt eingesteckt hatte, denn er hatte es aus Angst fast instinktiv getan. Er schüttelte bitter den Kopf, denn er wusste, dass selbst Gott und sein Glaube ihm hier nicht mehr helfen konnten. Er war in der Hölle auf Erden gelandet und doch klammerte er sich an den Strohhalm des Buches, das aus seiner Sichtweise den Frieden, eine Einheit und das Völkerverständnis propagierte.

    Der religiöse Schotte war so sehr in seine Gedanken versunken, hielt seine rechte Hand halb besitzergreifend, halb schützend gegen die Delle in seiner Jacke, wo sich nun die Bibel befand, dass er fast mit der großen Person zusammengestoßen wäre, die ihm unmittelbar vor seinem Zimmer entgegengelaufen kam.

    Thomas zuckte zusammen, hob abwehrend seine Hände und hatte die beschützende Nähe des religiösen Werkes schon wieder vergessen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er Abdullah erkannte, der groß und stämmig vor ihm stand und ihn argwöhnisch anblickte. Er fixierte die verräterische Beule in der Trainingsjacke, runzelte die Stirn und wollte gerade etwas sagen, als über die Treppe der Eingangshalle Marilou zu ihm trat, die Thomas mit einem spöttische Lächeln bedachte. Demonstrativ ein wenig hinter ihr stand Elaine Maria da Silva, die Thomas ebenfalls anblickte. Der Schotte spürte einen Stich in seinem Herzen, als er die Leere in den Augen der Brasilianerin sah, keinen Funken von Freude, Zuneigung oder Interesse entdecken konnte. Die Brasilianerin war in den letzten Stunden wieder kühler, analytischer und auch erwachsener geworden. Thomas konnte kaum glauben dieselbe Person vor sich zu haben, die vor wenigen Stunden noch emotionale Ausbrüche gehabt und sich dem verwirrten Schotten geradezu unterwürfig gegenüber verhalten hatte. Sie wusste wohl auch nicht, wie sie mit der gesamten Situation umzugehen hatte und versuchte vielleicht verschiedene Verhaltensmöglichkeiten aus. Aber thomas wollte nicht glauben, dass er nur fur ein Experiment gut gewesen war, nur ein Tribut für den unbändigen Überlebenswillen einer zu allem bereiten Brasilianerin gewesen war. Er hatte gespürt, dass ihre gegenseitige Anziehungskraft darüber hinaus gegangen, unglaublich stark und auch ehrlich gewesen war. Oder hatte sich der Schotte vom weiblichen Geschlecht und von seinem eigenen Wunschdenken wieder nur blenden lassen?

    „Sind wir jetzt endlich so weit?“, fragte Marilou ungeduldig und wartete gar keine Antwort ab, sondern wandte sich rasch um.

    Thomas konnte sich auf das plötzliche Selbstvertrauen der Kanadierin, die einst so schüchtern und depressiv gewirkt hatte, immer noch keinen Reim machen. War dieses Verhalten eine Art eigenwilliger Schutzinstinkt oder steckte mehr dahinter?

    In diesem Moment schwirrte wieder die Täterfrage im Kopf des Schotten umher. Die überlebenden Männer hatte er ausgeschlossen, es blieben also tatsächlich nur noch Marilou und Elaine. Hatte die Brasilianerin nur mit ihm gespielt und klammheimlich sein Vertrauen und seine Gefühle erschlichen, um sich in Sicherheit zu wiegen und den naiven Schotten dann zum krönenden Abschluss auf besondere Art und Weise zu vernichten? Spielte die Autorin ihm nur eine undurchschauliche Komödie vor? Thomas hatte plötzlich große Angst vor der Wahrheit und suchte den Augenkontakt mit der Brasilianerin, die jedoch starr zu Boden blickte und ohnehin eher auf Marilou fokussiert zu sein schien.

    Thomas wollte daran nicht glauben. Marilou musste die Täterin sein. Warum sonst hatte Mamadou über einen frankokanadischen Politiker recherchiert? Was hatte diese Persönlichkeit mit der ganzen Mordserie zu tun? Wo hatte er das Gesicht des Mannes schon einmal gesehen?

    Abdullah folgte seine Frau inzwischen ohne Widerspruch, tastete nach ihrer Hand, doch die Kanadierin löste sich aus seinem Griff und beschleunigte ihren Schritt. Elaine Maria da Silva trat ebenfalls auf den Zimmerflur, warf Thomas einen seltsam gleichgültigen Blick zu, bevor sie fast mechanisch hinter den beiden anderen Anwesenden hinterher trottete. Thomas atmete tief durch und ignorierte seine aufkommende Wut, in dem er seine Hand fest gegen die versteckte Bibel drückte. Dann folgte er dem Rest der Gruppe.

    Marilou war zunächst vor dem Zimmer von Gwang-jo stehen geblieben, das zufälligerweise vor dem des toten Polizisten lag. Thomas wollte sich eigentlich lieber noch einmal das Zimmer seines ermordeten Kollegen umsehen und die versendeten Nachrichten vornehmen, doch da die Frankokanadierin schon die nicht abgeschlossenen Zimmertür des Koreaners aufgestoßen hatte und Thomas keinen weiteren unnötigen Streit provozieren wollte, schluckte er seinen Stolz hinunter und trat als Letzter in das Zimmer.

    „Wonach suchen wir eigentlich genau?“, wollte Abdullah wissen, der schweigend abseits der Gruppe stand und einen flüchtigen Blick in das Badezimmer des Koreaners warf.

    „Nach irgendwelchen Hinweisen auf den Täter.“, gab Elaine Maria da Silva zurück und begab sich direkt zu dem Kleiderschrank des Toten.

    Sie riss ihn auf. Die Kleidungsstücke waren alle säuberlich aufgehangen und sogar nach Größen und Farbtönen sortiert. Die fast schon spießige Ordnung mochte gar nicht so recht zu dem rüpelhaften Auftreten des Cholerikers passen.

    Die Brasilianerin machte die einzelnen Schubladen auf und durchwühlte sie schnell. In der untersten Schublade des Kleiderschrankes stieß sie auf einen Zeichenblock. Er sah aus wie neu und nur die erste Seite war verwendet worden. Auf selbige hatte der Koreaner eine symbolartige Blume gezeichnet. Elaine Maria da Silva runzelte die Stirn.

    Thomas trat zu seiner Partnerin hin und bemühte sich dieses Mal dennoch nicht auf Tuchfühlung mit ihr zu gehen und eine gewisse Distanz zu waren. Auch Abdullah war hinzugekommen und nickte wissend.

    „Das ist eine Lilie. Besser gesagt eine heraldische Lilie.“, bemerkte Abdullah zögernd und Thomas kam dieses Symbol seltsambekannt vor. Er konnte es jedoch nicht zuordnen, obwohl er sich sein Gehirn zermarterte.

    „Was könnte das denn bedeuten?“, wollte Elaine Maria da Silva wissen, deren Interesse auch geweckt worden war. 

    „Da kann ich nur spekulieren.“, bemerkte Abdullah, doch ihm war mit einem Mal der Schweiß ausgebrochen und Thomas bemerkte ein Blitzen in den Augen des Mannes, der sich eilig bemühte den Boden zu fixieren.

    „Abdullah, was ist los? Du erzählst uns hier nicht die ganze Wahrheit!“, bemerkte Thomas stechend und trat beinahe drohend auf den nervös wirkenden Mann zu, der stotternd zurück wich, wobei sein Turban verrutschte.

    „Schaut mal her, was ich hier gefunden habe!“, rief Elaine Maria da Silva dazwischen, die als Einzige nicht den Fund beachtet hatte.

    Die Kanadierin stand an dem Bett des Toten und hielt triumphierend ein Kopfkissen in

    die Höhe. Grimmig nahm sie den Bezug ab und öffnete den Reißverschluss des Innenfutters. Die restlichen Anwesenden starrten ihr gespannt zu und die vorhin aufkeimende Situation war fast wieder völlig vergessen, als die Frankokanadierin mehrere Bündel Geldscheine aus dem Innenfutter zog und triumphierend in die Luft hielt.

    Die Anwesenden mussten nicht lange überlegen, um zu erkennen, woher das Geld stammte. Sie alle blickten auf Abdullah, der sich nun noch verwirrter und eingeengter fühlte.

    „Verdammt, das ist der restliche Teil meines Geldes. Das ist der Rest der Summe, die mir gestohlen wurde und bei dem Butler gefunden wurde, die ich mitgenommen hatte, um meine Frau zu überraschen.“, haspelte er nervös und trat erstaunt auf seine Gattin zu, der er das Geld aus den Händen nahm.

    Auch Thomas trat hinzu, riss die Scheine dem Katarer aus der Hand und zählte rasch nach. Es handelte sich tatsächlich um die fehlende Hälfte des unter unbekannten Umständen verschwundenen Geldes.

    „Woher wissen wir denn, ob es wirklich nur ein Diebstahl war?“, bemerkte Thomas grimmig und Abdullah wandte sich erschrocken, wie auch wütend zu ihm um.

