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    Kapitel 98: Samstag, 16 Uhr 08 Zimmer des Kochs


    Fast fünf Minuten lang hatten alle Anwesenden stumm und in grimmigem Nachdenken dem Toten seine letzte Ehre erwiesen. Die Totenstille, die sie mit dem Opfer teilten, war kalt und bedrückend und es war schließlich Gwang-jo Park, der anfing mit sich selbst zu kommunizieren, um das Gefühl der hilflosen Einsamkeit irgendwie zu ersticken. Er wirkte dabei, als ob er in einer anderen Welt wäre und seine Mitmenschen und unmittelbare Umgebung nicht mehr wahrnehmen könnte.

    „Was ist nur mit mir los? Kaltblütig erstickt, eiskalt präpariert. Wer sagt mir, dass ich nicht der Nächste sein werde? Kann ich mich schützen? Ist mein Wille stärker als das Schicksal? Wo geht meine Reise hin? Ich kann es nicht verantworten. Es geht nicht länger! Ich muss mich befreien. Irgendwie, irgendwann. Es ist Zeit.“, murmelte der Koreaner vor sich hin, wandte sich dann mit bleichem Gesicht und glasigen Augen von dem Toten ab und drängte sich plötzlich gewaltsam an Thomas vorbei, der gerade noch überlegt hatte, ob er auf den seltsamen Monolog eingehen sollte oder nicht.

    Stattdessen stieß der Koreaner ihn grob zur Seite, drückte sich auch an Abdullah vorbei, dem er seinen Arm energisch in die Seite rammte, dann stieß er die mit einem kleinen Spalt offen stehende Tür wuchtig auf und taumelte gehetzt in den Flur, wo er sich fast panisch umdrehte und mit eiligen Schritten aus dem Blick der verduzten Anwesenden entschwand.

    Thomas wandte sich ebenfalls um und ging langsam in Richtung des Flures, als sich eine Hand wie eine eisige Totenklaue auf seine Schulter legte und ihn sanft, aber bestimmt zur Seite drückte. Mit einem Frösteln und aufgerichteten Nackenhaaren wandte sich Thomas um und blickte in die Augen von Marilou, welche wie düstere Eisseen wirkten, wie unheimliche Gletscher mit einer unergründlichen Tiefe. Thomas wusste nicht wieso, aber er hatte plötzlich einen abartigen Vergleich im Kopf und stellte sich die Augen der Kanadierin als Loch Ness vor und ihre unergründliche Seele als Nessie.

    „Es macht keinen Sinn, er braucht jetzt seine Ruhe. Er ist gerade in einer Phase, wo er sich sehr zu verändern scheint, emotionaler und sozialer wird. Allerdings wirkt er sehr verwirrt und gehetzt. Wenn ihn jetzt jemand stört, dann könnte er wieder völlig durchdrehen. Ich würde mich vor diesem seltsamen Kauz in Acht nehmen und ihm auch im Moment keinen Glauben schenken.“, bemerkte Marilou eindringlich und Thomas nickte fast wie paralysiert, als ob er gerade all seine Energie und seinen Willen verloren hätte.

    „Wir sollten uns vor jedem hier in Acht nehmen.“, bemerkte lediglich Elaine Maria da Silva schnippisch und tauschte dabei einen bedeutungsschwangeren und frostigen Blick mit der Kanadierin aus, obwohl sich die beiden Frauen eben seltsamerweise noch getröstet hatten.

    Diesen leisen Konflikt hatte auch Abdullah bemerkt, der sich symbolisch vor seine Frau stellte und den Blick der Brasilianerin auf diese somit einschränkte. Grimmig verschränkte Abdullah seine Arme.

    „Hört bloß auf meine Frau zu beschuldigen! Der Konflikt von eben sollte jedem Warnung genug sein.“, drohte Abdullah nun seinerseits und wirket dabei grimmig, wenngleich er dabei nicht so furchteinflößend aussah wie seine Gattin.

    Für eine kurze Zeitspanne lang herrschte eine unbehagliche Stille im Raum, bevor sich Thomas vernehmlich räusperte und zum Tatort zurückbewegte, wobei er seiner brasilianischen Geliebten im Vorbeigehen an die Taille griff und sie langsam von dem verärgerten Pärchen wegzog. Thomas kannte das hitzige Temperament seiner Partnerin inzwischen zu Genüge und wollte eine weitere Eskalation unbedingt vermeiden. Bei seiner Aktion blickte Elaine Maria da Silva ihn jedoch zunächst verwundert, dann grimmig an und löste sich mit wehender Mähne aus seinem Griff. Demonstrativ trat sie nun zu Björn Ansgar Lykström, der stumm und nachdenklich auf den Toten starrte und an der hitzigen Diskussion gar nicht teilgenommen hatte. Der Schwede wirkte seltsam in sich gekehrt.

    „Ein Opfer wird es heute noch geben. Am Tag unserer Ankunft gab es den ersten Toten, am zweiten Tag gleich zwei Opfer, am dritten Tag wurde die Anzahl auf drei Personen gesteigert und heute sind es vier. Wenn wir diese Rechnung weiter kalkulieren, dann wären wir morgen um diese Uhrzeit vermutlich alle tot.“, bemerkte der Schwede kalt und wandte sich mit leerem Blick der Brasilianerin zu, die ihn an den Schultern packte und heftig durchschüttelte.

    „Ich will aber noch nicht sterben! Hast du gehört, du Schwarzseher? Ich will überleben!“, schrie sie außer sich vor Wut und hämmerte wuchtig auf den Brustkorb des durchtrainierten Lehrers ein, der sich gar nicht an dieser Verzweiflungstat störte.

    „Wir sollten unseren letzten Abend genießen.“, murmelte er in einer Mischung aus Sarkasmus und Resignation, während sich die Brasilianerin schluchzend gegen ihn presste, dann erschöpft auf die Bettkante sank, wo neben ihr der Tote lag.

    Thomas hatte dem Opfer inzwischen die Augen geschlossen und den offenen Mund behutsam zugedrückt, sodass der Anblick nicht mehr ganz so mulmig war. Wie lange mochte der Tote gelitten haben, bevor ihn das Kissen, das neben ihm lag und an der Unterseite völlig zerkratzt und zerbissen worden war, entgültig erstickt hatte? Thomas wollte der Sache unbedingt auf den Grund gehen.

    „Alle werden sterben. Alle werden wir sterben. Gemeinsam untergehen.“, murmelte Björn Ansgar Lykström inzwischen heiser vor sich her und lachte unecht dabei.

    Gebetsmühlenartig wiederholte er seine Phrasen und Thomas blickte ihn ein wenig besorgt dabei an. Dennoch versuchte er seine Gedanken auf einen erneuten Versuch der Ermittlung eines Täters zu fokussieren. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er sich noch nicht aufgegeben hatte. Trotz aller Angst und Bedrohung hatte er noch einen letzten Funken Hoffnung in sich gewahrt, den er jetzt praktisch als Initialzündung benötigte. Es klang in seinen Ohren makaber, aber je mehr Menschen unter den Anwesenden tot waren, desto näher kam er auch dem wahren Täter.

    „Was genau ist passiert, nachdem ich eingesperrt worden bin? Wart ihr als Gruppe zusammen, wer hat sich von ihr entfernt?“, wollte Thomas schließlich wissen.

    Elaine Maria da Silva blickte nachdenklich zu Boden und fuhr sich gedankenverloren durch ihr Haar, während der Schwede weiterhin regungslos auf den Toten starrte. Ein leises, kaltes Lächeln umspielte seine Lippen und er kicherte kopfschüttelnd. Die Augen des Schweden funkelten, als er sich zu Thomas umwandte. Der schottische Polizist bekam eine Gänsehaut und spürte wieder eine seltsam Veränderung, die nun diesen Anwesenden getroffen zu haben schien. Die Atmosphäre in dieser abgedunkelten Kammer wirkte plötzlich noch unheilvoller als bereits zuvor.

    Auch Elaine Maria da Silva warf dem Schweden einen ängstlichen Blick zu und trat wieder näher zu Thomas heran. Langsam und mit brüchiger Stimme versuchte sie sich abzulenken, in dem sie zu der Frage ihres Partners Stellung bezog. Dabei griff sie fast instinktiv an dessen Unteram.

    „Nun, ich versuche die Situation noch einmal zu rekonstruieren. Wir sind alle gemeinsam in die Bibliothek gegangen. Herr Lykström hatte sich gerade wieder ein wenig erholt und war zu Beginn gar nicht anwesend, was uns etwas überrascht hatte. Wir haben ihn dann aber in der Küche gefunden, wo er sich etwas zu trinken geholt hatte. Bei der Gelegenheit haben wir uns auch nach den verbliebenen Essensgegenständen umgesehen, aber hauptsächlich nur Konservendosen mit Hühnerbrühe gefunden. Das ist für mich aber kein Problem, es gibt eigentlich kaum etwas, was ich lieber esse als Hühnchen, egal in welcher Form.“, begann die Brasilianerin mit ihrer Reflektion und ließ ihre grazilen Hände dabei über den Unterarm des Schotten gleiten, der schließlich sanft ihre Hand ergriff und sie schützend umschloss.

    „In Ordnung. Was genau habt ihr danach gemacht?“, wollte Thomas dann wissen und war inzwischen nur noch auf das Gesicht der Brasilianerin konzentriert, wenngleich sie ihm mehr ihr Profil zuwandte und in eine unsehbare Ferne zu blicken schien. Björn Ansgar Lykström setzte sich plötzlich wie paralysiert auf das Bett des Toten und versteifte in dieser Position, bis er anfing wie ein Seekranker von einer Seite zur anderen zu schwanken.

    „Danach sind wir zurück in die Bibliothek gegangen, Gwang-jo ist aber noch kurz im Speisesaal geblieben und hat dort am zerstörten Fenster eine Zigarette geraucht. Der Sturm und Regen war draußen abgeflaut, daher bestand keinerlei Gefahr.“, fuhr die attraktive Brasilianerin nach einigen Sekunden der Verwirrung fort.

    „Habt ihr ihn dabei denn auch die ganze Zeit im Auge gehabt?“, wollte Thomas genau wissen und bemerkte das leichte Kopfschütteln seiner Partnerin, die ihn jedoch noch immer nicht anblickte und ein wenig verloren wirkte. Auch sie hatten die letzten Ereignisse offensichtlich zermürbt, zumal ja auch noch der Konflikt mit Thomas selbst noch hinzu gekommen war.

    „Wir haben ihn vielleicht für fünf Minuten aus den Augen gelassen, aber er kam dann zurück in die Bibliothek und wirkte seitdem sehr nachdenklich und besorgt. Man konnte seinen Sinneswandel förmlich spüren. Wir wollten uns aber vermehrt um Lykström kümmern, er war nach dem Mord an Mamadou und der Explosion dieser präparierten Kuckucksuhr völlig fertig. Marilou bot an, dem fiebrig und zittrig wirkenden Lehrer einige Wadenwickel zu machen und ein paar Handtücher zu holen. Sie muss auf ihrem Weg zu ihrem Zimmer dann irgendwie auf dich aufmerksam geworden sein. Nach einer Zeit rief sie uns und sagte Bescheid, dass sie dich wohl gefunden hatte. Wir waren ohnehin alle kurz davor gewesen nach dir zu suchen, wollten aber nicht getrennte Wege gehen.“, erklärte Elaine Maria da Silva fast entschuldigend und wandte Thomas zu ersten Mal seit langer Zeit wieder ihr Gesicht zu.

    Elaine Maria da Silva wirkte müde und ausgelaugt und doch lag in diesen Momenten eine fast friedliche Glückseligkeit in ihren Zügen. Sie lächelte Thomas an und ergriff nun ihrerseits seine Hand. Ihre wilde Liebeslust war einer sanften Zuneigung gewichen und sie drückte ihren Kopf an die Brust des Schotten, der ihr gedankenverloren durch das Haar strich. Er hörte ein leises Schluchzen der Brasilianerin und spürte selbst in sich eine resignierende Traurigkeit in sich aufsteigen.

    „Wir sollten zusammen bleiben, sonst ist niemand sicher.“, flüsterte Thomas ihr ins Ohr und sie löste sich sanft von ihm und blickte dem Schotten tief in die Augen. Sie sah ihn fast flehend und verzweifelt an.

    „Verzeihst du mir?“, fragte sie ihn unvermittelt mit dünner Stimme und hatte Schwierigkeiten ihm weiter gerade in die Augen zu gucken, weil ihr ganzes Gesicht wie unter Krämpfen zu beben schien.

    Thomas griff mit seiner rechten Hand zart nach dem Kinn der Brasilianerin und drückte es leicht in de Höhe, um in ihren Augen zu versinken und ihr seine Offenheit darzulegen. Mit einem traurigen Lächeln streichelte er mit seiner anderen Hand ihre linke Wange.

    „Wofür soll ich dir verzeihen?“, fragte er ebenso ruhig und sanft.

    „Das weißt du doch genau! Ich habe mich kindisch verhalten, als wir eben noch in der Eingangshalle gewesen waren. Ich habe dich vor allen anderen Anwesenden angeklagt und ein schlechtes Bild auf dich geworfen.“, bemerkte die südamerikanische Schönheit und atmete dabei tief und seufzend durch.

    Missmutig blickte sie zu Boden, doch Thomas ergriff erneut ihr Kinn, drückte es sanft in die Höhe, sodass seine Augen wieder in ihren versinken konnten.

    „Es war mein Fehler. Fast alle Anwesenden wussten über die Funde Bescheid, weil sie zufällig dabei waren. Ich hätte dich auch einweihen sollen, gerade dich. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber trotz aller Gefahren und Täuschungen vertraue ich dir irgendwie und ich hätte es dir dadurch beweisen können. Wie kann ich jemanden wie Gwang-jo es wissen lassen und eine so herzensgute und aufrichtige Dame wie dich nicht?“, fragte sich Thomas selbst mit einigem Spott und einem schelmischen Lächeln.

    „Lass es uns einfach vergessen. Auch ich vertraue dir, daran sollst du niemals zweifeln. Lass uns das, was vorgefallen ist, einfach vergessen.“, bat die Brasilianerin ihren Partner, der daraufhin langsam nickte.

    Dennoch wirkte der Schotte nicht sonderlich überzeugt. Die letzten Ereignisse waren völlig unvermittelt über ihn hereingebrochen. Gerade beziehungstechnisch hatte Thomas in seinem Leben immer ausreichend Probleme gehabt. Er war lange Zeit verwirrt gewesen, doch seit der letzten Nacht hatte er geglaubt klar zu sehen, war mit Elaine Maria da Silva wie auf Wolke sieben gewesen, doch durch ihre verbale Attacke am Nachmittag war sie ihm plötzlich viel menschlicher erschienen, ihre Liebe hatte etwas von ihrer magischen Unschuld verloren. Ihre erst langsam aufkeimende Beziehung stand jetzt unter keinem guten Vorzeichen, doch Thomas redete sich ein, dass er nun etwas hatte, für das es sich plötzlich zu kämpfen lohnte. Der engagierte Schotte schwor sich, dass er das Leben seiner Geliebten bis auf den letzten Tropfen Blut verteidigen würde. Wenn der Täter ihn zermürben sollte, dann musste er erst die Brasilianerin zermürben. Trotz oder gerade wegen all den Zweifeln und der Angst waren die beiden wie zusammengeschweißt und diese Gewissheit erfüllte das Herz des Schotten mit Leidenschaft und Stolz. Er war überzeugt, dass er an den Problemen wachsen würde und jeder Stich in sein Herz und jeder Schlag ins Gesicht ihn noch stärker machen würde. Je mehr Thomas über die ganze verfahrenen Situation nachdachte, desto mehr spürte er wieder ein gewisses Maß an Entschlossenheit in sich aufkeimen.

    Sein Blick fiel während seiner Gedankengänge wieder auf den schwedischen Lehrer, der sich immer seltsamer benahm und Thomas fast schon Angst machte. Björn Ansgar Lykström hatte es sich inzwischen im Schneidersitz auf dem Bett bequem gemacht und streichelte mit einem irrsinnigen Lächeln über die wenigen grauen Haare des Toten. Dabei summte er eine Art Kinderlied vor sich hin und wog sch leicht von vorne nach hinten. Thomas wurde immer besorgter um den schwedischen Lehrer, der allmählich dem Wahnsinn zu verfallen sein schien.

    „Björn Ansgar Lykström, hören Sie mich?“, fragte er laut und deutlich, doch sein Gegenüber reagierte gar nicht mehr auf seinen Ruf und schaukelte weiter ziellos neben dem Leichnam hin und her.

    In diesen Augenblicken fiel Thomas mit Schrecken auf, dass auch Marilou und Abdullah aus dem Zimmer des Toten verschwunden waren. Thomas war so sehr auf seinen wichtigen und erlösenden Dialog mit der Brasilianerin konzentriert gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sich das andere Pärchen heimlich aus dem Zimmer geschlichen hatte.

    Erschrocken löste er sich aus der Umarmung seiner brasilianischen Geliebten und trat verwirrt nach draußen auf den Flur. Eilig sah er sich um, doch die nähere Umgebung lag völlig verlassen vor ihm. Thomas hatte sofort das ungute Gefühl, dass sich das Pärchen nicht nur entfernt hatte, weil es den Anblick des Toten nicht mehr verkraften konnte. Thomas fühlte seinen rasenden Puls und tausend wirre Gedanken schwirrten durch seinen Kopf.

    Der schottische Polizist schloss die Augen, atmete regelmäßiger durch und schaffte es seinen Kreislauf zu beruhigen. Automatisch wurden auch seine Gedanken geordneter und eine fast meditative Ruhe schien ihn zu empfangen. Solche Methoden hatte er in seiner Zeit im Kloster erlernt und sie spendeten ihm jetzt viel Kraft und Besonnenheit.

    Er wurde erst durch die grazile Hand seiner Begleiterin aus dieser Ruhe gerissen, die inzwischen ebenfalls wieder ruhig und ernst wirkte.

    „Es bringt uns nichts, wenn wir jetzt in aller Hektik das Schloss durchsuchen und uns möglicherweise auch noch trennen. Wir müssen die Ruhe bewahren. Ich habe allerdings gerade noch eine andere Idee.“, deutete die Brasilianerin leise und überlegt an.

    „An was dachtest du?“, wollte Thomas wissen, der ihre Vorschläge sehr vernünftig fand.

    „Dein Kollege Mamadou hatte sich sehr seltsam benommen, weil er das Geheimnis des Mörders zu kennen schien. Ich bin davon überzeugt, dass er irgendwo ein paar Notizen gemacht oder so etwas Ähnliches unternommen hat.“, begann Elaine Maria da Silva.

    „Da magst du recht haben. Es ist die Marotte eines Polizisten ständig irgendwelche Notizen zu machen.“, stimmte Thomas ihr anerkennend zu.

    „Ein Punkt, den ihr mit uns Schriftstellern gemeinsam habt. Ich würde logischerweise vorschlagen, dass wir dem Zimmer deines toten Freundes einen Besuch abstatten, bevor der Mörder auf dieselbe Idee kommen könnte.“, mahnte die Brasilianerin Thomas, dem dieser Gedanke ebenfalls zeitgleich gekommen war. Er schalt sich einen Narren, dass er nicht bereits vorher an diese Möglichkeit gedacht hatte.

    War das Zimmer des Ghanaers das Ziel von Abdullah und Marilou gewesen? Steckten die beiden sogar zusammen hinter all den Morden? Was für eine Rolle spielte dann aber der seltsame Gwang-jo?

    In diesem Moment erklang ein düsteres, kratziges Lachen, das kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Mit einem lauten Klirren fiel irgendwo etwas zu Boden und kurz danach ertönte ein seltsam dumpfes Geräusch. Thomas blickte besorgt in das Zimmer des Toten und sah dabei durch die offene Tür, wie eine beschädigte Nachtischlampe behäbig über den Boden rollte und erst von einer Fußleiste gestoppt wurde. Sie warf ein bizarres Licht in den Raum, das die Konturen einer langsam kriechenden Person flackernd vergrößerte. Langsam schlich die Person auf allen Vieren auf die Lampe zu und Thomas erkannte sofort das verschwitzte Gesicht des schwedischen Lehrers, in dessen Augen ein seltsames Funkeln stand. Kichernd kroch der Schwede vorwärts auf die Lampe zu, stieß dabei gegen einen kleineren Tisch, auf dem lediglich eine verzierte, aber leere Blumenvase auf einer Decke stand. Instinktiv griff der verwirrte Mann nach der Decke und riss sie seitwärts fallend vom Tisch. Die Blumenvase fiel ein Stück nach hinten, rollte über die Kante und ging mit einem lauten Klirren am Boden zu Bruch. Verschreckt blickte sich der Lehrer um und blickte in einer Mischung aus Unglauben und Wissbegier auf Elaine du Thomas, als ob er von ihnen eine Antwort erwarten würde oder sogar Angst vor den beiden zu bekommen schien. Ängstlich kroch er auf allen Vieren zurück, warf sich schreiend herum und stürzte in den hinteren Bereich des Zimmers, wo er versehentlich eine Stehlampe umstieß, die polternd umkippte. Verwirrt klammerte sich der Schwede an den Jalousien fest, die das Zimmer abgedunkelt hatten und riss diese im Fallen zum Großteil mit herunter. Ein Geräusch reißenden Materials und ein metallisches Hallen begleiteten die versehentliche Zerstörungsorgie des Schweden, der sich in den Jalousien verstrickte und ächzend zu Boden fiel.

    Schummriges Licht erhellte nun das Totenzimmer durch das Fenster. Der Himmel war grau und düster, die Umgebung war als neblig zu bezeichnen, doch der Sturm schien mehr und mehr abgeflaut zu sein. Vielleicht würde er am nächsten Abend schon wieder ganz abgeklungen zu sein.

    Doch was nützte dies Thomas schon? Die Entscheidung um Leben oder Tod würde früher getroffen werden und ob die Verbesserung der Wetterlage auch bedeutete, dass man von dieser Insel entkommen konnte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Es gab kein Boot, zum Anfertigen eines Floßes fehlte es an nötigen und robusten Materialien und ein ordinäres Fischerboot würde bestimmt niemals auf die Idee kommen auf dieser Insel an Bord zu gehen. Die Leute würden sich erst dann Sorgen um den einsiedlerischen Direktor machen, wenn er zu Beginn des nächsten Schuljahres nicht in seiner Privatschule erscheinen würde. Bis zu Wiederbeginn der Schulzeit waren es aber noch gute zwei Wochen hin und die wollte Thomas nicht zwischen all den Toten auf der Insel verbringen.

    Der Polizist schüttelte diese Gedanken von sich ab und ging endlich auf Elaine Maria da Silva ein, die ihn bereits fragend, auffordernd und auch ungeduldig anschaute, da sie bemerkt hatte, dass er mit den Gedanken noch ganz woanders gewesen war.

    „Ich stimme dir zu. Die Frage ist nur, was wir mit Lykström in der Zwischenzeit machen werden.“, bemerkte Thomas nachdenklich.

    „Er wird wohl nicht viel mehr anrichten, als das, was er ohnehin schon getan hat. Er stellt derzeit keine Gefahr dar und nach seinem Verhalten zu urteilen, ist auch er nicht der Mörder.“, beruhigte Elaine Maria da Silva den pflichtbewussten Schotten.

    „Das ist mir auch klar. Wir können ihn aber doch nicht bei dem Toten lassen, wer weiß, was er noch alles mit ihm anstellen wird! Zudem habe ich arge Bedenken ihn hier zurückzulassen, da er für den Täter praktisch auf dem Präsentierteller sitzt.“, hielt Thomas entschlossen dagegen und spürte gleichzeitig die liebkosende und weiche Hand der Brasilianerin an seinen Lippen.

    Die südamerikanische Schönheit wollte ihn damit beruhigen, gleichzeitig aber auch zum Schweigen drängen. Sie hatte sich etwas in den Kopf gesetzt und wollte dies nun mit Anwendung dieser etwas unfairen Mittel auch knallhart durchsetzen. Thomas spürte wieder eine kure Welle der Erregung in sich und knabberte leicht an den Fingerkuppen der Brasilianerin, die glockenhell dabei lachte.

    „Wir werden nur kurz ein paar Räume weiter ein Zimmer untersuchen, das ist nichts Gefährliches, mein Süßer. Wenn es dich beruhigt, dann kannst du auch die Untersuchung allein vornehmen und ich stehe auf dem Gang Schmiere und halte die Augen offen.“, hauchte die Brasilianerin dem Schotten ins Ohr und dieser nickte fast instinktiv, als die Brasilianerin ihm einen weichen und feuchten Kuss auf die Wange hauchte und mit ihrer Hand in seinen Schritt griff.

    „Vielleicht hast du recht.“, murmelte Thomas mit hochrotem Kopf und erneut schien seine Partnerin leicht spöttisch über ihn zu lachen.

    „Mit gewissen Tricks sind Männer manchmal sehr leicht zu überzeugen.“, deutete die Brasilianerin mit einem raueren Lachen an und funkelte ihren Partner dabei verschwörerisch an.

    Dieser konnte sich nun doch ein Lächeln nicht ganz verkneifen und blickte in die überrascht aufstehenden Augen der Brasilianerin, die mit diesem plötzlichen Wandel ihres Partners nicht gerechnet hätte.

    Dieser zunächst unscheinbare und doch plumpe Spruch der Brasilainerin hatte die unheilvolle Atmosphäre endlich durchbrochen und Thomas von seinen dunklen Gedanken abgelenkt, wofür er ihr unsagbar dankbar war, obwohl immer noch ein letztes Gefühl des Zweifels in seinem Hinterkopf verweilte.

    Fast im selben Moment brachen beide in schallendes Gelächter aus. Die Brasilianerin hauchte ihrem Partner einen Kuss auf die Stirn und Thomas fühlte sich wieder wie neugeboren. Mit frischer Motivation hakte er bei seiner neuen Partnerin unter und sie marschierten beide mit einem Lächeln auf dem Gesicht und endlich auch ohne große Bedenken in Richtung des Zimmers des toten Ghanaers, ohne dabei einem anderen Gast über den Weg zu laufen.

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    Kapitel 99: Samstag, 16 Uhr 40 Mamadous Zimmer


    Als die beiden schließlich die Zimmertür erreicht hatten, war ihre Leichtigkeit schon wieder einer drückenden Konzentration gewichen. Dennoch hatte der kurze Moment des Glücks und der Zuversicht beiden sehr wohl getan, auch wenn in Zeiten wie diesen nichts von großer Dauer zu sein schien.

    Wie abgesprochen wartete die Brasilianerin im Gang, während Thomas Glück hatte, denn die Zimmertür war nicht abgeschlossen gewesen und so konnte er problemlos den Raum betreten. Behutsam schloss er die Tür hinter sich und schenkte seiner Partnerin ein zuversichtliches Lächeln, was diese charmant erwiderte.

    Mamadou hatte offenbar recht spartanisch gelebt. Thomas sah kaum persönliche Gegenstände, die Koffer waren noch eingepackt und er hatte sich nicht einmal der Kleiderschränke oder Schubladen des Nachttisches bedient. Selbst im Badezimmer, dessen Tür leicht offen stand, sah Thomas lediglich eine säuberlich eingepackte Kulturtasche und ein Shampoo, das sich auf einer Halterung in der Dusche befand. Die Handtücher und Badelaken waren sorgfältig gefaltet aufgehangen worden, so als ob sie nie benutzt worden wären.

    Umso mehr fiel Thomas natürlich der Laptop auf, der ein wenig versteckt in einer kleinen Tasche im Schatten des Kleiderschranks stand. Thomas runzelte die Stirn und dachte an das Einladungsschreiben des Direktors, der darauf hingewiesen hatte, dass die Gäste auf elektronische Geräte während ihres Treffens verzichten sollten. Offensichtlich hatte sich der Ghanaer nicht daran gehalten.