    „Was willst du denn damit andeuten?“, wollte Abdullah wissen, doch Thomas ließ sich von seiner aufbrausenden Art nicht weiter einschüchtern.

    „Es wäre ja auch möglich, dass es sich um eine Erpressung handelt. Wir können nicht leugnen, dass Gwang-jo den Mörder gekannt zu haben scheint.“, bemerkte Thomas kalt und beobachtete genau die Reaktionen von Abdullah und Marilou, die ihn jedoch eher fassungslos anblickten.

    „Er könnte dich erpresst haben, Abdullah! Gwang-jo ist zwar ein guter Schüler gewesen und hat studiert, doch als Einziger von uns hat er noch keinen festen Job und kein richtiges Einkommen. Den Kleidern nach zu urteilen lebt aber auch er nicht gerade preiswert und solch eine Summe hätte ihm sicherlich gut getan.“, warf Elaine Maria da Silva ein, die Thomas Idee sofort unterstützte.

    „Diese Anschuldigung ist doch völlig haltlos. Gwang-jo hat doch alle fünf Minuten eine andere Person beschuldigt und hat, wenn überhaupt, erst innerhalb der letzten Stunden erkannt, wer hinter den Morden stecken könnte, falls er nicht wieder ein abnormes Hirngespinst hatte.“, verteidigte sich Abdullah, nachdem er empört nach Luft geschnappt hatte.

    Thomas musste sich insgeheim eingestehen, dass sein Gegenüber durchaus logisch argumentiert hatte, doch er wollte seinen Standpunkt nicht so schnell aufgeben und hoffte darauf, dass er das Pärchen unter Druck setzen konnte, bis einer von beiden versehentlich einen Fehler machte, denn Thomas spürte, dass sie etwas zu verbergen hatten, die Reaktion von Abdullah hatte ihn nur erneut bestätigt. Mit einem Mal kam dem Polizisten der Gedanke, dass möglicherweise sogar die beiden gemeinsam die Morde geplant haben könnten und unter einer Decke steckten. Marilou als eiskalte Mörderin und Abdullah als Absicherung und Fädenzieher im Hintergrund. Diese Möglichkeit hatte er bislang noch gar nicht konkreter in Betracht gezogen und dieser Geistesblitz elektrisierte ihn nun gewaltig. War dies eine mögliche Erklärung für die präzise ausgeführten Morde, ohne dass der Täter je wichtige Spuren hinterließ oder am Tatort überrascht wurde und alle mörderischen Geräte hatte installieren können? Konnte ein Mensch allein so eine Mordserie überhaupt ohne Hilfe planen?

    Trotz aller Spekulationen war Thomas aber immer noch nicht klar, wo das Motiv liegen könnte. Wenn eine Person psychisch gestört war und seinen morbiden Spaß an den Mordspielen hatte, dann konnte er das noch einigermaßen begreifen, aber gleich zwei Personen kamen ihm dann doch recht unwahrscheinlich vor.

    Der junge Polizist war so in seinen neuen Gedanken vertieft, dass seine brasilianische Begleiterin an seiner Stelle auf den Einwand Antwort gab und Thomas musste ehrlich anerkennen, dass die Schönheit durchaus klug argumentierte. Diese Überzeugungskraft und analytische Präzision war Thomas an ihr noch nie zuvor aufgefallen, vermutlich weil er zu sehr auf ihr äußerliches Gehabe des unnahbaren und düsteren Vamps hineingefallen und von der emotionalen Art der letzten Tage überrascht worden war. Diese neue Charaktereigenschaft machte die Brasilianerin für ihn nicht nur noch komplexer und unverständlicher, sondern auch wieder attraktiver. Thomas kam kurz der Gedanke, dass seine französische Exfreundin nie so vielseitig, sondern immer recht oberflächlich geblieben war. Er wurde sich in diesen Momenten bewusst, dass er sich früher von Äußerlichkeiten und sexuellen Bedürfnissen hatte leiten lassen, in Wirklichkeit aber etwas ganz Anderes suchte, das er in diesem Moment mit fast erschütterndem Bewusstsein erfasste, weil die Brasilianerin es gerade perfekt repräsentierte. Er brauchte eine intellektuelle, vielschichtige Liebhaberin, die für jede Lebenssituation ideal und anpassungsfähig war und trotz aller Vertrautheit ihr Mysterium bewahrte, was sie so anziehend machte. Thomas stellte zum ersten Mal solche Ansprüche und seine Gefühlswelt hatte sich abermals gewandelt, doch nun schien er endlich klar zu sehen. Ein neues Gefühl der Zuversicht durchströmte seinen Geist und Körper, doch kurz darauf klang wieder eine bedrückende Stimme in seinem Kopf auf, die ihm sagte, dass er mit der Brasilianerin schnell ein klärendes Gespräch suchen sollte, damit sie beide wieder im Reinen waren, ehrlich zueinander sein konnten, sich ihre Fehler verzeihen würden und vor allem für sich feststellen konnten, dass die jeweils andere Person mit den grausigen Taten tatsächlich nichts zu tun hatte. Alles was blieb war jedoch die allgegenwärtige Bedrohung, die jegliche Annäherung beinahe im Ansatz schon zu zerfressen drohte.

    Thomas hatte Mühe bei all diesen aufregenden Gedankengängen sich auf den durchaus wichtigen Fortlauf des Gespräches zu konzentrieren und gab sich schließlich mühsam einen Ruck. Es schien, als sei er aus einer Hypnose erwacht und er blickte direkt in das kalte Lächeln von Marilou, die ihn genau beobachtet hatte und in die Abgründe seiner Seele zu blicken schien. Thomas fühlte sich mit einem Mal nackt und peinlich berührt und er riss fast unterwürfig seinen Blick von der Kanadierin weg, um nicht wieder vom eigentlichen Thema abgelenkt zu werden.

    Verhalten gähnend rieb sich Thomas die Augen. Es hing wohl auch mit dem Stress und der Müdigkeit zusammen, dass er emotionaler geworden war im Verlauf der letzten Stunden und dass auch seine Konzentration immer drastischer gesunken war. Er fragte sich, wie lange er diesen Kampf gegen sich selbst und die Umstände der Natur noch aufrecht halten konnte. Und er fragte sich sogar, ob eine Niederlage gleichzeitig auch sein Tod sein würde, wenn der Mörder mit dem angeschlagenen jungen Mann dann kurzen Prozess machen würde. Ein Frösteln lief bei diesem Gedanken über den eisigen Rücken des Schotten, der wieder völlig erstarrt war. Tief und rasselnd atmete er durch und wurde nun sogar mit einem verwirrten Seitenblick von Elaine und Abdullah bedacht. Thomas blickte betreten zu Boden und hob halb entschuldigend, halb beruhigend die kraftlosen Arme.

    „Ich sehe das Ganze dieses Mal nicht als Hirngespinst an, denn zum Einen hatte er sich seit einiger Zeit mit den sinnfreien Beschuldigungen für seine Verhältnisse enorm zurückgehalten und zum Anderen wirkte er ernster und betroffen als sonst und wollte mit Thomas allein reden. Es wirkte viel eher so, dass der Mörder Gwang-jo als Nächsten liquidieren musste, weil er so viel wusste. Vielleicht wurde für ihn und für Mamadou die Reihenfolge der Morde gar umgestellt und wir können uns beim Schicksal bedanken, dass wir hier noch am Leben sind und uns darüber unterhalten können.“, philosophierte die Brasilianerin.

    „Dankbar? Mittlerweile glaube ich sogar, dass der Tod geradezu eine Erlösung von all dieser Scheiße hier wäre!“, bemerkte Abdullah Gadua nun nahezu hysterisch.

    „Selbstverständlich nimmst du dir dann das Recht zunächst alle Anderen von dieser Qual zu erlösen und hebst dir deine eigene Erlösung für das Ende auf.“, bemerkte Elaine Maria da Silva gehässig und sarkastisch.

    „Ich stecke nicht dahinter! Ich kann keiner Fliege etwas zu Leide tun. Ich habe mir nie etwas zu Schulden kommen lassen, nie irgendeine Provokation gesucht, versucht die Ermittlungen zu blockieren oder Leute gegeneinander auszuspielen. Im Gegensatz zu dir hatte ich auch keinen plötzlichen Sinneswandel oder engere Beziehung mit den Anwesenden.“, rechtfertigte sich Abdullah eifrig und Tränen schimmerten dabei in seinen verzweifelt blickenden Augen.

    „Du kannst keiner Fliege etwas zu Leide tun? Du hättest Thomas eben am Brunnen noch fast eigenhändig umgebracht!“, entgegnete die Brasilianerin mit einem spöttischen Lachen.

    „Das habe ich nur getan, um meine Frau zu schützen! Ich kämpfe nun mal für das, was ich liebe.“, entgegnete Abdullah energisch und nicht ohne Stolz.

    „Vielleicht übersiehst du in deinem Edelmut aber auch, dass deine eigene Frau dahinter stecken könnte! Wir sind nur noch zu fünft, viele Optionen bleiben da ja nicht mehr und du musst mit allem rechnen.“, entgegnete die Brasilianerin, die mit einem Mal sehr eindringlich klang und tief in die flackernden Augen ihres Gegenübers blickte, der verzweifelt den Kopf schüttelte und sich wütend von der Gruppe abwandte.