    Doch gerade in diesem Ungehorsam konnte eine große Chance liegen. Thomas fühlte sich wie elektrisiert, als der daran dachte, dass man über den Laptop möglicherweise einen Internetzugang hatte und somit die örtlichen Polizeibehörden oder die Küstenwache zur Hilfe rufen konnte. Thomas dachte sogar noch einen Schritt weiter, als er mit einigen zitternden Griffen den Laptop hochfahren ließ. Er war davon überzeugt, dass sein Kollege dies bereits getan hatte. Vielleicht würde Thomas nun sogar erfahren können, warum sich sein Kollege gegen Ende so seltsam und besorgt benommen hatte. Thomas dachte an die letzten Worte seines Kollegen, der ihm irgendetwas von einem Schlüssel erzählen wollte. Der schottische Polizist zermarterte sich das Gehirn, doch er kam einfach nicht auf die Lösung seines Problems. Er konnte sich auf den mysteriösen und bruchstückhaften Hinweis keinen Reim machen.

    Fast unerträglich langsam wurde der Laptop hochgefahren, schließlich erschien der Bildschirm mit einigen wenigen Programmen darauf. Die Ladezeit zog sich allerdings noch hin und Thomas trommelte ungeduldig auf das Gehäuse des Laptops. Zu seinem Glück hatte Mamadou seinen Laptop wenigstens nicht mit einem zusätzlichen Passwort sichern lassen. Mit wachen Augen überflog er die Programme und bemerkte sofort den Outlook Express, der dazu diente E-Mails zu schicken und zu empfangen. Thomas hatte selbst ein solches Programm und öffnete dieses nun rasch mit einigen Doppelklicks. Der Laptop schien zunächst überfordert und öffnete das Fenster nicht sofort. Wütend hämmerte Thomas mit seiner Faust auf den Tisch und biss die Zähne zusammen. Nervös wandte er sich zur Zimmertür um, in der Erwartung, dass jeden Moment dort jemand auftauchen könnte.

    Mit rasendem Herzschlag und drosselndem Atem fixierte Thomas die kleine Mattscheibe und ballte die Hand erleichtert zur Faust, als das Programm endlich fertig geladen hatte. Thomas war erstaunt, als der Laptop ihm ankündigte, dass zwei neue Nachrichten eingetroffen waren. Die erste stammte offensichtlich von einer Thomas unbekannten Frau, die zweite jedoch von einem gewissen Chief inspector Taylor Relliews.

    Rasch öffnete Thomas letztere Nachricht und fand in ihrem Anhang sogar die Nachricht, die der Ghanaer scheinbar am frühen Morgen eilig abgeschickt hatte, denn sie wimmelte vor Rechtschreibfehlern. Murmelnd las sich Thomas die Nachricht durch und spürte eine hektische Erregung dabei in sich aufsteigen, die mehr und mehr einem hitzigen Gefühl der Freude wich.

    „An die zuständigen polizeilichen Behörden der Küstendörfer Bridetown, Chairwell und Cothingstone, sowie die schottische Küstenwache Nord-Nord-Ost: Mein Name ist Mamadou Kharissimi, ich bin stellvertretender Polizeipräsident im dritten Bezirk von Edinburgh. Ich befinde mich derzeit auf Osario Island, etwa sieben Kilometer nördlich von Bridetown gelegen. Die Insel befindet sich in privatem Besitz und ich befinde mich hier mit insgesamt zehn weiteren Gästen, mit denen ich vor einigen Jahren auf derselben Privatschule meinen Schulabschluss erworben habe. Des Weiteren befinden sich noch der Gastgeber mit seiner Gattin im Schloss, sowie ein Butler und ein Koch, wenn ich mich nicht verzählt habe. Seit unserer Ankunft gegen Mittwochmittag dieser Woche ist es jedoch zu mehreren gewaltsamen Todesfällen gekommen. Sieben Menschen sind bereits gewaltsam gestorben, darunter auch die beiden Gastgeber, eine weitere Person hat sich unter enormen psychischen Druck das Leben genommen. Durch Zufall habe ich in dieser Nacht einen entscheidenden Hinweis auf den Täter zu Gesicht bekommen und diesen zur Rede gestellt. Die Person hat mir jedoch gedroht, dass sie bereits diverse weitere Fallen präpariert habe, um weitere Anwesende umzubringen. Über die Motive der Person bin ich mir nicht im Klaren, doch ich vermute, dass es sich um einen persönlichen Rachefeldzug handelt, da die Person in ihrer Jugendzeit viele Demütigungen und sogar Misshandlungen hinnehmen musste, wie ich annehme. Die Person drohte mir, dass sich eine Bombe in einer Kuckucksuhr befinden würde, die per Zeitzünder in die Luft gehen würde. Sie sagte, dass, wenn ich sie umbringen, einsperren oder verraten würde, das gesamte Schloss durch die Wucht der Detonation zerstört werden würde und nur sie selbst den Code kennt, um diese Bombe zu entschärfen. Ich kann also praktisch nicht gegen sie vorgehen, da ich sonst das Leben aller anderen Menschen auch akut gefährden würde. Leider kenne ich mich mit Sprengstoff auch nicht sonderlich gut aus, doch die Person hat mir in Abwesenheit der anderen Gäste die Uhr gezeigt und bewiesen, dass es sich um keinen Bluff zu handeln scheint. Ich werde versuchen den Täter so lange hinzuhalten, bis sie Verstärkung schicken und das Schloss und die Insel stürmen. Es handelt sich um eine extrem gefährliche Situation, daher bitte ich sie umgehenden einzugreifen. Jede Minute unnötiger Zeitverschwendung könnte hier ein Leben kosten. Reagieren Sie sofort! Da ich unter ständiger Überwachung stehe bin ich mir nicht sicher, ob ich auf mögliche Anfragen von ihrer Seite antworten kann, zumal ich meinen Laptop gut versteckt halte. Mit freundlichen Grüße, Ihr Mamadou Kharissimi.“, las sich Thomas vor und so langsam leuchte ihm ein, warum sein verstorbener Kollege so schweigsam, übervorsichtig und bedrückt gewirkt hatte.

    Thomas ärgerte es jedoch ungemein, dass der Ghanaer der Polizeibehörde nicht einmal den Namen des Killers verraten hatte. Thomas konnte sich kaum vorstellen, dass Mamadou diesen Aspekt vergessen hatte, aber warum hätte er den Namen absichtlich außen vor lassen sollen? Vielleicht aus Angst? Oder hatte er ihn tatsächlich in der Hektik vergessen?

    Thomas versuchte selbst darauf zu kommen, wen der Ghanaer als Täter entlarvt haben könnte. Wann war es bloß zu dem Zusammentreffen zwischen ihm und dem Täter gekommen? Wann waren sie gemeinsam in der Bibliothek gewesen, um diese Kuckucksuhr zu untersuchen? Welche der noch lebenden Personen hätte ein Rachemotiv gehabt? Wer unter ihnen war in seiner Schulzeit gedemütigt worden? Waren sie nicht alle auf ihre Art und Weise gedemütigt worden?

    Thomas dachte angestrengt nach, doch er wirkte wie paralysiert, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sein Kopf schmerzte, er fühlte sich müde und ausgelaugt und sein Blick wurde immer verschwommener, je länger er auf den flirrenden Plasmabildschirm starrte. Er schloss für einen Augenblick die Augen, atmete tief durch und bediente dann wieder den Cursor, um im Outlook Express die Antwort der Polizeibehörde durchzulesen.

    „Sehr geehrter Herr Kharissimi, auf Grund eines Serverproblems hat uns ihrer Nachricht erst vor wenigen Augenblicken erreicht. Auf Grund der heiklen Wetterlage und der für die heutige Nacht angekündigten Stürme werden wir die von ihnen genannte Insel am heutigen Tag leider nicht mehr erreichen können, da wir es nicht verantworten können, das Leben unserer Piloten oder Bootsmänner aufs Spiel zu setzen. In den Morgenstunden soll sich die Lage jedoch verbessern und die Sturmfront entgültig vorbeiziehen. Wir werden zu diesem Zeitpunkt auf dem schnellsten Weg unser Sonderkommando zu ihnen schicken und vermutlich am späten Vormittag bei ihnen eintreffen. Versuchen Sie den Täter so lange wie möglich hinzuhalten. Grenzen Sie seinen Handlungsspielraum ein, warnen Sie, soweit es Ihnen irgendwie möglich ist, die anderen Anwesenden vor ihm. Wir bräuchten am besten noch genauere Angaben des Täters und die Namen der anwesenden Personen. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Mit freundlichen Grüßen, Ihr Chief inspector Taylor Relliews, stellvertretender Polizeipräsident und Leiter aller Sonderkommandos im Bezirk Nord Nord Ost.“, las Thomas die Antwort laut vor und hielt seinen schweren Kopf dabei mit beiden Händen gestützt, wobei er sich mit den Ellbogen gegen die Tischkante stemmte.

    So sehr er sich auch eben noch über die Nachricht gefreut hatte, so schnell trat bei ihm jetzt die Ernüchterung ein. Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch und sprang grimmig von seinem Stuhl auf. Kopfschüttelnd lief er in dem Zimmer hin und her und wusste nicht, wie er seinem Ärger Luft verschaffen sollte.

    Er empfand es als eine Dreistigkeit, dass die örtlichen Behörden erst am nächsten Morgen eingreifen wollten. Sie wollten einen eventuellen Anflug auf die Insel gar nicht erst probieren wegen des Sturms. Stattdessen nahm man fast billigend in Kauf, dass die überlebenden Gäste in der Zwischenzeit weiterhin in akuter Lebensgefahr schwebten und sich einzeln nacheinander abschlachten ließen. Was dachte dieser stellvertretende Polizeipräsident denn von ihnen? Meinte er etwa, dass sie alle aus Dummheit in die tödlichen Fallen getappt waren und dem Killer dabei tatenlos zugesehen hatten? Konnte er sich nicht vorstellen, dass man alles daran gesetzt hatte, ein System hinter den Morden zu erkennen, um den Täter in irgendeiner Weise zu stoppen? Wie ignorant musste man sein, um solch eine verzweifelten Schrei nach Hilfe einfach auf die leichte Schulter zu nehmen?

    Thomas trat wütend gegen einen der Holzstühle, der krachend gegen die Wand flog und ballte seine Hände zu Fäusten. Er war sich darüber bewusst, dass ihm erneut die Hände gebunden waren, dass er wieder nicht entscheidend eingreifen konnte. Er war auf fremde Hilfe angewiesen und diese ließ sie nun im Stich. Der Schotte spielte kurz mit dem Gedanken, ob er der Behörde ebenfalls eine Nachricht schicken sollte, doch er bezweifelte, dass er mehr Erfolg haben würde, als sein Kollege, dessen engagierten Rettungsversuch Thomas im Nachhinein enorm wertschätzte. 

    In diesem Moment wurde plötzlich grob die Zimmertür aufgerissen und Thomas zuckte zurück und ging in die Knie, in Erwartung eines schnellen Angriffs. Geduckt nahm er eine Abwehrstellung ein und atmete erleichtert auf, als er Elaine Maria da Silva erblickte, die ihm einen erstaunten Blick zuwarf, die Tür hinter sich schloss und Thomas eindringlich anblickte.

    „Gwang-jo kommt gerade die Treppe hoch. Ich wollte unsere Position nicht verraten und habe es vorgezogen mich hier bei dir kurzzeitig zu verstecken. Allerdings solltest du dann auch nicht so einen Lärm machen!“, flüsterte die Brasilianerin eindringlich und bemerkte kurz darauf erstaunt den halb zertrümmerten Stuhl, den Thomas eben erst demoliert hatte. Fragend blickte sie ihren Partner an.

    „Ich habe gerade Mamadous Laptop gefunden. Er hat eine Nachricht an die nächsten Polizeistationen geschickt. Die Sondereinheiten werden frühestens morgen Vormittag eintreffen, wegen des Sturms.“, erklärte Thomas, der sich inzwischen wieder an den Laptop gesetzt hatte und auch noch die zweite Nachricht anschauen wollte. Diese war an eine Frau adressiert worden.

    Thomas öffnete die Nachricht und merkte sogleich, dass sie an die Freundin oder Frau des Ghanaers gerichtet war. Sie war in einer Thomas fremden Sprache verfasst worden, vermutlich Akan, der neben der Amtssprache Englisch meistbenutztesten Sprache Ghanas. Thomas fühlte sich unwohl, als er daran dachte, dass dies die letzte Nachricht gewesen war, die Mamadou in seinem Leben verschickt hatte. Er wollte seinem toten Kollegen diese Privatsphäre nicht nehmen, da der Brief vielleicht eine Art persönlichen Abschied von einer nahestehenden Person darstellte. Mit einem unguten Gefühl schloss Thomas die Datei und blickte sich noch anderweitig auf dem Rechner um und kam dabei zufällig auf den Internet Explorer. Langsam summend baute der Laptop eine Verbindung auf.

    „Verdammt, das könnte vielleicht schon zu spät sein“, brach es inzwischen laut aus Elaine Maria da Silva hervor und sie biss sich danach plötzlich auf die Lippen.

    Besorgt blickte sie zur Tür und hielt den Atem an. Tatsächlich vernahm eilige und tappende Schritte aus dem Flur, die sich jedoch nicht dem Zimmer des Ghanaers näherten. Erleichtert atmete die Brasilianerin auf und ließ sich erschöpft auf das sauber gemachte Bett des Toten fallen.

    Thomas war inzwischen ein anderer Gedanke gekommen. Er überprüfte im Verlaufsmodus die Seiten, die Mamadou zuletzt aufgerufen hatte und stieß dabei auf zwei verschiedene Seiten. Die erste behandelte mehrere Provinzialflaggen verschiedener Länder. Thomas warf flüchtig einen Blick darüber, konnte jedoch auf Anhieb keinerlei interessante Dinge finden. Daher nahm er sich direkt den zweiten Link vor, der ihn zu einer Seite führte, die eine Biographie über einen Politiker namens René Lévesque enthielt. Thomas musste sich eingestehen diesen französischen Namen niemals zuvor gehört zu haben. Wo lagen hier die Zusammenhänge?

    In diesem Moment trat Elaine Maria da Silva zu ihm, die sich stöhnend auf seiner Schulter abstützte und ihren Kopf sanft gegen den seinigen legte. Dabei blickte sie zunächst relativ müde und desinteressiert auf den Bildschirm, bis sie plötzlich erstarrte und die Seite näher betrachtete. Auch Thomas war dieser Wandel nicht entgangen und er wandte sich fragend an seine Begleiterin.

    „Den Kerl auf der Seite kenne ich. Er war einer der bekanntesten Premierminister der kanadischen Provinz Québec. Er hatte die Parti Québécois gegründet und sich für die Abspaltung der Provinz vom restlichen Land und deren Autonomie eingesetzt. Er hat versucht diese Unabhängigkeit durch ein Referendum zu erreichen und ist nur sehr knapp gescheitert. Er war eine sehr kontroverse Persönlichkeit, immer provokant und stoisch, sein Markenzeichen war, dass er ständig Zigaretten geraucht hat.“, berichtete Elaine Maria da Silva atemlos und sah Thomas erwatungsvoll an, doch dieser verstand die Geste nicht und blinzelte seine Partnerin verwirrt an.

    „Woher weißt du das alles?“, wollte er wissen.

    „Ich interessiere mich für Politik, zumal meine beste Freundin Politikwissenschaften studiert hat. Das ist aber zweitrangig, fällt dir denn nichts auf?“, forderte Elaine Maria da Silva ihren Geliebten zu einem kurzen Ratespiel auf, obwohl diesem überhaupt nicht danach war. Er wollte sich gerade ungeduldig beklagen, als er mit leuchtenden Augen einen Einfall hatte.

    „Doch, klar! Gwang-jo hat Politikwissenschaften studiert! Er wird diesen Menschen auch kennen. Aber ich verstehe nicht, warum Mamadou sich über diesen Premierminister schlau gemacht hat, das passt doch gar nicht zum Fall?“, erwiderte Thomas nachdenklich und wirkte seltsam leer und ratlos.

    „Von der Seite aus habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet. Ich dachte eigentlich eher an Marilou Gauthier. Immerhin kommt sie auch aus Québec. Das könnte genau passen!“, bemerkte Elaine Maria da Silva und Thomas sah sie erstaunt und mit fiebrigen Augen an.

    Er war gerade aufgestanden und dreht unruhig eine Runde in dem Zimmer seines toten Kollegen. Sein Gedankenapparat arbeitete wie auf Hochtouren. Er wollte gerade etwas erwidern, als er beiläufig aus dem Fenster sah. Das Zimmer befand sich an der Seitenfassade des Schlosses und bot einen guten Blick auf die Steilküste und die ersten Ausläufer des Dickichts. Thomas musste schon zweimal hinsehen und verwirrt blinzeln, um zu erkennen, dass eine dunkel gekleidete Person in aller Eile um das Schloss herumrannte. Noch erstaunlicher war aber der Gegenstand, den die Person in der Hand hielt. Es handelte sich um ein japanisches Katana, dessen scharfes Ende in Blut getränkt war.

    Erregt presste Thomas sein Gesicht förmlich gegen die Scheibe und seine Partnerin trat erstaunt an ihn heran. Thomas kam ihrer Frage zuvor, indem er stumm auf die Person wies, die jetzt geduckt auf die hintere Seite des Schlosses rannte und aus ihrem Blickfeld verschwand, doch als die Brasilianerin endlich nah genug an der Scheibe stand, war die Person auch schon wieder untergetaucht. Thomas dachte kurz nach, fuhr dann herum und rannte eilig auf die Zimmertür zu, die er dann aber bedachtsam öffnete und vorsichtig auf den Gang blickte, da niemand etwas von ihrem Besuch in dem Zimmer erfahren sollte.

    Als Thomas merkte, dass der düstere Gang in völliger Stille vor ihm lag, drückte er sich behutsam durch den Türspalt und nahm seine Partnerin an die Hand. Die Brasilianerin blickte ihn nachdenklich an, während der schottische Polizist sie bis in Richtung der Eingangshalle schleifte. Sie konnte sich noch keinen Reim darauf machen, was ihr Partner überhaupt vor hatte und sein grimmiger und stoischer Gesichtsausdruck wies darauf hin, dass er dies derzeit auch nicht mitteilen wollte, sondern versessen einer spontanen Eingabe zu folgen schien.  Am oberen Ende der Treppe war es die Brasilianerin leid und sie drückte Thomas zu sich herum.

    „Thomas, was hast du überhaupt vor? Würdest du mich vielleicht irgendwie mal aufklären, anstatt mich so brutal mitzuschleifen?“, wollte die Brasilianerin wissen.

    „Wer immer diese Person im Garten war, ich schätze, dass sie durch das zerstörte Fenster des Speisesaals nach draußen gelangt ist. Das Schwert stammt vermutlich aus der Sammlung des Direktors, ich glaube so ein Exemplar in seinem Arbeitszimmer gesehen zu haben. Wir müssen dieser Person folgen und ich wollte dich nicht oben allein lassen.“, erklärte Thomas hektisch und mürrisch und ging dabei schon rasch die Treppenstufen herunter, wobei er manchmal direkt mehrere auf einmal nahm, sodass seine Partnerin Mühe hatte, ihm überhaupt zu folgen.

    „Na schön. Wir sollten aber auch herausfinden, wo die Anderen sind. Du hast doch das Blut gesehen, irgendwer muss mit diesem verdammten Schwert auch verletzt worden sein. Ich hätte nicht gedacht, dass der Killer so schnell wieder zuschlagen würde.“, kommentierte die schöne Brasilianerin ächzend die Situation und wäre mit ihrem pompösen Kleid und ihren edlen Schuhen mit Absätzen fast das ein oder andere Mal böse gestolpert. Zum Glück hatte sie gute Reflexe und schien es gewohnt zu sein, sich mit solcher Kleidung regelmäßig und schnell voran zu bewegen.

    „Ich denke nicht, dass es derselbe Killer war. Er hätte sich nicht so hektisch verhalten und so von uns überraschen lassen, außerdem stimmt die Uhrzeit einfach nicht mit dem Hinweis auf dem Taschentuch des Kochs überein.“, antwortete Thomas und eilte bereits weiter an dem Springbrunnen vorbei in die Bibliothek.

    Der schottische Polizist wollte gerade um die nächste Ecke gehen, als plötzlich ein Schatten um selbige herumeilte und brutal mit Thomas zusammenstieß. Mit einem Schrei der Überraschung verlor Thomas in seinem schnellen Lauf das Gleichgewicht und landete rücklings auf dem Boden. Abwehrend hob er instinktiv die Arme schützend vor sein Gesicht, als die für ihn noch unerkenntliche Person ebenfalls mit erhobenen Armen und verzerrten Gesichtszügen auf seinen Körper stürzte, während Elaine Maria da Silva wie erstarrt stehen geblieben war und mit schreckgeweiteten Augen und offenem Mund die bedrohliche Kollision mitverfolgte.

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    Kapitel 100: Samstag, 17 Uhr 11 Bibliothek


    Thomas hatte sich noch im letzten Moment zur Seite gedreht, sodass der Aufprall der anderen Person auf seinen Körper nicht allzu heftig war. Sie landete nun seitwärts auf seinem Rücken und rollte sich rasch davon herunter.

    Der energische Polizist befürchtete einen schnellen Angriff und stemmte sich mit den Armen vom Boden ab und übertrug diese Kraft in seine Füße zu einem mächtigen Hechtsprung, der ihn aus der unmittelbaren Gefahrenzone katapultierte. Dabei hatte er jedoch weniger auf seine Umgebung geachtet und krachte mit voller Wucht gegen eine Ritterrüstung, die scheppernd über ihm zusammenbrach und ihn schmerzhaft unter sich begrub.

    Thomas schloss die Augen, riss abwehrend die Arme hoch und versuchte den infernalischen Lärm weitestgehend zu ignorieren. Mit seinen Füßen befreite er sich durch grobe Tritte von der Rüstung und hechtete wieder in die Mitte des Zwischenganges. Aus den Augenwinkeln heraus sah er seinen vermeintlichen Gegner, der sich seinerseits mit einem Sprung in die Bibliothek von Thomas entfernt hatte und abwehrend, in halb kniender, halb geduckter Position auf eine mögliche Attacke lauerte.

    Der Schotte jedoch stoppte seinen Schritt und fuhr herum. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er sein Gegenüber zu erkennen, doch die Bibliothek lag in fast undurchsichtiger Schwärze vor ihm, da sowohl die meisten Kerzen, als auch das Kaminfeuer ausgegangen waren, während sich eine fast tiefschwarze und unheilvolle Nacht auf diese Insel gelegt zu haben schien.

    Thomas dachte daran, dass es im Frühherbst, den sie gerade durchlebten, eigentlich nicht so extrem früh dunkel wurde, selbst nicht in den nördlichsten Ausläufern Schottlands und dachte an die letzten Ausläufer des Sturmes, von denen der von Mamadou kontaktierte Taylor Relliews in seiner Nachricht berichtet hatte. Tatsächlich war der pfeifende Wind aus der Eingangshalle wieder deutlicher zu vernehmen und auch ein immer wiederkehrendes Grollen war dem schottischen Polizisten aufgefallen.

    Nervös atmete Thomas durch und versuchte seinen Puls wieder in einen einigermaßen schmerzfreien Bereich zu bekommen. Er harrte kurz aus und fixierte die Schemen in der Dunkelheit, in der Hoffnung durch diese Konturen sein Gegenüber zu erkennen, was ihm jedoch nicht gelang. Schließlich wischte sich der Schotte den Schweiß von der Stirn und machte den ersten Schritt. Behutsam trat er nach vorne und beobachtete die unidentifizierbare Person dabei genauer. Nach wenigen Schritten schien auch sie nervös zu werden und richtete sich langsam auf.

    Plötzlich legte sich eine kalte Hand auf Thomas Schulter und dieser fuhr panisch herum und riss dabei instinktiv seinen rechten Arm zum Schlag hoch, doch seine Attacke wurde bereits im Ansatz geblockt und machte seine Deckung dadurch völlig zunichte. Thomas Puls lief wieder auf Hochtouren und er machte große Augen, als er seine brasilianische Partnerin erkannte, die ihn entnervt, aber eindringlich anblickte.

    „Pass genau auf, was du da tust!“, warnte sie ihren Partner, der grimmig nickte und sich abwenden wollte, doch die stoische Schönheit riss ihn erneut energisch herum und blickte ihm tief in die Augen.

    Dieser Blick sagte Thomas mehr als tausend Worte, denn neben einer grimmigen Entschlossenheit, flackerte in dem herrischen Blick der Brasilianerin auch so etwas wie Angst vor einem Duell, welches Thomas letztes sein könnte.

    Er nickte ihr beruhigend zu und wandte sich wieder herum. Die andere Person war nun ihrerseits einige Schritte nähergekommen und der flackernde Kerzenschein aus der Eingangshalle hatte die Person immerhin bis zu ihrer Taille aus dem Dunkeln gerissen.

    Thomas fühlte sich an die obligatorischen Western erinnert, die er als Kind ebenso gern verfolgt hatte wie das asiatische Pendant dazu, die Eastern. Die beiden Kontrahenten standen sich in diesem endlos wirkenden Gang gegenüber und die Spannung in der Atmosphäre war förmlich greifbar. Doch im Gegensatz zu den Filmen, in denen die Protagonisten immer souverän, selbstsicher und gar lässig wirkten, hatte Thomas große Mühe ein Schlottern in seinen Knien zu vermeiden und das drückende Gefühl in seinem Magen zu ignorieren.

    Auch sein Gegenüber verharrte noch kurz, doch dann gab sich der mysteriöse Unbekannte einen Ruck und trat wie in Zeitlupe den entscheidenden Tritt nach vorne. Thomas stockte der Atem, als sich das flackernde Kerzenlicht langsam über den Oberkörper und Hals bis zur unteren Gesichtspartie schob. Die Augen seines Gegenübers leuchteten geheimnisvoll im Widerschein der Kerze und hatten fast etwas Teuflisches an sich. Die Person verharrte erneut und genoss mit einem zaghaften Lächeln ihren dramatischen Auftritt, bevor sie abwehrend die Arme hob und tief durchatmete.

    „Mein Gott, ich habe mich ganz schön erschrocken, lieber Thomas. Ich hatte schon befürchtet, man wollte mich umbringen.“, meinte Marilou Gauthier und lachte dabei unecht.

    Thomas schwitzte am ganzen Körper und musste diese Überraschung und die nervzehrenden letzten Momente erst einmal verdauen. Widerspenstig hämmerte der Herzschlag in seinem Kopf und schien von seiner Schädeldecke schmerzhaft widerzuhallen. Entnervt verzog Thomas das Gesicht und massierte seine Schläfen.

    „Das haben wir von dir auch gedacht, Marilou. Und an unseren Gedanken hat sich seitdem auch nicht viel geändert.“, gab Elaine Maria da Silva anstelle ihres Partners zurück und die beiden Frauen tauschten einen kurzen, hasserfüllten Blick aus. Überheblich schnaufend wandte sich die Brasilianerin ab und lachte verächtlich.

    „Sie kamen ja in einem Tempo um die Ecke gestürzt! Was war da los?“, wollte Thomas wissen und versuchte die prekäre Situation ein wenig zu entspannen, indem er Marilou bewusst siezte und alle Anwesenden von unwichtigen Dingen ablenken wollte, um sich auf den eigentlichen Grund des Zusammenpralls zu konzentrieren.

    „Es ist etwas Schreckliches geschehen. Gwang-jo hatte sich ja nach der Entdeckung des toten Kochs sehr eilig verzogen und mein Mann und ich haben versucht ihn unauffällig zu verfolgen. Er ist erst in seinem Zimmer gewesen, rannte danach überstürzt nach hier unten und wollte offensichtlich durch das zerstörte Fenster fliehen.“, berichtete die Kanadierin, die mit einem Mal wieder sehr ruhig und besonnen wirkte und Thomas tief in die Augen sah.

    „Das kann noch nicht alles gewesen sein. Wir haben Gwang-jo von oben aus dem Fenster sehen können und er hatte eine blutbefleckte Katana bei sich.“, stammelte Thomas, der unter dem stechenden Blick seiner Gesprächspartnerin zunehmend nervöser wurde. Diese runzelte nachdenklich die Stirn und blickte Thomas lauernd an.

    „Tatsächlich? Aber das Zimmer des Kochs war doch völlig abgedunkelt und führt zudem zur anderen Seite des Schlosses heraus.“, bemerkte die Kanadierin kritisch und Thomas biss sich verärgert auf die Lippen. Er hatte sich nervös machen lassen und leichtfertig verplappert.