    „Diese ganzen Anschuldigungen bringen uns nicht voran. Wir können hier kaum noch mit logischen Argumenten debattieren. Dieser Killer ist ein Wahnsinnige rund man müsste selbst wahnsinnig sein, um ihn oder sie zu verstehen. In diesem Zimmer gibt es wohl nichts mehr zu sehen. Wir sollten daher keine Zeit verlieren und das Zimmer und die Nachrichten von Mamadou genauer unter die Lupe nehmen.“, bemerkte Thomas, dem die steigende Aggressivität und Planlosigkeit an die Nieren ging.

    Er fixierte seit geraumer Zeit nur noch Marilou, die still neben dem Bett des toten Koreaners stand und sich ganz ruhig verhielt. Für Thomas stand fest, dass sie im Hintergrund die Situation unter Kontrolle zu haben schien und ihre Mitmenschen auf geradezu analytische Weise beobachtete, um jeden weiteren Schritt bereits im Voraus zu erahnen. Thomas wurde sich bewusst, dass sie alle sehr emotional und mitgenommen waren, während das Selbstvertrauen der undurchschaubaren Kanadierin viel mehr gestiegen war. Dieses Verhalten konnte sich Thomas nur dadurch erklären, dass diese Dame hinter den Taten stecken musste.

    Er rechnete nun mit einem entscheidenden Ergebnis und drängte daher auf den Raumwechsel, um die aufkommende Passivität zu unterbinden. Der Täter oder die Täterin würde alles dafür tun, den Laptop Mamadous zu zerstören, um eventuelle Beweise zu verwischen und wäre somit dazu gezwungen mit dem leidigen Versteckspiel endlich aufzuhören.

    Um seine entschlossenen Worte mit Taten zu unterstreichen, schritt Thomas entschlossen zur Zimmertür und trat zurück in den Flur. Mit raumgreifenden Schritten ging er auf das Zimmer seines toten Kollegen zu, ohne sich noch einmal nach den anderen Anwesenden umzublicken, obwohl er wieder einen fast schon höhnischen Kommentar in seinem Rücken hörte.

    „Erst ist er die ganze Zeit so passiv und nun sprüht er wieder vor fiebrigem Tatendrang. Dein Geliebter ist wohl der Einzige hier, der ein wenig schizophren sein könnte.“, bemerkte Marilou neckend und überlaut zu Elaine Maria da Silva.

    Die Brasilianerin verkniff sich erstaunlicherweise einen Kommentar, was Thomas mit gemischten Gefühlen auffasste. Auf der einen Seite war er froh, dass die Brasilianerin sich nicht auf dieses Niveau herabbegab und einen neuen und ermüdenden Streit anfing, auf der anderen Seite hätte er sich gerne ein kleines verteidigendes Wort von ihrer Seite aus gewünscht.

    Er versuchte seine Gefühle und Gedanken auszublenden, obwohl ihn die peinigenden Stimmen wieder malträtierten und ihm sein balfdiges Ende heisern kichernd ankündigten. Thomas schüttelte sich unwirsch und trat tief durchatmend und konzentriert in das Zimmer seines Kollegen. Erwartungsvoll stieß er die Tür auf, als er plötzlich völlig unerwartet überrascht wurde.

    Die Entdeckung war für ihn wie ein Schlag ins offene Gesicht. Seine Mund klappte auf, er blinzelte ungläubig mit den Augen, doch das Bild des Schreckens wollte nicht verschwinden.

    Der Laptop war brutal mit einem Hammer, der neben dem Tisch auf dem Boden lag, zerstört worden. Die Beweise waren somit für den Moment völlig vernichtet!

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  •  

    Kapitel 105: Samstag, 19 Uhr 33 Zimmerflur


    Thomas konnte es einfach nicht fassen. Er trat stockend näher zu dem zerstörten elektronischen Gerät, strich mit seiner Hand über den lädierten, löchrigen Bildschirm, die Kerben der zerschmetterten Tastatur und blickte auf das gewaltsam herausgerissene Verbindungskabel. Kopfschüttelnd und mit Tränen in den Augen wandte sich Thomas zur Tür um.

    Dort standen die anderen Anwesenden und sie brauchten keine Fragen zu stellen oder Kommentare abzugeben. Sie sahen klar und deutlich, dass sich die Hoffnungen und der Tatendrang des jungen Schotten von einer Sekunde auf die andere in Luft aufgelöst hatten.

    Mit zusammengeballten Fäusten stand er bebend vor seinen Begleitern und blickte jedem von ihnen tief und böse in die Augen. Er bemerkte den neutralen, fast emotionslosen Gesichtausdruck von Elaine Maria da Silva, das noch kältere Gesicht von Marilou Gauthier und den verwirrten Blick von Abdullah Gadua.

    „Wer von euch war das?“, fragte Thomas leise, aber mit brutaler Intensität.  

    Die Angesprochenen schwiegen allesamt, wichen dem Blick des selbst ernannten Ermittlers aus. Das drückende Schweigen steigerte nicht nur die Spannung, sondern auch die wütende Ungeduld des Polizisten, der plötzlich mit einer raschen Handbewegung den Rest des Laptops wuchtig vom Tisch fegte, sodass das Gerät scheppernd auf dem Boden aufschlug und in weitere Kleinteile zerbarst. Abdullah Gadua zuckte stöhnend und überrascht zusammen, während die beiden Damen ihn in einer Mischung aus Unverständnis und leichter Verachtung beobachteten.

    Thomas wusste, dass er gerade die Nerven verlor und sein Verhalten vielleicht unreif oder blamabel wirkte, aber er schaltete die kritischen oder besonnenen Stimmen in seinem Kopf völlig aus. Er sah jetzt nur noch rot.

    „Ich habe euch eine Frage gestellt, verdammt noch mal! Antwortet, ihr Bastarde! Sonst sind doch alle immer so neunmalklug hier, jetzt redet gefälligst!“, brüllte er und Speichel sprühte von seinen bebenden Lippen.

    Sein Gesicht hatte sich puterrot verfärbt, seine Augen traten beinahe aus ihren Höhlen und seine Halsschlagader pochte mit rasender Gewalt und war deutlich aus ihrer Haut hervorgetreten. Die anderen Anwesenden starrten beschämt zu Boden, doch plötzlich blickte Marilou auf und fixierte den Schotten kalt und abfällig.

    „Diese Anschuldigungen und dieses inakzeptable Verhalten muss ich mir nicht von so einem Nichtsnutz bieten lassen. Es reicht entgültig. Schatz, ich ziehe vor, dass wir uns zurückziehen und die beiden hier allein lassen! Am besten verschwinden wir in der anderen Ecke des Schlosses, so sind wir vor ihnen wenigstens sicher.“, bemerkte Marilou Gauthier giftig, griff hart das Handgelenk ihres Mannes, warf stolz ihr Haar zurück und drehte sich geschwind wieder zur Tür um, ihren Mann dabei mit erstaunlichen Kräften hinter sich herziehend.

    „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“, bemerkte Abdullah hingegen stammelnd, taumelte seiner Frau hinterher und versuchte sich halbherzig aus ihrer Umklammerung zu befreien.

    Die Kanadierin fuhr jedoch wie eine Furie herum und funkelte ihren Mann aggressiv und dann verächtlich an.

    „Hast du etwa Angst vor mir? Du, der mutige und souveräne Mann, du hast Angst, dass deine eigene Frau dich meuchelt?“, fragte sie halb sarkastisch, halb entrüstet.

    „Nein, nein, um Gottes Willen! Nicht doch! Ich denke aber, wir sollten doch alle zusammenbleiben. Wenn wir uns jetzt trennen, dann sind wir direkt wieder hilfloser. Wir müssen uns außerdem einfach mal in Ruhe unterhalten, es hat sich einiges geändert.“, warf Abdullah noch ein und wirkte dabei sehr nervös und ängstlich, was seine Gattin sofort mit hochgezogenen Augenbrauen bemerkte.

    „Du bist doch sonst nicht so zimperlich, vor allem in Bezug auf Frauen.“, warf sie giftig ein und Abdullah wurde dabei knallrot und wich ängstlich zurück, wobei er abwehrend die Arme hob.

    „Was willst du damit andeuten, Süße?“, fragte er irritiert und kleinlaut und warf dabei auch einen hilfesuchenden Blick zu Thomas, der die Auseinandersetzung angespannt verfolgte. Die Spannung hatte sich von seiner Person nun scheinbar auf die Kanadierin übertragen, aber dies machte die Atmosphäre für ihn nicht erträglicher, eher im Gegenteil.

    „Das weißt du genau! Wenn du Mumm hast und tatsächlich mit reden willst, dann komm mit mir mit und wir klären das unter vier Augen. Oder möchtest du diese Privatgespräche auch gerne vor dem Herrn Inspektor führen?“, fragte sie verächtlich nach und rümpfte dabei die Nase, wobei sie Thomas einen abwertenden und vernichtenden Blick zuwarf.