    „Nein, nein, da liegt wohl ein Missverständnis vor. Nun ja, ich war noch kurz in meinem eigenen Zimmer, habe einen Schluck Wasser getrunken, da habe ich es halt zufällig gesehen.“, redete der Schotte sich nach kurzer Bedenkpause heraus.

    Die Kanadierin nickte langsam und versuchte verständnisvoll zu lächeln, was ihr jedoch fürchterlich misslang. Sie glaubte Thomas offensichtlich kein einziges Wort.

    „Das ist doch auch völlig irrelevant, wir müssen uns schließlich nicht rechtfertigen. Was ist also danach passiert?“, fragte Elaine Maria da Silva ungehalten und versuchte ihrem Partner durch mehr Entschlossenheit ein wenig zur Hilfe zu kommen.

    „In einer Situation wie dieser, müssen wir uns alle voreinander rechtfertigen, denn man kann niemandem mehr trauen und alle lügen sich an oder stellen waghalsige Verschwörungstheorien auf.“, konterte Marilou grimmig und ballte dabei ihre Fäuste.

    „Die natürlich nur dann waghalsig sind, wenn sie dich selbst betreffen.“, gab Elaine Maria da Silva spöttisch zurück.

    „Das musst du mieses Flittchen gerade sagen. Du lässt dich mit jedem ein, um geschützt und geachtet zu werden. Ich frage mich, ob du überhaupt noch ein einziges Quäntchen Moral besitzt.“, entgegnete Marilou aggressiv und versteifte drohend in ihrer Haltung.

    „Ich habe viel Spaß in meinem Leben. Wage es ja nicht, mich ein Flittchen zu nennen. Meine Gefühle für Thomas sind absolut aufrichtig und ohne jeglichen Hintergedanken. Du redest nur so, weil es in deiner eigenen Ehe scheinbar alles Andere als gut läuft und dein Mann anderen Frauen hinterherrennt, weil du ihn nicht zufrieden stellst! Außerdem bin ich wenigstens nicht psychisch gestört.“, meinte die Brasilianerin mit gepresster Stimme, während ihre Kontrahentin diesen Kommentar zunächst nur mit einem bösen und abwertenden Lachen entgegnete.

    „Wenn ich so deine Romane lese oder deine Verhaltensweise betrachte, muss ich mich wohl doch eher fragen, ob du nicht selbst ein wenig geistesgestört bist, möglicherweise sogar noch sehr viel mehr als ich.“, erwiderte Marilou nach einiger Zeit.

    „Hört sofort damit auf! Diese Sticheleien bringen uns absolut nicht weiter! Ich will jetzt wissen, was genau eben passiert ist!“, herrschte Thomas die beiden weiblichen Streithähne an.

    Die beiden Frauen schenkten sich noch einen bitterbösen Blick, bevor sich Marilou wieder dem ungeduldigen Thomas zuwandte und ihre Ausführungen vollendete.

    „Gwang-jo hat noch einmal kurz gestoppt, bevor er fliehen wollte und ist in das Arbeitszimmer des Direktors gerannt. Er hat dort fieberhaft nach einer Waffe gesucht und schließlich einfach das erstbeste Katana von der Wand gerissen. Damit wollte er flüchten, aber wir haben ihn auf dem Rückweg gestellt.“, berichtete Marilou ohne einen einzigen Hauch von Hektik oder Angst.

    „Das war sehr mutig von euch.“, bemerkte Thomas nicht ohne Anerkennung und hatte schön ein ungutes Gefühl in der Magengegend, als er daran dachte, dass Abdullah nicht bei seiner Frau war und ihm möglicherweise etwas zugestoßen sein könnte. Allerdings schien Marilou auch nicht wirklich bewegt oder traurig zu sein. Sie wirkte unheimlich gefasst und sicher, fast schon unnatürlich kalt und abgebrüht. Irgendetwas stimmte mit der Kanadierin einfach nicht. Der schottische Polizist konnte sich kaum mehr halten vor Anspannung und wollte sich endlich Klarheit verschaffen.

    „Es war allerdings auch töricht, wie ich im Nachhinein einsehen muss.“, gab Marilou leise zurück und blickte grimmig zu Boden. Sie ballte dabei die Fäuste und schien weniger über den cholerischen Koreaner, als über sich selbst verärgert zu sein.

    „Was ist denn passiert?“, hakte Thomas ungeduldig nach.

    „Gwang-jo wollte erst einfach durch die Mitte rennen und entkommen. Abdullah wollte ihn von der Seite angreifen und da hat Gwang-jo sich herumgeworfen und ihn brutal angegriffen. Er ist zu einer wahren Furie geworden, hat Abdullah an der Schulter und im unteren Bauchbereich verletzt und ich sah mich gezwungen einzugreifen.“, berichtete die Kanadierin weiter und Elaine Maria da Silva verzog verächtlich das Gesicht.

    „Natürlich, jetzt wird das Ganze zu einer heldenhaften Tat hochstilisiert.“, bemerkte die Brasilianerin, die sich einen hämischen Kommentar gegenüber der von ihr verhassten Marilou nicht verkneifen konnte.

    Die Kanadierin blickte die Brasilianerin wieder ein Mal kalt und böse an und in ihren Augen funkelte ein gehässiges Versprechen, das Thomas schaudern ließ. Er wollte irgendetwas erwähnen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Er fühlte sich zwischen den beiden rivalisierenden Frauen irgendwie hilflos und verloren. Nach wenigen Sekunden des drückenden Schweigens wandte Marilou ihren Blick wieder in aller Ruhe und Intensität dem Schotten zu.

    „Ich habe mich in seinen Rücken gestürzt und ihn mit einem Tritt von den Beinen geholt. Die Waffe hielt er dabei jedoch krampfhaft fest. Ich habe versucht sie ihm aus der Hand zu treten, doch der Kerl hat sich aufgerappelt, ist einfach in mich hineingerannt und hat mich grob zu Boden gestoßen. Er war wie von Sinnen, schrie wirres Zeug zu mir und wollte mich mit dem Katana offensichtlich erstechen. Ich habe zwei Attacken mit den Füßen abgewehrt, dann hat er sich herumgeworfen, weil er scheinbar keine Zeit mehr verlieren wollte und realisieren musste, dass ich ihm als Gegnerin nicht unterlegen war.“, führte Marilou ihren Bericht nicht ohne Stolz fort.

    „Dann ist Gwang-jo durch das offene Fenster geflohen, nehme ich an?“, konstruierte Thomas das mögliche Ende des Vorfalls.

    „Genauso war es. Er ist wohl in Richtung des Waldes geflohen. Mir ist völlig schleierhaft, was er dort will. Vielleicht hält er dort weitere Waffen versteckt oder sucht diesen komischen Wolf auf.“, mutmaßte die Kanadierin voller grimmiger Energie.

    „Das halte ich eher für unwahrscheinlich. Ich denke, ich weiß schon, wer wirklich hinter der Mordserie steckt. Es ist gewiss nicht der Koreaner.“, warf Elaine Maria da Silva erneut provozierend ein und schenkte der Kanadierin dabei einen eindeutigen Blick.

    Thomas warf ihr einen wütenden Blick zu. Es gefiel ihm gar nicht, dass die hitzige Brasilianerin einen weiteren Konflikt vom Zaun brechen wollte, um noch mehr Unruhe in das Schloss bringen. Der schottische Polizist wurde mit einem Mal sehr nachdenklich. Konnte es möglicherweise sein, dass Elaine Maria da Silva jetzt schon fast krankhaft den Verdacht auf die undurchschaubare Kanadierin lenken wollte? Steckte dahinter ein tieferer Sinn oder war es einfach nur ihre Intuition? Oder lag dies nur an den Spannungen zwischen den beiden Damen?

    Thomas spürte, dass die gesamte Situation noch wie die Ruhe vor einem grausamen, finalen Sturm war, der ebenso wie die erbarmungslose Natur über Nacht über sie hineinbrechen würde.

    „Was ist jetzt mit ihrem Gatten? Er ist doch verletzt. Wo befindet er sich jetzt?“, wollte Thomas von Marilou wissen, die zunächst gar nicht darauf reagierte und stattdessen wieder der Brasilianerin einen starren Blick zuwarf. Thomas wollte seine Frage schon noch einmal lauter wiederholen, als die Kanadierin sich endlich wieder ihm zuwandte und plötzlich überrascht und verwirrt wirkte.

    „Mein Gatte? Ja, der befindet sich noch im Speisesaal. Er ist wohl nicht lebensbedrohlich verletzt. Hören Sie, Thomas Jason Smith, wir müssen alles daran setzen diesen Verrückten zu stellen und ihn zurück ins Schloss zu bringen, denn er ist uns allen Rechenschaft schuldig. Sie müssen hinaus, um ihn zu suchen.“, forderte Marilou den jungen Schotten eindringlich auf. Dieser fühlte sich ein wenig bedrängt. Die Kanadierin hatte den Zustand ihres Mannes einfach in einem simplen Satz abgehandelt, als ob ihr wenig an ihm läge und stattdessen sehr herrisch auf Thomas eingeredet. Er wusste zunächst gar nicht, wie er darauf reagieren sollte. Sein gesamter Elan, seine komplette Souveränität war im Angesicht der Kanadierin völlig abhanden gekommen.

    Thomas versuchte sich innerlich zu sammeln und erneut half ihm sein unzerstörbarer Glaube in dieser schwierigen Situation weiter. Er musste sich an ein Bibelzitat erinnern, welches er in seiner Jugend einst als Konfirmationsspruch auserkoren hatte. „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ So hatte dieses weise Zitat aus dem zweiten Buch Timotheus gelautet. Deutlicher als je zuvor wurde Thomas der gewichtige Inhalt dieses Satzes nun bewusst. Damals hatte er sich keine großen Gedanken darum gemacht, war immer unbekümmert gewesen und hatte der Religion auch keine große Bedeutung beigemessen. Im Nachhinein musste er sich eingestehen, dass er die Konfirmation nur gemacht hatte, weil seine Eltern darauf bestanden hatten und vor allem auch wegen der vielen Geschenke. Zudem war sein großer Schwarm damals auch in der Konfirmationsgruppe gewesen. Der Gedanke an diese unbeschwerte Zeit der Jugend gab Thomas neue Hoffnung, wenngleich er sich jetzt doch ein wenig alt und verloren fühlte. Er bedauerte zutiefst, dass sich die Räder der Zeit nicht zurückdrehen ließen. Er wünschte sich, dass es zu diesem fatalen Abend in der Kneipe nie gekommen wäre, dem Abend, an dem sein Freund wegen seiner Waghalsigkeit mit dem Leben bezahlen musste. Er hatte für seine Risikobereitschaft einen hohen Preis zahlen müssen, denn durch seine Anstiftung und seinen indirekten Einfluss war eine der wenigen Personen brutal gestorben, die er wirklich je als einen Freund bezeichnen konnte. Der Schotte hatte gesündigt, einen enormen Fehler begannen, mit dem er nun für immer leben musste. Er konnte daran nichts mehr ändern, aber zumindest wollte er eine Moral von der Geschichte gelernt haben und seinem toten Freund somit auch Achtung und Würdigung schenken. Der junge Schotte hatte ein Leben verschuldet, nun wollte er leben reden, damit der Tod seines Freundes damals nicht völlig wertlos gewesen war. Thomas wollte in Zeiten wie diesen nicht wieder die Menschen um sich herum verlieren. Vielleicht arbeitete er so hartnäckig an dem Serienmord, weil er in Wirklichkeit seine Unentschlossenheit und Schuld von damals ausmerzen wollte. Nie wieder wollte er als Verlierer dastehen. Ein Leben lang war er unterschätzt worden, hatte Schicksalsschläge erleiden müssen und seine Karriere fast verspielt. Einen weiteren Rückschlag würde er nicht verkraften können. In diesem Sinne fand er sich Marilou seltsam verbunden. Gleichzeitig gab ihm dieser Wille neuen Antrieb und seine Gedanken wurden allmählich klarer. Sogar ein leichtes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, woraufhin Marilou ihn völlig verduzt ansah, als ob sie noch nie einen Menschen aufrecht lächeln gesehen hätte.

    „Keine Angst. Wir werden dem Täter das Handwerk legen. Ich lasse mich nicht ins Bockshorn jagen und werde alles dafür tun das Leben meiner Mitmenschen und mir selbst zu retten.“, gab Thomas zurück, ohne auf die indirekte Frage wirklich Bezug zu nehmen.

    „Du solltest mich aber mit diesem falschen Biest definitiv nicht allein im Schloss zurücklassen, sonst bringt sie mich möglicherweise als Nächste um de Ecke.“, warf Elaine Maria da Silva in einer Mischung aus Wut und unterschwelliger Angst ein und griff nach der Schulter ihres Partners, der sich aus dem Griff wandte und zielstrebig an der verwunderten Marilou vorbei in die Bibliothek ging. Elaine Maria da Silva erstarrte, da ihre Worte ihren Vertrauten scheinbar gar nicht erreicht hatten. Sie fürchtete, dass der Schotte den folgenschweren Fehler begehen könnte auf die Worte der scheinheiligen Kanadierin hineinzufallen.

    Thomas spürte in seinem Rücken förmlich wie sich die beiden Frauen weiterhin anfeindeten, doch er schaltete seine Gedanken daran aus, durchquerte die Bibliothek und riss die Tür zum Speisesaal auf, die ihm daraufhin grob aus der Hand gerissen wurde.

    Wuchtig knallte die Tür gegen die Wand und Thomas zuckte erschrocken zusammen und wich instinktiv einen Schritt zurück. Sein Herz pochte wie wild und raubte ihm seine Konzentration, die durch einen Adrenalinschub ersetzt worden war.

    Die Angst des Schotten war jedoch unbegründet gewesen. Es war lediglich ein heftiger Windzug gewesen, der ihm die Tür praktisch aus den Händen gerissen hatte. Eine steife Brise wehte durch den Speisesaal und hatte inzwischen schon mehrere Tischdecken zu Boden gefegt, sowie die Glassplitter des zerstörten Fensters quer im Raum verteilt.

    Thomas hörte plötzlich aber ein verschrecktes Wimmern und blickte überrascht auf Abdullah, der mit zusammengekauerten Beinen und ängstlich geöffneten Augen hinter einem umgestürzten Stuhl hockte und Thomas auf erbärmliche Weise ansah.

    Der Schotte atmete tief durch, warf einen prüfenden Blick in die Dunkelheit außerhalb des Schlosses und eilte dann zu dem Verletzten, der offensichtlich auch unter Schock stand und viel langsamer reagierte, als gewöhnlich.

    Thomas bemerkte, wie Abdullah mit zitternder Hand krampfhaft eine klaffende Wunde an seinem Bauch verdeckte. Das gesamte, edle Hemd hatte sich in diesem Bereich bereits rot verfärbt. Thomas blickte Abdullah tief in die Augen, doch dieser schien durch ihn hindurchzusehen. Der besorgte Schotte griff vorsichtig nach dem Arm des Verletzten und versuchte diesen zur Seite zu drücken, als dieser plötzlich aus seiner Trance gerissen wurde und mit seiner anderen Hand brutal das Handgelenk des Schotten packte, ihn wütend ansah, dann aber durchatmete und den Griff lockerte.

    Der junge Polizist sah ihn erschrocken an, ging in die Knie und rieb sich sein schmerzendes Handgelenk. Mit leerem Blick nahm Abdullah dies zur Kenntnis, während Thomas erneut seinen Puls beruhigen musste, der in den letzten Stunden viel durchgemacht hatte.

    „Es tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun.“, bemerkte Abdullah lasch und ausdruckslos.

    „Wir sollten dich verarzten, bevor sich die Wunde entzündet.“, bemerkte Thomas, der nicht wusste, was er darauf erwidern sollte.

    „Erst solltest du dir diesen verdammten Koreaner schnappen. Der Rest läuft schon von allein.“, bemerkte Abdullah grimmig und mit einem Mal war die Leere aus seinem Blick verschwunden.

    Thomas wollte gerade etwas erwidern, um Abdullah zur Raison zu bringen, als er plötzlich ein triumphierendes, schauriges Heulen von draußen hörte. Thomas hielt inne und lauschte. Nach wenigen Sekunden wiederholte sich das Heulen, das von irgendwo hinter dem Schloss zu kommen schien. Langsam richtete sich der Schotte auf und näherte sich dem zerstörten Fenster. Im Türrahmen des Speisesaals bemerkte er nun auch flüchtig Elaine Maria da Silva und Marilou Gauthier, die ebenfalls wie erstarrt wirkten und kritisch lauschen zu schienen. Sie wirkten beide in diesen Momenten wie düstere Racheengel und Thomas fand, dass beide Damen in dieser Situation ihre Reize und ihren Charme komplett verloren zu haben schienen. Thomas kam sich mehr vor wie in einem depressiven Horrorstreifen, so unwirklich wirkte das Szenario auf ihn ein.

    Als ob die Natur diese Stimmung zufällig auch noch unterstreichen wollte, ertönte in diesem Moment ein tiefes Grollen, gefolgt von einem berstenden Krachen, als sich die Schleusen des Himmels zu öffnen schienen und eine wahre Sturmflut gen Erde sandten. Thomas musste sich eingestehen, dass er sich so die Apokalypse vorstellen würde und bekreuzigte sich eilig, als er an das Fenster trat und der Regen ihm ins Gesicht klatschte und auch seine Kleidung innerhalb weniger Sekunden komplett durchnässte.

    Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er krampfhaft etwas im hinteren Bereich des Schlosses zu erkennen, doch dies war plötzlich nicht mehr nötig. Mit einem Mal ertönte nämlich ein fast wahnsinniger Schrei der Angst vom hinteren Bereich des Schlosses aus, der erst von einem heftigen Donnern unterbrochen wurde.

    Wie elektrisiert versuchte Thomas nun etwas zu erkennen und sah einen dunklen Schatten, der panisch um die hintere Ecke des Schlosses herumlief, dabei ausrutschte und der Länge nach hinfiel. Eilig rappelte sich die Person auf und warf einen hektischen Blick über die Schuler, wo aus dem undurchdringlichen Dickicht ein gebücktes Wesen mit galoppierendem Schritt hinter dem Menschen herjagte.

    Thomas musste nicht lange überlegen, um zu wissen, wen er dort vor sich hatte. Elaine Maria da Silva, die langsam und unbemerkt zu ihm getreten war und ebenfalls schon völlig durchnässt war, sprach es allerdings auch noch aus, während sich Marilou von den beiden trennte und zu ihrem verletzten Gatten getreten war, jedoch nicht ohne vorher triumphierend lächelnd die Fäuste zu ballen und den Blick im Gehen noch auf das zerstörte Fenster zu richten.

    „Das ist Gwang-jo. Der Wolf ist hinter ihm her.“, bemerkte die Brasilianerin und ein Ton des gehässigen Triumphes schwang in ihrer Stimme mit.

    Thomas dachte kurz nach, was er nun tun sollte. Würde der Wolf es schaffen den Koreaner einzuholen und grausam zu zerreißen? Sollte er eingreifen und somit sein eigenes Leben für den unsympathischen Zeitgenossen riskieren? Hatte der Koreaner aus bestimmten Gründen mit einer Flucht reagiert und möglicherweise noch etwas Entscheidendes zu sagen?

    Es war die Ungewissheit und Neugier, die Thomas schließlich dazu veranlasste aus dem Fenster zu springen. Er wäre auf dem glitschigen Untergrund fast noch ausgerutscht, drückte dann eilig seine durchnässten und strähnigen Harre zur Seite, die ihm ins Gesicht hingen und sah leicht geduckt und mit zusammengekniffenen Augen dem Koreaner entgegen, der taumelnd näher kam und das Laufduell gegen die Bestie nicht zu gewinnen schien.

    Thomas sah die grenzenlose Panik auf dem Gesicht seines Gegenübers, schloss kurz die Augen und rannte dann selbst explosionsartig los. Elaine Maria da Silva schrie noch entsetzt und warnend seinen Namen, doch der schottische Polizist war längst gestartet und es gab keine Möglichkeit mehr zur Umkehr.

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     Kapitel 101: Samstag, 17 Uhr 29 Außengelände

     

    Wie ein Besessener rannte Thomas dem Koreaner entgegen. Der dichte Regen versperrte ihm manchmal die Sicht und legte sich wie ein Schleier über seine Augen, sodass er vermehrt blinzeln musste. Thomas lief mit großen, sprunghaften Schritten, um nicht zu oft mit dem tückischen Untergrund in Berührung zu kommen.

    Geduckt stürmte Thomas voran und als er kurz aufblickte, sah er den Koreaner bereits wenige Meter vor sich. Gwang-jo sah ihm in einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen entgegen, denn er musste bei dem irren Tempo wohl annehmen, dass Thomas ihn über den Haufen rennen würde. Doch dieser hatte eine viel waghalsigere Aktion vor.

    Thomas machte einen kurzen Bogen zur linken Seite, um dem Koreaner auszuweichen, der dadurch abgelenkt war, kurz die Übersicht verlor und durch eine unachtsame Bewegung sofort den Halt auf dem Standbein verlor und seitlich hinfiel. Dreck und Gras spritzten in sein Gesicht und der Aufprall schüttelte ihn durch. Sein Blick verfolgte die Aktion des Schotten, der seinerseits ebenfalls ins Rutschen gekommen war, die Bredouille jedoch mit einer Gewichtsverlagerung und kurzer Abbremsung ausglich.

    Der Schotte sah jetzt den heranrasenden Schatten, der nun unmittelbar auf ihn und nicht mehr auf den Koreaner zurannte. Thomas erkannte trotz der stürmischen Umstände und der großen Gefahr, dass der Wolf in seinem Lauf an der hinteren Flanke humpelte und altes Blut sein Fell verkrustet hatte. Offenbar war die Bestie vom Butler doch nicht ganz unbeträchtlich verletzt worden.

    Thomas hatte nicht mehr viel Zeit das Für und Wider seiner riskanten Aktion abzuwägen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und eine panische Stimme in seinem Kopf meldete sich wie eine Alarmsirene, dass er die falsche Wahl getroffen habe. Thomas schaltete alle Gedanken aus sprang aus dem Lauf mit geschlossenen Augen und krampfhaft geballten Fäusten vom Boden ab.

    Er hatte das unwahrscheinliche Glück dabei nicht wegzurutschen. Der Wolf schien plötzlich die Gefahr erkannt zu haben und wollte durch einen geschwinden Haken dem Tritt des Schotten ausweichen, doch auch die Bestie musste den gravierenden Naturbedingungen ihren Tribut zollen und rutschte hilflos mit den Hinterläufen weg und knickte im schlammigen Gras winselnd um.

    Das Ausweichmanöver des Wolfes war misslungen und Thomas traf die Bestie fast perfekt mit beiden Beinen voran an der Schnauze. Thomas spürte an seinen Füßen den harten Widerstand und wurde von der Kraft seines eigenen Angriffes in Rücklage gebracht und krümmte sich instinktiv zusammen.

    Dennoch konnte der mutige Schotte nicht verhindern, dass er brutal mit dem Rückgrat auf dem Boden aufkam und musste in diesen Momenten der Natur sogar dankbar dafür sein, dass der Untergrund so weich war und den Sturz somit noch leicht abfederte.

    Der Schotte hörte das klagende Winseln des Tieres, ein leichtes Knacken, bevor alles um ihn herum in ein zuckendes, grelles Licht getaucht war. Dem Blitzlicht folgte ein infernalisches Krachen, das Thomas die Sinne zu rauben schien. Er hatte die Übersicht inzwischen völlig verloren.

    Mit einem Schrei aus Angst und purem Überlebenswille rollte sich Thomas zur Seite, rappelte sich mit den Armen rudernd auf und prallte dabei mit einem kräftigen Körper zusammen, an dem er sich instinktiv festklammerte und diesen mit sich seitlich zu Boden riss.

    Thomas schlug panisch die Augen auf und sah, dass sein vermeintlicher Gegner direkt neben ihm lag. Überrascht blickte er in das bleiche Gesicht des Koreaners, dessen Blick ängstlich flackerte. Dann sackte der Choleriker seufzend und kraftlos in sich zusammen.

    Der Schotte aber verspürte keinen Bedarf zur Erholung. Seine Trägheit war dem Adrenalin gewichen und er rappelte sich rasch auf, um nach dem unheimlichen Wolf zu sehen.

    Zunächst sah er ihn nicht in dem strömenden Regen, bemerkte dann aber die graue, zuckende Masse zu seiner linken Seite. Das Tier hatte sich zusammengekrümmt und drückte winselnd seine Schnauze gegen den nassen Boden. Blut quoll in dünnen Bahnen daraus hervor und tränkte den Garten. Die Augen des Wolfes wirkten glasig und hatten ihren hellen, stechenden Glanz verloren.

    Thomas stand ein wenig verloren vor dem Tier. Er hatte es durch seinen Tritt offenbar tatsächlich kampfunfähig gemacht und unwahrscheinliches Glück gehabt. Seine Risikobereitschaft war belohnt worden und er hatte auch nur einen einzigen Versuch gehabt. Erleichtert bekreuzigte sich der Polizist und wandte den Blick von dem winselnden Tier ab, das ihn fast schon vorwurfsvoll anblickte und seine animalischen Züge verloren zu haben schien.

    Der junge Polizist atmete tief durch. Er war schon immer ein besonderer Tierliebhaber gewesen. Als Kind hatte er jeden ihm bekannten Zoo besichtigt und seine Eltern hatten mehrere Hunde als Haustiere gehabt. An eines der Tiere, einem grauen, buschigen Hund namens „Cherry“, fühlte er sich jetzt beim Anblick der Bestie erinnert. Es war damals sein Lieblingstier gewesen. Der Hund war eines Tages von einem Auto angefahren worden und sein Vater hatte ihm den Gnadenschuss geben müsse. Dieses Bild hatte sich unwiderruflich in sein Gedächtnis gebrannt und es war sein erster Kontakt mit dem Tod gewesen.

    Auch jetzt fühlte sich Thomas wie gelähmt, wollte sich dem Wolf nicht nähern und wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Er brachte es trotz seiner Entschlossenheit von vor wenigen Minuten, die nun um Lichtjahre entfernt zu sein schien, nicht über das Herz das Tier entgültig zu töten, mochte es noch so grausam herangezüchtet worden zu sein. Es war nicht der Wolf, der so grausam war, sondern der Mensch, der ihn zur Tötungsmaschine gemacht hatte, die er nun war. Der Schotte hatte plötzlich gar ein schlechtes Gewissen und eine hämische Stimme in seinem Kopf titulierte ihn als Mörder.

    „Was ist los? Gib dieser dreckigen Bestie den Rest!“, herrschte ihn Gwang-jo heiser und mit zittriger Stimme an, der sein Zögern bemerkt zu haben schien und aus seiner Bewusstlosigkeit wieder rasch erwacht war.

    „Das ist nicht nötig. Ich werde das für ihn übernehmen.“, ertönte plötzlich eine kalte Stimme hinter den beiden.

    Überrascht fuhr Thomas herum und blickte in das harte und entschlossene Gesicht seiner brasilianischen Partnerin, die ein altertümliches Assassinenschwert in ihren Händen hielt. Thomas erinnerte sich dunkel daran, dass er diese Waffe im Arbeitszimmer des toten Direktors gefunden hatte. Es machte dem Schotten plötzlich Angst, dass nach Gwang-jo nun auch die Brasilianerin leicht an eine Waffe gekommen war. Thomas hatte mit einem Mal die düstere Vermutung, dass auch die restlichen verbliebenen Bewohner des Schlosses sich inzwischen während seiner Abwesenheit bewaffnet hatten und ihn nun kaltblütig um die Ecke bringen könnten oder sich gegenseitig bedrohen würden.

    Mit einem Schaudern trat er zurück, als Elaine Maria da Silva zwischen ihm und dem am Boden liegenden Koreaner trat und ohne jegliche Gefühlsregung und mit blitzenden Augen dramatisch ihr Schwert erhob. Der klagende Blick des Wolfes richtete sich jedoch nicht auf die Brasilianerin, sondern auf Thomas, der dies nicht ertragen konnte und sich hektisch abwandte.