    Abdullah Gadua wirkte völlig irritiert und war der Verzweiflung nahe. Er ruderte wild mit den Armen, gestikulierte ohne dabei Worte zu finden, wich immer weiter von seiner Frau zurück und schien sich selbst nicht darüber im Klaren zu sein, was er eigentlich wollte. Er warf wieder hilflose Blicke zu Thomas, der ihn nur emotionslos ansah und dann doch immerhin mit den Schultern zuckte, was dem verstörten Gatten natürlich überhaupt nicht weiterhalf.

    „Wunderbar. Du stellst dich also auf die Seite der anderen Anwesenden. Du entscheidest dich gegen deine Frau und für zwei Nichtsnutze mit durchgedrehten Theorien, die du vor wenigen Stunden noch eigenhändig umbringen wolltest.“, schrie die Kanadierin wütend und fassungslos und der Wahnsinn blitzte dabei in ihren Augen.

    Selbst ihr Gatte hatte zu viel Angst davor, auf diese Anschuldigungen zu reagieren, wich noch weiter zurück und stieß schließlich erschrocken gegen eine Bettkante. In diesen Moment der Überraschung stürzte die nächste Schimpfkanonade seiner Frau hinein.

    „Das also bin ich dir Wert! Immer schon hast du mich behandelt wie den letzten Dreck und meintest meine Gefühle einfach mit deinem Geld kaufen zu können. Ich habe versucht dir alles zu geben, was ich war und was ich hatte und du dankst es mir auf diese Weise.“, schrie sie vor Schmerz und Zorn, blickte wütend in die Runde, fuhr dann herum und warf die Zimmertür krachend hinter sich zu, sodass Abdullah erschrocken zusammenfuhr und steif auf das Bett des toten Polizsiten fiel.

    Dieser Schock jedoch schien eine Art Weckruf für den verwirrten Gatten gewesen zu sein, denn er stand auf, atmete tief durch, ging dann schnurstracks zur Tür und riss diese ebenfalls wuchtig auf.

    „Lass uns reden, Schatz! Ich werde ja mit dir kommen, keine Angst.“, rief er in den Gang und wirkte dabei nicht erzürnt oder gekränkt, sondern geradezu kleinlaut und schuldbewusst. Marilou hatte ihr Ziel somit wohl erreicht.

    Thomas wollte nicht verstehen, warum Abdullah sich vor anderen Anwesenden so erniedrigend behandeln ließ und seiner Gattin dann dennoch hinterher rannte. Scheinbar war seine Liebe für sie größer, als die gekränkte Kanadierin es selbst annahm.

    „Abdullah, mach jetzt keinen Fehler, bleib bei uns!“, rief Elaine Maria da Silva hinter dem Gatten her, der sich noch einmal kurz zu den beiden umwandte, mutlos lächelte und dabei Tränen in den Augen hatte. Er schien noch einmal kurz zu sinnieren, schüttelte dann aber traurig den Kopf und gab eine leise und niedergeschlagen wirkende Antwort.

    „Ich kann nicht anders. Ich muss jetzt meine Zukunft retten.“, gab er pathetisch zurück und trat entgültig in den Flur.

    „Abdullah, wenn du dich jetzt von uns trennst, dann wirst du deine Zukunft direkt zerstören!“, entgegnete Thomas ihm energisch, doch der Gatte hatte die Tür bereits ins Schloss geworfen und rannte, unablässig den Namen seiner Gattin rufend, den Flur hinunter.

    Elaine Maria da Silva blickte Thomas lang und bedeutungsschwer an, bevor sie sich endlich erschöpft auf das Bett des toten Polizisten fallen ließ und das Zimmerfenster fixierte, gegen welches immer noch die bindfadenähnlichen Regenschauer prasselten, die auch in dieser Nacht nicht abreißen zu schienen.

    „Jetzt ist guter Rat teuer. Was sollen wir tun? Ihnen hinterher rennen?“, wollte die Brasilianerin nach einer Zeit wissen und blickte Thomas düster an.

    Irgendwie fühlte sich der Schotte von diesem Blick seltsam berührt. Da flackerte für einen kurzen Moment wieder das Mysteriöse und Attraktive der Brasilianerin auf, das ihn erregte.

    „Damit würden wir alles nur noch schlimmer machen. Die beiden brauchen jetzt ein klärendes Gespräch.“, entgegnete Thomas und ließ sich auf den Hocker vor dem kleinen Schreibtisch fallen.

    „Was machen wir in der Zwischenzeit?“, wollte Elaine Maria da Silva leicht ungehalten wissen.

    „Wir müssen zusammenbleiben.“, gab Thomas nach kurzer Zeit des Nachdenkens zurück und fixierte nun auch die undurchsichtige, von außen durchnässte Glasscheibe.

    „Das ist mir klar. Aber wir müssen doch sonst noch etwas unternehmen.“, bemerkte die Brasilianerin voller rebellierendem Tatendrang und war von dem Bett wieder entschlossen aufgesprungen, während ihr Begleiter schlaff und emotionslos sitzen blieb und wie paralysiert nach draußen starrte.

    „Wir können nichts mehr tun. Alle unsere Möglichkeiten wurden zunichte gemacht. Wir können nur abwarten und beten.“, gab Thomas tonlos zurück und dachte an seine versteckte Bibel, deren Inhalte ihm vielleicht neue Kraft geben würden.

    Seine Begleiterin machte schon den Mund auf, um Thomas zu widersprechen, doch dann klappte selbiger verbittert zu, kopfschüttelnd hockte sie sich auf das Bett, vergrub ihr Gesicht in den Händen. Thomas blickte seine Begleiterin tonlos und fast gleichgültig an. Er hatte noch mächtig mit der erlittenen Niederlage, dem Schock über den zerstörten Laptop, zu kämpfen.

    Schließlich blickte die Brasilianerin noch einmal auf, blickte in Richtung ihres Partners und doch irgendwie durch ihn hindurch.

    „Ich befürchte, da hast du Recht.“, flüsterte sie tonlos und starr und Thomas erschrak fast, da er die lebendige und impulsive Brasilianerin noch nie so hilflos erlebt hatte.

    So saßen sie mit Schwermut auf dem Zimmer und starrten minutenlang nach draußen in den dichten Regen. Ihr Schweigen wurde nur vom gelegentlichen Donnerhall oder krachenden Blitzen unterbrochen.

    Irgendwann hielt Thomas das Schweigen nicht mehr aus, konnte auch keinen klaren Gedanken mehr fassen und fand auch zum Gebet nicht die nötige Muße. Ergebnislos und leer schlich er zum Fenster und sah durch die verschwommene Scheibe in den Garten des Schlosses. Immerhin waren mit seiner inneren Leere auch die quälenden Stimmen wieder aus seiner Gedankenwelt entwichen. Dennoch fühlte sich Thomas stumpf und dem Wahnsinn nahe. Waren die seltsamen Stimmen bereits die ersten Vorboten dafür gewesen, dass er der Belastung nicht mehr ansatzweise standhalten würde?

    Seufzend drückte der religiöse Schotte sein müdes Gesicht gegen die verschwommenen Fensterscheiben. Nach einigen Minuten bemerkte er eine Bewegung. Zunächst glaubte er an ein Tier, doch dann hatte er einen Verdacht, riss plötzlich mit neuer Energie das Fenster auf, sodass seine Partnerin, die in sich und ihre trägen Gedanken vertieft gewesen war, kurz schreiend aufsprang und sich hektisch umblickte.

    Der heftige Wind beförderte eine ganze Flut von Regentropfen in das Gesicht des Schotten und riss ihm zudem das Fenster aus der Hand, reizte die Drehung des Scharniers bis zum Äußersten aus und knallte überlaut gegen die Fassade des Schlosses. Sogar einige Laubblätter drifteten auf Thomas zu, der sein Gesicht nun endlich mit der frei gewordenen Hand abschirmte und angestrengt in die Tiefe blickte.

    Inzwischen war auch Elaine Maria da Silva halb ängstlich, halb erwartungsvoll zu ihm getreten und blickte nun an ihm vorbei angestrengt in die Tiefe.

    „Da ist jemand.“, bemerkte sie tonlos.

    „In der Tat. Das ist Björn Ansgar Lykström. Er kehrt zum Schlosseingang zurück.“, bemerkte Thomas und schloss dann wieder entschlossen das Fenster, während die Brasilianerin ihn fragend ansah.

    „Was hast du vor?“, wollte sie nach einigen Augenblicken wissen.

    „Wir werden ihn empfangen.“, gab Thomas zurück und gab seiner Begleiterin keine Gelegenheit für irgendeinen Einwand, sondern trat bereits entschlossen mit raumgreifenden Schritten zur Zimmertür.

    Elaine Maria da Silva schüttelte seufzend den Kopf und eilte dem Schotten, der bereits im Flur verschwunden war, eilig hinterher und warf dabei nun selbst die Tür mit neuem Elan ins Schloss.

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  •  

    Kapitel 106: Samstag, 20 Uhr 22 Eingangshalle


    Thomas war mit raumgreifenden Schritten zur breiten Treppe gegangen, die wieder in den düsteren Eingangsbereich führte. Der Schotte warf einen unbehaglichen Blick zu dem Brunnen mit der Riesenschlange, die ihn drohend zu fixieren schien. Thomas sah sich aufmerksam um, doch von der aufgebrachten Kanadierin und ihrem verschüchterten Gatten fand er keine Spur.

    Als Thomas den Schweden gesehen hatte, war ihm sofort der Gedanke gekommen, dass der geistig verwirrte Lehrer allein unterwegs war und somit eine leichte Zielscheibe für den Täter wäre. Der engagierte Polizist hatte sich vorgenommen den Mann abzupassen und ihn bei Elaine und sich zu integrieren. So hätte Thomas ihn auch besser im Auge, für den Fall, dass er in seiner Verwirrung sich selbst oder anderen Anwesenden Schaden zufügen würde.

    Endlich hatte der Schotte den Eingangsbereich erreicht, in dem es inzwischen bitterkalt war, da der Wind geräuschvoll unter dem großen Portal hindurch in die Halle pfiff. Fröstelnd verharrte Thomas, als er plötzlich in seinem Rücken ein düsteres Knarren hörte, das ihm das Blut in de Adern gefrieren ließ.

    Mit gesträubter Gänsehaut wandte sich Thomas langsam um, als ihn ein kräftiger Windzug im Gesicht traf und seine Sicht für wenige Augenblicke einschränkte. Dann ertönte plötzlich ein lautes Donnern, gefolgt von einem grellen Blitz, der über dem Meer zu explodieren schien und den Schotten heller als tausend Sonnen zu blenden schien.

    Fluchend senkte Thomas den Blick, deckte sein Gesicht mit den Händen ab und lugte dann in Richtung des geöffneten Portals, in dem bewegungslos und triefend vor Nässe ein übergroßer Schatten stand. Ein wahnsinniges Kichern ertönte, als dieses auf einmal durch einen ohrenbetäubenden Knall unterbrochen wurde, da ein heftiger Luftzug das Portal nun wieder brutal zugedrückt hatte.

    Thomas kam sich vor wie in einem schlechten Horrorfilm und schauderte, als Björn Ansgar Lykström humpelnd näher kam und Thomas aus großen Augen anstarrte. Die Kleidung des Schweden war völlig durchnässt, seine Hose wild zerrissen, blutige Kratzer befanden sich ins einem Gesicht und aufs einen Armen und die ursprüngliche Farbe der Jacke war durch die braunen Ablagerungen kaum mehr zu erkennen. Hätte Thomas es nicht besser gewusst, so hätte er glauben können, dass sich ein Wilder vor ihm befand, der sich seit Jahren nicht mehr gewaschen und seit ewigen Zeiten den Bezug zur Gesellschaft verloren hatte. Es fehlte nur noch das vermeintliche Opfer des Schweden, um das morbide Ambient entgültig perfekt zu machen. Doch die Leiche des Koreaners hatte Björn Ansgar Lykström vermutlich irgendwo im Dickicht gelagert.

    Dann fiel der Blick des Schotten auf den spitzen, gefährlichen Gegenstand, den der Schwede krampfhaft mit seiner rechten Hand umklammert hielt. Als er die aufflackernde Angst im Gesicht des Schotten bemerkte, kicherte der ehemalige Lehrer dämlich und trat noch näher an ihn heran. Der Schwede war mit einem spitz zulaufenden, länglichen Stück Holz bewaffnet, das er wohl irgendwo im Dickicht aufgetrieben hatte. An und für sich war dies zwar keine sonderlich effiziente Waffe, doch wenn der Schwede Thomas nun aus nächster Nähe attackieren und einen Glückstreffer landen würde, könnte dieses Stück Holz verdammt tödlich sein.

    Daher wich Thomas im Anbetracht dieser Tatsache auch weiter zurück, hob abwehrend die Arme und versuchte beschwichtigend auf sein Gegenüber einzureden und diesem auf kindliche und überlegen-besonnene Art einzureden, dass es keinen Grund zur Aufregung gab.

    „Herr Lykström, machen Sie jetzt bitte keinen Unsinn. Legen Sie diese Waffe ruhig auf den Boden. Sie müssen mir nichts tun, ich will Ihnen nur helfen, ich bin nicht Ihr Feind! Ich bitte Sie, lassen Sie uns in aller Ruhe miteinander reden, so etwas macht doch gar keinen Sinn. Herr Lykström, seien Sie doch vernünftig, hören Sie mir zu.“, redete Thomas auf den Schweden ein, doch dieser stapfte mit stierem Blick weiter auf den Schotten zu, bis dieser plötzlich gegen etwas Kaltes und Robustes stieß.

    Verängstigt fuhr der Schotte herum und blickte in die Höhe, wo ihn ein grausamer Schlangenkopf höhnisch anzublicken schien. Sein verwirrter Gegner hatte seinen Schritt inzwischen beschleunigt und wollte den überraschten Thomas in die Enge zwängen. Der Polizist blickte sich hektisch und verzweifelt nach einer Ausweichmöglichkeit um. Hinter ihm stand der Brunnen, den er in der Schnelle kaum erklimmen konnte, zu seiner rechten Seite befand sich die Treppe mit dem Geländer, wo er auch nur schwerlich weitergekommen wäre und direkt vor ihm stand der irre Schwede. Folglich blieb ihm nur die Flucht nach links, doch zuvor ließ er noch einmal sein rhetorisches Talent spielen.

    „Herr Lykström, legen Sie die Waffe sofort nieder! Kommen Sie endlich zu sich, verdammt noch mal! Ihr lächerliches Verhalten macht ihre Geliebte auch nicht wieder lebendig und Sie würden dem Mörder nur die Arbeit erleichtern. Schluss jetzt!“, fuhr Thomas den Schweden deutlich an und versuchte seiner Stimme einen harten Klang zu geben, um das unterschwellige Beben zu kaschieren.

    In just diesem Moment sah Thomas wie es in den Augen des ehemaligen Lehrers kurz aufblitzte, als dieser seinen Waffenarm hochriss und mit einem animalischen Schrei zustieß. Die Waffe zielte direkt auf die rechte Brustseite des Schotten und hätte selbige auch ohne Zweifel durchbohrt, wenn dieser nicht so rasch reagiert hätte.

    Dieses Mal war es seine Polizeiausbildung, die ihm sein Leben rettete. Er hatte es verstanden die Körpersprache des Verrückten zu lesen und das gefährliche Aufblitzen in den wahnsinnigen Augen instinktiv richtig gedeutet. Fast ansatzlos hatte Thomas sich daraufhin zur Seite katapultiert und spürte in seinem Rücken noch den Luftzug der Waffe, die gegen das harte Gestein des Brunnens prallte, während Thomas hart auf dem Boden aufschlug, sich rasch abrollte und dann in dem Verbindungstrakt zwischen der Eingangshalle und der Bibliothek wieder aufrecht stand.

    Der Schwede hatte inzwischen enttäuscht aufgeschrien und sich langsam und ungläubig umgewandt. Mit offenem Mund starrte er Thomas an, dessen Herz bis zum Hals schlug und bei dem der Schweiß aus allen Poren des Körpers drang.

    Der Schwede wirkte wie ein verwirrtes Kleinkind, dem man soeben die Puppe aus den Händen gerissen hatte. Dieser Vergleich kam Thomas in den Sinn, doch er mochte nicht wirklich zu der gefährlichen Situation passen.

    Mit einem mörderischen Kampfschrei riss der Schwede seine Waffe wieder hoch und stürmte geradewegs auf Thomas zu, der instinktiv hinter sich griff, wo sich die alte Ritterrüstung befand, die er mit einer groben Handbewegung von ihrem Sockel riss und dem Angreifer entgegen drückte. Dann rettete Thomas sich mit einem Hechtsprung zur rechten Seite, prallte dabei gegen einen alten Sessel, spürte einen kurzen Schmerz in seinem Knie, mit dem er dagegen geprallt war, stieß den Sessel ächzend um und stürzte dann auf die Treppe zu, wo er es erst wagte, einen Blick über die Schulter zu werfen.

    Björn Ansgar Lykström war in die Ritterrüstung hineingerannt, mit ihr kollidiert und hatte sie scheppernd zur Seite geschleudert. Durch diesen Angriff hatte Thomas bereits einen nicht unerheblichen Vorsprung gewonnen, zumal der irritiert und unkoordiniert wirkende Schwede dann auch noch über den umgestürzten Sessel stolperte und hart auf den kalten Boden fiel, was einen erneuten Krach produzierte, der in der geisterhaften Stille des unheimlichen Schlosses unecht und gleichzeitig bedrohlich wirkte.

    Doch der verrückte Schwede gab Thomas und sich selbst auch weiterhin keine Verschnaufpause, rappelte sich auf, griff ebenfalls nach seiner Waffe, die er beim Sturz vorübergehend verloren hatte und starrte den Schotten mit enormem Hass an.