    Mit einem ekelhaften Geräusch wurde das winselnde Heulen des Wolfes grob unterbrochen. Ein gewaltiger Donnerhall übertönte für einige Sekunden gnädigerweise die übrigen Geräusche.

    Thomas atmete tief durch und verschloss die Augen. Er versuchte das Bild des vorwurfsvoll blickenden Wolfes aus seinem Kopf zu verbannen, doch es kehrte immer wieder zurück. Thomas schalt sich einen Narren, dass er so emotional und unangebracht reagierte und biss sich vor Wut auf die Zunge, was die Stimmen in ihm mit einem keifenden Lachen kommentierten, das den Polizisten fast wahnsinnig werden ließ. War er vielleicht doch viel zu weich für den Beruf des Polizisten? Warum hatte die Brasilianerin so klar und entschlossen handeln können, während ihm die Nerven versagt hatten? War er vielleicht nur ein guter Analytiker und Theoretiker, in der praktischen Realität aber ein hoofnungsloser Versager?

    Seine Partnerin trat langsam zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Misstrauisch und mit einem trockenen Gefühl im Mund blickte Thomas auf das lange Schwert, von dessen reflektierender Klinge langsam das warme Blut herunterquoll. Thomas schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als sich Gwang-jo nach einigen Momenten geräuschvoll aufrappelte.

    „Moment! Warum wolltest du fliehen?“, herrschte Elaine Maria da Silva den Koreaner an und hatte sich blitzschnell von dem stillen Schotten gelöst.

    Mit einer geübten Bewegung, die selbst Thomas erschrak, setzte sie die Klinge ihrer Waffe rasch vor die Kehle des Koreaners, der diese mit aufgerissenen Augen anstarrte und nicht mehr zu atmen wagte. Der Regen vermischte sich auf seiner Stirn mit ausbrechendem Schweiß. Nur wenige Zentimeter trennten ihn von der scharfen Klinge und er räusperte sich verschreckt, während die Brasilianerin ihn hart ansah und nicht nachzugeben schien.

    „Nimm das Ding sofort weg, dann können wir über alles reden.“, bat Gwang-jo sie leise, aber hektisch und starrte unentwegt auf die Waffe.

    Elaine Maria da Silva lächelte böse und blickte den Koreaner hasserfüllt an, doch dann ließ sie die Waffe wie in Zeitlupe sinken. Gwang-jo atmete sichtbar auf und zitterte dennoch wie Espenlaub am ganzen Leib. Ein grollender Blitz erhellte die makabre Szenerie und Thomas musste automatisch an ein Hinrichtungskommando denken, bei dem er der Richter, Elaine der Henker und Gwang-jo das Opfer war. So abartig dieser Gedanke auch war, er lenkte Thomas immerhin von der Hinrichtung des Wolfes ein wenig ab. Auch die unerträglichen Stimmen, von denen Thomas nicht einmal wusste, woher sie kamen und wie lange sie ihn schon begleiteten, waren kurzfristig verstummt. Er war auf die Erklärungen des undurchschaubaren Cholerikers mehr als gespannt.

    „Jetzt musst du deinen Teil des Paktes erfüllen.“, forderte Elaine Maria da Silva ihn kalt auf und Gwang-jo blickte sie entsetzt an, als ob er mit so einer direkten Aufforderung von Seiten einer Frau nicht gerechnet hätte.

    „Lass uns das doch im Schloss besprechen. Ich friere mich zu Tode, ich fühle mich einfach nur erbärmlich.“, bettelte er sie fast weinend an, doch die Brasilianerin lachte ihn für diese hilflose Antwort nur grimmig und hämisch aus.

    „Das hättest du dir in der Tat vor deiner feigen Flucht überlegen können. Du wolltest doch scheinbar freiwillig hinaus in die Kälte und in die Klauen dieser Bestie fallen.“, provozierte die Brasilianerin ihn.

    „Ich habe nicht damit gerechnet, dass dieses Biest noch lebt. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, ich war völlig durcheinander, verdammt!“, stotterte der Koreaner sich eine halbherzige Erklärung zusammen.

    „Keine falschen Tricks, Gwang-jo. Wir gehen jetzt zurück zu dem Fenster im Speisesaal und ab dort wirst du uns nicht länger hinhalten. Solltest du versuchen zu fliehen, dann bist ein toter Mann.“, griff Thomas nun ein und hatte seine Selbstbeherrschung und nötige Kälte zurückgewonnen.

    Der Schotte bewegte sich ein wenig von dem Koreaner und der Brasilianerin weg und mied bewusst de Anblick des toten Tieres. Er fixierte stattdessen krampfhaft seine Zehenspitzen, sah dabei aber das blutdurchtränkte Gras, dessen Anblick in ihm ein Gefühl der Übelkeit erzeugte. Rasch lief er weiter voran bis er sein eigentliches Zielobjekt erreicht hatte. Es handelte sich um das Katana, das Gwang-jo entwendet und im Eifer seiner hastigen Flucht hatte fallen lassen. Prüfend wog der Schotte die Waffe in seinen Händen und bekam eine Gänsehaut. Er musste sich eingestehen, dass er mit dieser Art von Waffen fast gar keine Erfahrungen gemacht hatte, abgesehen von dem halben Jahr Fechten, das er in seiner jungen Kindheit absolviert hatte. Dennoch fühlte er sich mit dieser Waffe ein wenig sicherer und kehrte fast schon erleichtert zu den beiden Anderen zurück.

    Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg zum Schloss, wobei Thomas und Elaine den Flüchtling systematisch einengten, damit er nicht zu viele Freiräume hatte oder auf dumme Gedanken kommen könnte. Der hängende Kopf des Rebellen war jedoch ein wohl untrügliches Zeichen dafür, dass er sich mittlerweile völlig aufgegeben hatte und seinem Schicksal widerstandslos fügte. Elaine Maria da Silva verfolgte jede seiner Bewegungen dennoch mit einer steinernen und grimmigen Grimasse, während Thomas nur eine gewisse Leere in seinem Kopf spürte und tief die frische Luft einsog, um seinen Gedankenapparat wieder auf Hochtouren zu bringen. Er war besonders auf die Erläuterungen des Koreaners gespannt.

    Als die Dreiergruppe das zerstörte Fenster erreichte, stand dort Abdullah im Rahmen, der noch relativ wacklig auf den Beinen wirkte, den Koreaner aber mit unbändigem Hass fixierte.

    „Da habt ihr die miese Ratte also endlich eingefangen.“, sagte er bitterböse und spuckte dem Koreaner ins Gesicht, der nicht einmal seinen Kopf hob und die Demütigung einfach hinnahm. Sein Wille schien entgültig gebrochen zu sein.

    „Die dreckige Ratte hat uns jede Menge zu erzählen.“, stichelte Elaine Maria da Silva und gab dem Koreaner mit dem Griff ihres Schwertes einen groben Stoß in den Rücken.

    Dieser zog sich mit mechanischen und plumpen Bewegungen an der Außenseite hoch und hievte dann mit ein wenig Schwung seinen Körper auf die andere Seite in den Speisesaal.

    Dort konnte sich Abdullah vor Wut nicht mehr halten und stürzte sich grob auf den Koreaner, streckte ihn mit einem gewaltigen Schlag gegen die Schläfe nieder und wollte brutal auf sein Opfer eintreten, das sich nicht einmal wehrte oder auch nur instinktiv die Arme hochgerissen hatte. Abdullah spuckte dem Koreaner voller Verachtung auf den Kopf.

    Thomas schwang sich rasch ebenfalls durch den Fensterrahmen und sprang sofort zwischen die beiden Streithähne. Er wollt unter keinen Umständen riskieren, dass Gwang-jo, kurz bevor er auspacken würde, noch in die Bewusstlosigkeit oder gar in den Tod getrieben würde. Dementsprechend grob stieß er Abdullah zurück, der wankend auf einen Stuhl fiel, sich krampfhaft an dessen Lehne klammerte, um nicht entgültig zu fallen und sein Gegenüber verdattert anstarrte.

    „Vergeltung muss sein! Das solltest auch du als ehemaliger Mönch wissen. Auge um Auge, Zahn um Zahn, so steht es schon in eurer Bibel.“, bemerkte Abdullah.

    „Dieses Zitat ist völlig aus dem Zusammenhang gerissen und zeigt auch, wie wenig Ahnung du von unserer Religion hast.“, entgegnete Thomas besserwisserisch, während sich Elaine Maria da Silva inzwischen ebenfalls in den Speisesaal zurückhievte. Bei dieser Aktion wurde ihr Kleid an einer spitzen Scherbe leicht aufgerissen und entblößte ihre hellen und muskulösen Schenkel. Thomas hatte dafür aber keinen Blick mehr übrig.

    „Wo ist deine Frau hingegangen?“, wollte Elaine Maria da Silva wissen.

    „Was schert dich das? Ich könnte genauso gut fragen, wo Björn Ansgar Lykström abgeblieben ist. Ich habe ihn schon seit einer guten Stunde nicht mehr gesehen, während meine Gattin bis vor fünf Minuten noch bei mir war.“, gab Abdullah mürrisch zurück und schien seine Frau erneut verteidigen zu wollen.

    „Für solche Diskussionen ist jetzt wirklich keine Zeit.“, mahnte Thomas eindringlich und half mit besorgter Miene dem ächzenden Koreaner auf, der den Schotten mit tränenden Augen und blassem Gesicht anblickte. Der tropfende Speichel Abdullahs hing wie überschüssiges Gel in seinen dunklen Haaren. Fast zufällig glitt sein Blick auf eine Packung Zigaretten, die auf der äußersten Kante des ersten Tisches lag.

    Thomas erkannte als ehemaliger Raucher diese Geste sofort. Der Koreaner brauchte nach all dem Stress eine kurze Auszeit und der Schotte konnte dies durchaus nachvollziehen. Hilfsbereit reichte er ihm die Packung und bemerkte, dass es sich sogar um die südkoreanische Sorte handelte, die Gwang-jo immerzu rauchte. Hatte er die Packung bei seiner Flucht dort liegen lassen? Thomas kam die Sache komisch vor, denn er konnte sich nicht daran erinnern, dass beim letztmaligen Betreten des Speisesaals eine solche Packung dort gelegen hatte. Allerdings musste Thomas sich eingestehen, dass er den Raum auch nicht so ausgiebig betrachtet hatte und sich vielleicht täuschte.

    „Nur eine Zigarette brauche ich, bitte. Ich kann an die Eingangstür gehen.“, bat der Koreaner leise und heiser an und Thomas ging nach kurzem Zögern darauf ein, was ihm einige wütende und verständnislose Blicke seitens Elaine und Abdullah einbrachte.

    Thomas glaubte allerdings längst nicht mehr an eine krumme Aktion des Koreaners und war auch mittlerweile einhundertprozentig davon überzeugt, dass er nicht hinter der Mordserie steckte, da er sich dafür viel zu heißblütig und unkontrolliert gab. Thomas wusste selbst nicht, woher er dieses Vertrauen und Wissen hernahm, aber es erschien ihm plötzlich sogar besser mit dem Koreaner allein zu reden, anstatt vor allen anderen Anwesenden und potenziellen Tätern. Denn Thomas war sich sicher, dass die Identität des Mörders nun entgültig geklärt werden würde und befürchtete, dass dieser, wenn sie alle um den Koreaner versammelt waren, zuschlagen würde, um seinem Werk den finalen Schliff zu geben. Denn dann hatte selbst der gnadenlose Killer nicht mehr die Wahl seine Opfer nach dem bisherigen Muster gezielt und punktgenau auszuschalten, sondern musste seine grausame Prozedur radikal zu einem Ende bringen.

    „Es ist in Ordnung. Ich werde dich begleiten.“, gab Thomas zu verstehen und nahm Gwang-jo wie ein kleines Kind an die Hand. Der sonst so aufmüpfige Mann wirkte hilflos und alt, als sie langsam die Tür zur Bibliothek durchquerten.

    Thomas spürte in seinem Rücken förmlich die bitteren und gehässigen Blicke der anderen beiden Anwesenden, doch er nahm sich vor Elaine seine Gründe später zu erläutern.

    Der Schotte hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gebracht, als plötzlich Marilou mit forschem Schritt von der Eingangshalle aus in die Bibliothek trat und wie vom Blitz getroffen stehen blieb und Gwang-jo wie ein Gespenst anblickte. Die Kanadierin war völlig bleich geworden und ihr schienen die Worte zu fehlen. Gwang-jo blickte sie ausdruckslos an, doch Thomas bemerkte nach einigen Sekunden ein leichtes Zucken um die Mundwinkel des wie paralysiert wirkenden Flüchtlings.

    Thomas spürte die knisternde Atmosphäre und unerträgliche Spannung, die im Raum lag. Er glaubte zu ahnen, dass sich in den nächsten Momenten etwas ereignen würde, doch dann ging Marilou rasch und mit bösem Blick an ihnen vorbei in Richtung des Speisesaals und schlug die schwere Tür kraftvoll hinter sich zu. Nachdenklich blickte Thomas ihr nach, bevor er mit einem mulmigen Gefühl Gwang-jo weiterführte.

    Dessen Hilflosigkeit erinnerte ihn grausam an seinen eigenen Großvater, der die letzten Jahre seines Lebens an einen Rollstuhl gefesselt gewesen war, den Thomas oft durch die Gegend spazieren gefahren hatte. Der alte Herr war ein echter Lebemann gewesen, war Alkohol, teuren Autos und Spielen und auch der Frauenwelt und edlen Zigarren nie abgeneigt gewesen. Er hatte Thomas immer dazu geraten nicht Polizist zu werden, was schon seit geraumer Zeit der Traumberuf des jungen Schotten gewesen war.

    Thomas wunderte sich selbst über seine nostalgischen Gedankengänge, doch war er ganz froh, dass er wenigstens die Stimmen aus seinem Kopf verdrängt hatte. Er redete sich ein, dass die besagten Stimmen eine ganz natürliche Reaktion seines Geistes war, um die wahnsinnigen und unvorstellbaren ereignisse der letzten Tage zu kompensieren. Gleichzeitig huschte dem Schotten aber auch der Begriff der Schizophrenie durch den Kopf, den er mit einem Schaudern sofort wieder aus seinen Gedanken verbannte. An diese unschöne Möglichkeit wollte er gar nicht erst denken.