    „Ich werde überleben. Ich werde nicht sterben, aber ihr werdet alle sterben, alle der Reihe nach. Ihr habt das Unheil hierhin gebracht, dieses Schultreffen hat den Tod und den Teufel auf diese Insel getrieben. Ihr werdet verrecken und ich werde das Erbe meiner Geliebten antreten, mir wird das Schloss gehören und nicht eurer Mörderbande.“, schrie er außer sich vor Wut und hob bei seinen Worten energisch seine improvisierte Waffe in die Luft, was dem Ganzen einen unfreiwillig komischen Beigeschmack gab.

    Es waren die ersten logisch zusammenhängenden Sätze gewesen, die der Schwede seit scheinbar unendlich langer Zeit ausgesprochen hatte. Thomas konnte sich mit einem Frösteln in die labile Psyche des lehrers einfühlen.

    „Lykström, wir stecken nicht alle unter einer Decke. Auch für mich geht es nur noch ums Überleben. Wir müssen uns zusammentun und den wahren Mörder finden!“, rief Thomas dem Schweden entgegen, doch der hörte ihm bereits gar nicht mehr zu und stürmte nun in Richtung Treppe.

    Thomas warf sich herum und versuchte schnell Land zu gewinnen, als ein Ereignis eintrat, mit dem weder er, noch der Schwede gerechnet hatten.

    Der Polizist sah vor sich noch einen heranrauschenden Schatten, der sich mit enormer Geschwindigkeit über das Treppengeländer hinweghievte, in der Eingangshalle aufkam, den Sprung abfederte, in dem er in die Hocke ging, um danach den völlig überraschten Schweden über den Haufen zu rennen, bevor dieser überhaupt reagieren konnte.

    Die beiden Gestalten prallten aufeinander, der Schwede stürzte zur Seite und gegen einen kleinen Tisch, auf dem eine Blumenvase stand. Björn Ansgar Lykström glitt zu Boden, die wacklige Vase kippte vom Tisch und mitten auf den Kopf der Verwirrten, der sich gerade noch einmal aufbäumen wollte, als die Vase an ihm zerbrach und ihn gleichzeitig ins Reich der Träume schickte.

    Jetzt erst erkannte Thomas auch die Gestalt, die sich ebenfalls benommen aufrappelte, in der Mitte der Eingangshalle jedoch völlig unverletzt geblieben war. Neben ihr lag noch die improvisierte Waffe des Schweden, die sie aufhob und prüfend in den Händen wog.

    Thomas war durch die heraneilende Elaine Maria da Silva gerettet worden, die vor dem Angriff noch ihre hochhackigen Schuhe ausgezogen hatte, die verloren auf der oberen Hälfte der Treppe standen. Die Brasilianerin hatte sich unauffällig verhalten und die Situation dann im richtigen Augenblick entschärft.

    Thomas warf einen Blick in die Eingangshalle, die sich innerhalb weniger Augenblicke in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Der Schotte atmete immer noch rasselnd und trat langsam wieder nach unten, wo Elaine Maria da Silva inzwischen die Waffe zur Seite gelegt hatte und den Schotten erwartungsvoll anblickte.

    Zu viele Gefühle brodelten in Thomas auf, Tränen schossen in seine Augen und er verschaffte sich und seinen Emotionen Luft, in dem er auf die Brasilianerin zurannte, seine Arme um sie schlang, sie mit sich im Kreis herumdrehte und mit feurigen Küssen bedeckte, bevor er sie wieder auf den Boden ließ, ihr durch das Haar strich und dann ihre Hand ergriff. Die Brasilianerin musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.

    „Du hast mir gerade vielleicht das Leben gerettet.“, sagte er stockend und er schämte sich seiner Tränen nicht, obwohl sich die Brasilianerin nun selbst peinlich berührt abwandte.

    „Sag doch so etwas nicht. Du hilfst mir und ich helfe dir, du hättest dasselbe für mich getan, oder?“, fragte sie bescheiden und blickte Thomas dabei wieder kurz von der Seite her an.

    „Ich würde noch viel mehr für dich tun!Ich weiß, dass ich nicht immer alles richtig gemacht habe und dieser Aufenthalt hier enorm an unseren Nerven zehrt, aber es gibt eine Sache, die ich hier als positiv ansehe, eine Sache, über die ich mir wirklich im Klaren bin.“, warf Thomas mit einem gefühlvollen Redeschwall ein.

    „Was genau meinst du?“, wollte die Brasilianerin nach einigen Sekunden des Schweigens wissen und blickte dem Schotten tief in die Augen.

    „Elaine, es ist mehr als Leidenschaft oder Dankbarkeit, die ich für dich empfinde. Ich kenne mich gut genug, um zu wissen, dass ich das, was ich für dich spüre, dieses Kribbeln, dieses Stechen, diese Nervosität, nie zuvor für jemand Anderes gespürt habe. Ich wollte mir das nicht eingestehen, aber es ist mir egal, was andere Leute darüber denken, wie sie über dich oder mich lachen. Ich weiß nur eine Sache. Ich liebe dich. Ja, Elaine, ich liebe dich von ganzem Herzen.“, gestand Thomas ihr mit Tränen in den Augen und schaffte es doch sie dabei anzublicken. Hoffnung und Angst spiegelten sich zugleich in seinen Augen wieder, als er auf die Antwort der schönen und durchaus überraschten Brasilianerin wartete.

    „Thomas, es ist schwer hier darüber zu reden. Auch ich habe lange nachgedacht. Du bist mehr als nur eine Affäre für mich, ich fühle mich bei dir geborgen. Ich liebe dich auch, Thomas. Sobald das hier vorbei ist, gehört die Zukunft uns. Lass es uns probieren, wir haben nichts mehr zu verlieren.“, entgegnete die Brasilianerin und strich dem Schotten mit ihrer rechten Hand sanft über das Gesicht, während auch die toughe Autorin den Tränen nahe war.

    Thomas konnte sein Glück kaum fassen, sein Herz schlug nicht mehr vor Angst, sondern vor Freude und nun brachen alle Dämme, als er seinen Tränen freien Lauf ließ. Dann konnte er nicht mehr an sich halten, drückte die Brasilianerin an sich und küsste sie voller Leidenschaft. Als er ihre heiße und wendige Zunge spürte, schien die Welt um ihn herum zu explodieren. In der Hölle schien er gleichzeitig das Paradies auf Erden gefunden zu haben und er steckte seine Partnerin mit dieser glückseligen Leidenschaft an.

    Ihre Berührungen wurden verlangender, ihre schönen Blicke sprachen Bände, als die Brasilianerin den Schotten in Richtung der Bibliothek zerrte, nachdem dieser noch einen prüfenden Blick auf den bewusstlosen, aber lebendigen Schweden geworfen hatte.

    „Keine Angst, der wacht so schnell nicht mehr auf.“, erriet Elaine Maria da Silva die Fragen und Ängste ihres Geliebten und dieser simple Satz genügte, um ihn davon zu überzeugen.

    Willig ließ er sich in die Bibliothek führen. Von dort aus kamen sie nicht mehr weiter, denn sie fielen fast wie Tiere gegenseitig über sich her und ergaben sich der wilden Versuchung. Der Rest der Welt, die bedrohliche Umgebung waren wieder einmal vergessen und ihre Triebe entfesselt, als Thomas seiner Partnerin das Kleid vom Leib riss und sie auf die nächstbeste Couch drückte. Das Spiel konnte beginnen!

    So bemerkte auch keiner von ihnen die Person, die vom Zimmerflur aus fast das gesamte Vorgehen beobachtet hatte und nun seine Chance gekommen sah. Mit einem bösen Lächeln stieg die Person auf Zehenspitzen in die Tiefe, hörte aus dem nächsten Raum das erregte Stöhnen des Liebespaares und das Reißen eines Stoffes und ging rasch zu dem bewusstlosen Schweden.

    Nach wenigen Augenblicken war die Person wieder verschwunden und hatte ihre Tat vollbracht, ohne dass dies jemand bemerkt hatte, denn in dem Moment, als die Gestalt wieder am obersten Ende der Treppe angelangt war, hörte sie den überlauten Schrei der Lust der Brasilianerin und spürte in sich ein eifersüchtiges und sehnsuchtvolles Stechen, das sie mit grimmiger Selbstkritik sofort wieder verbannte, um sich anderen Dingen zu widmen.

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    Kapitel 107: Samstag, 20 Uhr 59 Eingangshalle


    Völlig verschwitzt, aber überglücklich schlüpfte Thomas wieder in seine Anziehsachen, die wild in der Bibliothek verstreut worden waren. Seine Jeans lag halb im Gang, sein T-Shirt hatte er achtlos über einen Sessel geworfen, seine Socken lagen an den gegenüberliegenden Ecken eines alten Tisches verstreut und seine Unterhose unter einer Couch. Seiner Partnerin, die ihm verschmitzt zulächelte und nicht minder mitgenommen war, erging es kaum anders. Sie beide hatten die letzten Augenblicke enorm genossen und alle Sorgen und Nöte von sich weggeschweißt. Noch hielten sie dieses Gefühl fast jugendlicher Unbekümmertheit aufrecht, als sie sich angezogen hatten und Arm in Arm die Bibliothek wieder verließen.

    „Ein Glück, dass uns niemand dabei erwischt hat.“, meinte Elaine Maria da Silva kichernd und schmiegte sich sanft gegen den muskulösen Körper ihres Partners, der verträumt lächelte und ihr durch das seidene Haar strich.

    „Das wäre mir in dem Moment, ehrlich gesagt, völlig egal gewesen.“, gab Thomas mit sanfter Stimme zurück, die seinen aktuellen Seelenzustand widerspiegelte.

    Das Pärchen trat wieder in die Eingangshalle, die kalt und verlassen vor ihnen lag. Es schien, als wären sie vom hitzigen Paradies geradewegs zurück in die kalten Flammen der Hölle zurückgekehrt. Das ganze Gebäude wirkte wie ausgestorben und doch lauerte eine unsichtbare Gefahr in den düsteren Räumen.

    „Ich frage mich schon die ganze Zeit, wo Marilou und Abdullah sein könnten. Wir waren immerhin ziemlich laut und sie hätten uns bemerken oder aufsuchen können.“, meinte die Brasilianerin nachdenklich.

    „Vielleicht haben sie aber auch ein wenig Diskretion bewahrt und entschieden uns beim Liebesspiel nicht zu stören.“, warf Thomas ruhig und unbesorgt ein.

    „Soll das ein Witz sein? Eine Person wie Marilou kennt keine Diskretion, außer sich selbst gegenüber.“, warf die Brasilianerin mit einem bitteren Lachen ein und Thomas starrte bedauernd zu Boden, als er merkte, dass die positive Atmosphäre bei seiner Partnerin schon wieder fast völlig verschwunden war.

    Der überzeugte Polizist und Christ blickte auf und sich in der Eingangshalle um, ohne dabei die zierliche Hand seiner Partnerin loszulassen. Sein geschulter Blick stockte, als er zwischen dem Chaos merkte, dass etwas fehlte.

    „Verdammt! Björn Ansgar Lykström ist verschwunden!“, fluchte Thomas und ließ fast symbolisch die Hand seiner Partnerin los, denn die Realität hielt ihn wieder gefangen.

    „Vielleicht ist er aufgewacht und wieder verschwunden.“, bemerkte Elaine Maria da Silva leise und ohne allzu großer Überzeugung, denn sie war trotz des Kommentars ziemlich bleich geworden.

    „Ich denke, dass er so schnell nicht wieder bei Bewusstsein gewesen sein kann, deine Attacke war immerhin doch relativ heftig. Selbst wenn er es geschafft hätte, dann hätte er doch auf Rache gesonnen und uns beide mit Leichtigkeit aufgespürt.“, argumentierte Thomas und blickte sich hektisch um, in der abwegigen Hoffnung, den durchgeknallten Schweden in irgendeiner düsteren Ecke wiederzufinden.

    Draußen krachte ein ohrenbetäubender Blitz auf und tauchte die ausgestorbene Halle in ein diffuses Licht und schuf dabei fratzenhafte Schatten, die quer über die Wände wanderten. Elaine Maria da Silva trat fröstelnd zu ihrem Partner und umklammerte ihn unruhig.

    „Ich habe Angst, Thomas.“, flüsterte sie ihm zitternd ins Ohr und auch Thomas bekam bei der unheilvollen Atmosphäre eine unangenehme Gänsehaut.

    „Auch ich habe große Angst, aber wir müssen uns den Problemen stellen. Wir haben keine Wahl, wir müssen das andere Paar aufsuchen und die ganze Sache endlich zu Ende bringen.“, gab Thomas grimmig zurück und trat entschlossen auf die breite Treppe zu, wobei er seine zögerliche Partnerin fast erbarmungslos hinter sich her zog.

    „Ich weiß wirklich nicht, ob das eine so gute Idee ist.“, warf sie jammernd ein und trottete strauchelnd hinterher.

    „Ich möchte nicht mehr zögern. Ich will endlich Klarheit haben, endlich einen Erfolg erringen, endlich beweisen, dass ich ein Mann bin.“, gab Thomas knurrend zurück und stierte entschlossen nach vorne.

    „Das hast du mir doch eben erst bewiesen.“, warf die Brasilianerin ein wenig unpassend und verschmitzt ein und versuchte vergeblich einen Augenkontakt mit Thomas herzustellen, der sich gar von ihr löste und hinauf auf den Zimmerflur eilte, wo er sich rasch nach rechts wandte.

    Thomas war auf die Bemerkung seiner Partnerin gar nicht mehr eingegangen, obwohl er es der Brasilianerin zu Gute hielt, dass sie nun auch versuchte, die Ruhe zu bewahren und die depressive Atmosphäre ein wenig aufzulockern oder ihren Partner zu beruhigen. Doch im dicken Schädel des Polizisten waren wieder die hämischen Stimmen aufgeklungen, die ihm einredeten, dass man ihn beliebig manipulieren könne und er sich gegen die mörderischen Intrigen auf der Todesinsel ohnehin niemals erfolgreich auflehnen würde.

    Fast zufällig warf er ein Bild auf das alte Porträt, das an der rechten Seite der Wand hing und hinter dem sich der Geheimgang befand, den er unter Anderem gemeinsam mit der Brasilianerin bereits erkundet hatte.

    Starr vor Schreck blieb er stehen, als er in den Augen des Porträts plötzlich zwei lebendige Augen sah, die ihn groß anstarrten und dann abrupt verschwanden. Sofort verschloss sich die spionartige Öffnung und der Schotte hatte nicht einmal Zeit gehabt die Augenfarbe des Beobachters zu erkennen. Wie eine Furie raste er auf das Porträt zu, schlug dagegen, riss es dann gewaltsam von der Wand und schleuderte es in den Gang.

    Vor ihm lag lediglich eine nicht allzu stabile Holzwand mit zwei Löchern darin. Mit einem Wutschrei trat Thomas gegen das Holz, das krachend splitterte und unter seiner Kraft nachgab.

    Hinter Thomas erreichte nun auch die verwirrte Brasilianerin den Flur und näherte sich ihrem Partner, der ein weiteres Mal zugetreten hatte und immer größere Stücke aus der Fassade riss, wobei er jetzt auch seine Hände zur Hilfe nahm. Er ignorierte den Schmerz, als sich ein länglicher Holzsplitter in seinen Zeigefinger bohrte. Er beachtete auch nicht das Blut, das über selbigen rann und auf den Boden tropfte. Mit bloßen Händen riss er die restliche Fassade heraus, trat einen letzten Balken weg und schlüpfte dann in den geheimen Gang.

    „Elaine, geh sofort zu den Zimmern von Mamadou und Marilou und schau nach, ob du irgendwen findest! Wenn ich in zehn Minuten nicht zurück bin, dann geh auf mein Zimmer, schließ dich ein, bleibe dort und bete.“, schrie Thomas ihr noch einmal zu und die Brasilianerin nickte nervös und hilflos, bevor ihr Partner in dem dunklen und staubigen Gang verschwand.

    Thomas musste sofort wieder an seinen ersten Kontakt mit diesem Geheimgang denken, wo sich auf seiner linken Seite der Vorratsraum befand und auf der anderen Seite der Gang, der bis tief in das Gewölbe führte, wo sich der labile Butler vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden das Leben genommen hatte. Bei dem Gedanken an die grauenerregenden Bilder bekam er eine eisige Gänsehaut und kroch zunächst rasch in Richtung der Vorratskammer, die im Vergleich zum ersten Mal sehr unaufgeräumt wirkte.

    Dies hatte allerdings auch seinen Grund, denn mitten in der kleinen Kammer lag der regungslose, schwedische Lehrer, der vor wenigen Augenblicken noch in der Eingangshalle gelegen hatte. Der rechte Ärmel seines Hemdes war grob hochgekrempelt worden und Thomas sah das kleine, leicht gerötete Loch in seiner Haut, sowie die Spritze, die unweit des regungslosen Mannes lag.

    War der Schwede bereits das nächste Opfer des wahnsinnigen Killers geworden? Voller Angst tastete Thomas nach dem Puls des Englischlehrers, den er zunächst durch sein eigenes nervöses Zittern und heftigen Atmens nicht spürte. Er versuchte sich zu beruhigen, hielt die Luft an und versuchte den brennenden Schweiß in seinen Augen zu ignorieren und seine tausend Gedanken für einen kurzen Augenblick ruhen zu lassen.

    Zunächst folgten die Sekunden der Ungewissheit, doch dann macht das Herz des Schotten beinahe Freudensprünge. Der Puls war zwar schwach, aber regelmäßig und der Schwede war somit noch am Leben.

    Nachdem er sich dieser quälenden Ungewissheit entledigt hatte, wollte er keine Zeit mehr verlieren und huschte zurück in den schmalen Geheimgang. Er wühlte sich mühsam durch die von ihm verursachten Holzspäne und Trümmerstücke der Flurwand und warf auch einen Blick zur Seite. Seine brasilianische Partnerin war bereits verschwunden und schien seinen Aufforderungen bereits Folge geleistet zu haben.

    Thomas hatte allerdings keine Zeit, um sich um die Brasilianerin zu kümmern oder auch nur an seine große Liebe zu denken, denn er wollte die Person erwischen, die sich hier versteckt gehalten hatte und vermutlich mit dem Täter identisch war. Da Thomas diesen Teil des Geheimganges bereits erkundet hatte, fühlte er sich nicht benachteiligt und rechnete sich gute Chancen aus. Er passierte die steile Leiter, hastete gebückt weiter bis zur Abzweigung, die wieder hinauf in den Zimmerflur führte.

    Der hektische Schotte stockte kurz, war sich aber sicher, dass der Täter unmöglich diesen Weg genommen haben konnte, da der Ausgang des Ganges, der hier in die Höhe führte, von innen nicht zu öffnen war und Elaine Maria da Silva den Täter wohl im Gang hätte stellen könnte.

    Daher beeilte sich Thomas weiter geradeaus zu hechten, stolperte dabei mehrmals und landete öfters in feinen Spinnweben oder dem dreckigen und trockenen Staub. Quiekend huschte irgendwo vor ihm eine dicke Ratte vorbei und in ein großes, bröckliges Loch. Thomas bekam eine Gänsehaut und spürte ein schummriges Ekelgefühl in seinem Magen aufsteigen. Er hatte seit seiner Kindheit eine latente Angst vor wuseligem Ungeziefer, doch er schaffte es, seine Ängste zu verdrängen und erreichte nach unendlich lang erscheinenden Minuten das große Gewölbe, in dem er vor Stunden noch den Leichnam des Butlers gefunden hatte, nachdem Thomas die letzte Leiter mit einem waghalsigen Sprung glücklicherweise unverletzt überwunden hatte. Der Schotte nahm ab sofort jedes Risiko in Kauf und wollte endlich ein Ergebnis seines Engagements sehen.

    Thomas hielt kurz inne, als er immer noch den sanft pendelnden, wenn auch im unteren Bereich durchtrennten Strick an der Decke des Gewölbes hängen sah, sowie den einsamen und einfachen Holzstuhl in der Mitte der Räumlichkeit. Dann warf der Schotte einen Blick zu dem vergitterten Gang, der zum Tresor der Familie führte. Das Tor war auch weiterhin unversehrt, doch der junge Schotte bemerkte mehrere Werkzeuge und eine große Tasche, die vor dem Gitter standen.

    Hier stand jemand offensichtlich kurz davor, sich an einen Einbruch heranzuwagen, um sich das gesamte Vermögen der Sippschaft Osario unter den Nagel zu reißen. Thomas kam fassungslos näher und blickte auf einen alten Plan, auf dem mehrere Stromleitungen und Kreisschaltungen eingezeichnet waren. Mit diesem Wissen könnte der Täter die aufgestellten Alarmanlagen mit ein wenig Geschick leichtfertig ausschalten.

    Thomas schüttelte überrascht den Kopf. Seine Entdeckung könnte dem ganzen Fall eine neue Wendung geben. Der Schotte fühlte sich mit einem Mal unbehaglich und beobachtet, fuhr auf der Stelle herum und zitterte wie Espenlaub.

    Von irgendwoher ertönte das Rieseln von kleinen Steinen, ein leichtes Knacken, danach war wieder alles still. In seiner Aufregung hätte der Schotte beinahe vergessen, warum er überhaupt wieder in dieses Gewölbe zurückgekehrt war.

    Er wollte sich endlich die Person schnappen, die all dies zu verantworten hatte. Sie konnte nur über einen einzigen Weg von hier entkommen sein!

    Thomas wandte sich nach kurzem Suchen dem Fackelhalter zu, der den Mechanismus für den nächsten Geheimgang aktivieren würde, drehte sich noch einmal furchtsam um, denn er hatte die gesamte Zeit das Gefühl, dass er eventuell irgendetwas übersehen hatte.

    Der Polizist fand keine Anzeichen, keine verdächtigen Spuren und hörte auch keine auffälligen Geräusche, doch wirklich beruhigt war er deswegen immer noch nicht. Er atmete tief durch, versuchte das stechende Gefühl in seiner Brust zu ignorieren und drückte mit all seiner Gewalt den Fackelhalter zur Seite.

    Mit einem grausigen Schaben glitt die nur auf den ersten Blick solide Wand vor ihm zur Seite. Das Geräusch erinnerte ihn an bleiche Totenklauen, die wie in schlechten Horrorfilmen aus der Friedhofserde drangen und über den Grabstein kratzten. So seltsam der Vergleich war, so passend war er für die unheilvolle Stimmung.

    Thomas konnte es kaum erwarten in den Gang zu stürmen, als er die dicke Staubschicht bemerkte, die ihren Weg in seine Lungen fand, sodass er reflexartig Husten musste. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er in Schwarze, merkte jedoch weiterhin die Staubschicht auf dem Boden, auf der sich nur schwach die Abdrücke von drei paar Schuhen abzeichneten.

    Bevor sich Thomas über diese Beobachtung nähere Gedanken machen konnte, ertönte plötzliche in ein seltsames Geräusch, so wie wenn jemand Gas aus einer Gasflasche gelassen hätte. Thomas blickte sich verwirrt um, seine Sinne waren alarmiert und er spürte die drohende Gefahr.

    Fast zufällig blickte er in die Höhe und bemerkte, dass sich oberhalb der Öffnung in dem Geheimgang tatsächlich eine Gasflasche befand, die einen Stoff ausstieß, der dem Schotten nun direkt entgegenwehte. Thomas bemerkte den stechenden Geruch, schrie auf, schloss seine tränenden Augen und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es schien, als würden in seinem Kopf tausend Raketen abgefeuert werden, als würde alles um ihn herum explodieren. Der Schmerz wurde plötzlich dumpfer, sein Blick verschleierte sich, der angeschlagene Schotte taumelte rücklings von der Gefahrenzone weg.

    Er wollte den Atem noch anhalten, sich herumwerfen und fliehen, doch es war schon zu spät. Er hatte schon zu viel Giftgas eingeatmet und röchelte in gekrümmt erstarrter Haltung vor dem Geheimgang.

    „Verdammt, das ist eine Falle! Der Täter hat mich eiskalt durchschaut. Verdammt!“, hustete Thomas und sackte in die Knie.

    Er spürte den steigenden Druck auf seinen Ohren, er sah das graue, fast durchsichtige Gas, das ihm trüb entgegenströmte. Er kippte hilflos nach vorne, schlug hart auf dem steinigen Boden auf, doch der seltsame Wirkstoff hatte seinen Schmerz schon fast betäubt und er fühlte sich wie in Watte gepackt.

    Ihm fiel der Vergleich zu einer langsam wirkenden Vollnarkose vor einer Operation ein, die er als Kind erlebt hatte, als man ihm Mandeln oder Polypen entfernt hatte. In die Trägheit seiner Bewegungen schoss aber noch ein letzter glasklarer Gedanke.

    Der Täter musste doch die Abzweigung in Richtung des Zuganges auf dem Zimmerflur genommen, dort gelauert und Thomas danach heimlich bis in diese unterirdische Halle verfolgt haben. Dies würde das Gefühl des Schotten erklären, der sich unablässig beobachtet fühlte.

    Mit letzter Kraft wandte sich Thomas zur Seite und erblickte tatsächlich eine dunkle und verschwommene Gestalt auf der anderen Seite des Gewölbes, wo der andere Geheimgang begann. Das düstere Wesen drehte sich, verschwamm vor den Augen des Schotten. Waren es Halluzinationen oder lag er nun tatsächlich hilflos vor dem unerkenntlichen Mörder?

    Thomas wurde fast wahnsinnig vor Angst, doch die unbekannte Gestalt lachte mechanisch. Thomas konnte die Stimme nicht identifizieren, denn gleichzeitig bekam er einen schrillen Pfeifton auf seinen Ohren und sein Körper ergab sich unkontrollierten Zuckungen. Alle seine Sinne schienen verrückt zu spielen.

    Die düstere Gestalt drehte sich um und verließ das Gewölbe wieder durch den düsteren Gang. Diese Gestik hatte für Thomas etwas seltsam entgültiges. Der junge und vom Schicksal gebeutelte Polizist dachte kurz an seine brasilianische Partnerin und der ihr drohenden Gefahr. Mit aller Macht versuchte er sich gegen die Wirkung des grausamen Gases zu stellen, doch es war vergebens. Seine Kräfte schwanden mehr und mehr.

    In einem letzten Kraftakt wollte sich Thomas noch einmal aufrichten, doch dann wurde ihm schwarz vor Augen und er sackte ungebremst zur Seite. Betäubt blieb er liegen und als ihm die Augen zufielen, wurde er von dem unerträglichen Lärm in seinem Kopf, der sogar die hämischen Stimmen deutlich vertrieben hatte, endlich erlöst.

    Er sank in eine fast narkoseartige Bewusstlosigkeit, aus der es für ihn kein Entkommen oder Erwachen zu geben schien. Die Welt wurde schwarz und leer. Seine Seele schien sich bereits dem Jenseits zu öffnen. Das Spiel war vorbei.

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