    Langsam schritt Thomas mit dem Koreaner nun durch den kleinen Tunnel in Richtung der Eingangshalle und hatte das Gefühl sich auf dem direkten Weg in Richtung Hölle zu befinden. Die Kerzen in diesem Gang waren erloschen, es war kalt und der Sturm rüttelte lautstark und monoton an der quietschenden Eingangstür.

    Endlich hatten sie die Eingangshalle erreicht, wo sich Gwang-jo vom Schotten löste und ihn mit wässrigen Augen anblickte. Tief atmete er durch und griff zitternd nach einem seiner Glimmstängel. Nervös tastete er nach einem Feuerzeug, fand jedoch keines und wirkte ähnlich krank und hilflos wie ein Drogensüchtiger, der zitternd nach seiner Spritze tastete. Thomas hatte während seines zweimonatigen Aufenthalts im Drogendezernat der Polizei viele solcher Menschen getroffen und es hatte ihn sehr getroffen und abgeschreckt.

    Thomas erblickte schließlich nahe des unheilvollen Brunnens, der vor nicht allzu langer Zeit fast zu seinem Grab geworden war, eine noch nicht ganz niedergebrannte Kerze, die er behutsam ergriff und dann dem Koreaner reichte, der sich seine Zigarette zitternd anzündete, wobei die Kerzenflamme nervös flackerte und Gwang-jo hustend und mit verzerrtem Gesicht den Qualm in den Raum blies, der Thomas nun seinerseits zum Husten brachte, da er erbärmlich stank, was ihm bis dahin noch gar nicht aufgefallen war.

    Nach einigen Sekunden hatte der Koreaner röchelnd durchgeatmet und blickte Thomas durch den blauen Dunst starr und leblos an.

    „Ich brauche ein wenig frische Luft. Ich möchte nur kurz vor die Eingangstür. Ich werde gewiss nicht fliehen.“, bemerkte der Koreaner und bat Thomas indirekt um dessen Einverständnis.

    Dieser dachte sich, dass er dem Koreaner inzwischen ohnehin sehr entgegengekommen war und sah keinen Grund dafür dem gebrochenen und angsterfüllten Mann diese Bitte nun plötzlich nicht zu gewähren. Langsam und seufzend trat er zur Eingangstür und riss diese quietschend auf. Ein steifer Wind kam ihm entgegen und blies ihm die Haare wirr durch das Gesicht. Gwang-jo hatte schützend seine Hand vor die Zigarette gehalten und trat gemächlich nach draußen und blickte starr zum unruhigen Ozean.

    Jetzt wurde Thomas doch unruhig. Er wollte sich nicht mehr länger hinhalten lassen und blickte Gwang-jo eindringlich an.

    „Für die Zigarette gebe ich dir zwei Minuten. Dann wird Klartext geredet und es gibt keine Ausflüchte mehr.“, betonte er grimmig und sah das ergebene Nicken des Koreaners, das ihn einigermaßen beruhigte.

    Thomas konnte verstehe, dass der verwirrte Flüchtling einige Minuten brauchte, um sich klar zu sammeln, nachdem er dem Tod noch einmal im allerletzten Moment von der Schippe gesprungen war.

    Wuchtig stieß Thomas das Eingangsportal zu und genoss die relative Stille in der Eingangshalle. Der Sturm hatte draußen merklich an Lärm und Intensität zugenommen. Mittlerweile konnte er die Vorsichtsmaßnahmen der Polizisten vom Festland fast schon verstehen, auch wenn ihm der Gedanke daran immer noch Kopfschmerzen bereitete.

    Es half alles nichts, Thomas konnte weitere Schicksalsschläge nur verhindern, indem er sehr sorgsam und vorsichtig agieren würde. Bereits jetzt dachte er daran, dass die restlichen Anwesenden in seinem Rücken bereits eine neue unheilige Tat vollzogen oder sich gegenseitig angriffen. Thomas wollte mit dem Koreaner trotz der Wichtigkeit des Gesprächs nicht zu lange allein verweilen und so schnell wie möglich zur Gruppe zurückkehren.

    Von der Bibliothek her schlug eine Uhr dumpf und unmelodisch zur vollen Stunde. Thomas fiel schreckensstarr ein, dass dies die Zeit war, an dem das nächste potenzielle Opfer fällig war. Die Zeit der Wahrheit hatte nun begonnen.

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    Kapitel 102: Samstag, 18 Uhr 01 Eingangshalle


    Thomas hörte nichts als den kräftigen Sturm unter dessen Wucht das Eingangsportal erzitterte. Blitzlichter flackerten über dem Meer auf und tauchten die Eingangshalle in ein gespenstisches Licht. Mit einem Schaudern betrachtete Thomas die furchteinflößende Riesenschlange auf dem Springbrunnen, an deren Maul noch die roten Wasserfäden langsam hinuntertröpfelten und für eine makabre Atmosphäre sorgten.

    Der schottische Polizist fühlte sich schrecklich allein, als die Uhr sechs Mal geschlagen hatte und das Schweigen ihn nun entgültig umgab. Ungeduldig marschierte Thomas hin und her, warf nervöse Blicke auf die Gemälde, Ritterrüstungen und Treppen, als ob er einen unbekannten Spion irgendwo im Schatten eines Gegenstandes vermuten würde, der für die gesamte Misere verantwortlich war. Doch insgeheim hatte Thomas für sich ausgeschlossen, dass eine noch unbekannte Person von außerhalb die Morde inszeniert hatte. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los von irgendwo ganz genau beobachtet zu werden. In der gigantischen Halle fühlte sich Thomas wie auf dem Präsentierteller.

    Der Polizist wurde immer ungeduldiger, seine Schritte immer hektischer. Erwartungsvoll blickte er immer wieder zum Eingangsportal. Wie viele Minuten hatte er dem Koreaner jetzt schon für seine Zigarette gegeben? Die zwei Minuten waren mit Sicherheit schon längst verstrichen.

    Thomas atmete tief durch, wandte sich mit einem Schaudern dem Portal zu und drückte die schwere Klinke nach unten, um das Tor mit einem Ruck aufzuziehen.

    Das Erste, was er bemerkte war der dichte Regenfall und leicht wallender Nebel, der sich um die Insel gelegt hatte und kaum mehr einen Blick auf das Meer zuließ. Die Natur schien sie immer mehr zu isolieren.

    Dann traf Thomas der Schock, denn als er einige Schritte nach vorne ging, sah er regungslos den Koreaner auf der untersten Treppenstufe liegen, das Gesicht zum Boden gewandt. Seine Zigarettenpackung lag zerknüllt neben seiner verkrampften Hand, die er hilfesuchend ausgestreckt hatte. Viel erstaunlicher war allerdings noch die Tatsache, dass ein völlig verwirrter Björn Ansgar Lykström neben dem regungslosen Choleriker hockte und Thomas verschreckt entgegenblickte.

    Der schottische Polizist war wie paralysiert, stand mit offenem Mund vor dem ihm unbeschreiblichen Szenario, schloss die Augen, blinzelte, als ob er den Anblick wie einen illusorischen Traum davonjagen könnte, doch das Bild blieb.

    Erst jetzt fiel die Starre von ihm ab und er stürzte hastig über die glatte Treppe in die Tiefe. Ächzend ließ er sich neben Gwang-jo auf die Knie fallen, hob dessen Kopf an und zuckte erschrocken zurück. Es waren weniger die leblosen und glasigen Augen, die den letzten Todesschrecken noch widerspiegelten, die ihn verstörten, sondern die Tatsache, dass der Mund des Koreaners rußgeschwärzt war und seltsam verbrannt oder mehr noch verätzt wirkte.

    Voller Ekel ließ Thomas den leblosen Kopf zurück in den Kies fallen und blickte starr auf die zerknüllte Zigarettenpackung. Neben einigen ihm unverständlichen koreanischen Zeichen stand darauf eine große Fünf. Die Marke war Thomas völlig unbekannt, doch ihm war klar, dass die Zigaretten vergiftet worden sein mussten.

    Sein Blick traf den des schwedischen Lehrers, der fassungslos und unheimlich kicherte und mit seiner linken Hand eine Rauchbewegung nachahmte. Thomas empfand dieses Benehmen als puren Hohn und Provokation und er hielt sich nur mit Mühe im Zaum. Mit zusammengekniffenen Lippen und geballten Fäusten stand er auf und redete sich ein, dass er Lykström diese Handlungsweise nicht Übel nehmen konnte, da dieser offensichtlich entgültig dem Wahnsinn verfallen war.

    In diesem Moment ertönte überlaut das Quietschen des Eingangsportals und Thomas erkannte mit Schrecken, wie Marilou Gauthier erschrocken und wütend zugleich nach draußen rannte. Hinter ihr traten ebenfalls Elaine Maria da Silva und Abdullah Gadua ein wenig ruhiger, aber sichtlich geschockt und erbleicht, aus dem Schloss.

    Die Kanadierin packte dem sich langsam aufrappelnden Thomas grob an die Schulter und redete nervös fragend auf ihn ein, sodass der Schotte nur noch die Hälfte verstand. Die keifende, herrische Stimme schien ihm fast den Verstand zu rauben und alles schien sich plötzlich um ihn herum zu drehen. Kraftlos, aber entschlossen stieß er Marilou von sich weg und massierte sich die Schläfen. Ein drückendes, krampfhaftes Gefühl bereitete sich in seinem unangenehm knurrenden Magen aus. Thomas wurde mit einem Mal speiübel und er schwankte, als ob er sich auf einem schiffbrüchigen alten Kahn befinden würde.

    Ein grausamer Gedanke spukte durch seinen Kopf. Der Koreaner war offensichtlich mit der Zigarette vergiftet worden und Thomas hatte ihren Rauch in der Eingangshalle kurz eingeatmet. Stand ihm jetzt ein ähnlich grausames Schicksal bevor? War das Gift durch das passive Rauchen auf ihn übertragen worden?

    Kaum hatte er diese Gedanken formuliert, als der kurze Schwächeanfall so rasch verschwand, wie er gekommen war. Schweißüberströmt und kraftlos stöhnend ließ Thomas sich zu Boden sinken und lag flach auf dem Rücken im stechenden und nassen Kies. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den angeregten Dialog, der unter den restlichen Anwesenden ausbrach. Niemand schien ihn großartig zu beachten, der Tote und die Sorgen um das eigene Überleben standen im Mittelpunkt und selbst Elaine Maria da Silva kam ihm nicht zur Hilfe.

    „Da waren es nur noch fünf kleine Negerlein.“, zitierte Abdullah in einer tonlosen Mischung aus gleichgültigem Sarkasmus und Betroffenheit.

    „So ein Pech aber auch, wo er gerade auspacken wollte. Wir kommen einfach kein einziges Stück voran. Auch Mamadou hatte schon etwas gewusst und war just in dem Moment um die Ecke gebracht worden, als er die Sache aufklären wollte.“, bemerkte die Brasilianerin kritisch und Thomas konnte förmlich spüren, wie sie jetzt eindringlich und vorwurfsvoll die Kanadierin ansah, die sich ihrerseits einen gehässigen Kommentar nicht nehmen ließ.

    „Dein toller Partner und Superpolizist hat den Fall ja sicherlich schon zehnmal aufgeklärt, so wie er sich aufspielt. Aber wer weiß, was der Koreaner gesagt hätte. Vermutlich hätte er wieder nur eine wahnwitzige Verschwörungstheorie ohne Hand und Fuß ausgepackt. Wer kann solch einem unberechenbaren Choleriker nur Vertrauen schenken?“, fragte Marilou kritisch und fordernd nach.

    „Er war weniger unberechenbar als du. Dich kann niemand hier genau einschätzen, selbst dein eigener Mann nicht.“, gab Elaine Maria da Silva bissig zurück.

    „Und was sollen wir von einer Frau halten, die sadomasochistische Pornoromane schreibt und sich nun wie ein Häufchen Elend an den nächstbesten Bullen kettet?“, provozierte die Kanadierin zurück und der sonst recht besonnene und ruhige Abdullah fühlte sich berufen lauthals einzugreifen.

    „Fangt bloß nicht wieder damit an! Fakt ist, dass der Koreaner etwas auspacken wollte und ernster und niedergeschlagener als sonst wirkte. Tote können uns nicht mehr von ihren Absichten und ihrem Wissen erzählen. Wir sollten lieber nach Anhaltspunkten für den Mörder suchen.“, rief Abdullah die weiblichen Anwesenden zur Raison.

    „Da können wir lange suchen. Thomas könnte ihn in der Eingangshalle umgebracht und hier theatralisch platziert haben.“, schlug Marilou Gauthier vor und blickte ihre brasilianische Kontrahentin dabei scharf und zynisch lächelnd an.

    „Dein Mann oder du könnten es auch gewesen sein. Während Thomas und ich draußen bei dem Wolf waren, habt ihr die Zigarettenschachtel präpariert und offenbar bewusst klar sichtbar im Speisesaal platziert.“, konterte die Brasilianerin kalt und schlagfertig und würdigte ihrerseits die Kanadierin keines Blickes, obwohl ihr Gesicht doch von einem wissenden Lächeln umspielt war, was Marilou sichtlich in Rage brachte, da sie stocksteif vor dem Toten stand und angestrengt ihren Kiefer knackend von einer Seite zur anderen schob.

    „Vielleicht war es aber auch Lykström. Wir haben ihn längere Zeit nicht mehr gesehen, er wirkte wahrlich wie verschollen. Vielleicht kann er uns etwas zum Fund des Toten sagen.“, stellte Abdullah Gadua fragend fest und schaute dem wahnsinnigen Blick des Schweden halb erwartungsvoll, halb angeekelt entgegen.

    „Er hat einen schwachen Geist. Menschen mit einem schwachen Geist haben kein Existenzrecht, geschweige denn ein klares Wort zu sagen. Er wird uns bestimmt nicht weiterhelfen können.“, kommentierte Marilou den Betroffenen radikal und diese drastische Behauptung machte selbst ihrem fröstelnden Gatten Angst.

    „Solch ein labiler Geist wird es wohl auch kaum bewerkstelligt haben können den Koreaner so kaltblütig umzubringen.“, argumentierte Elaine Maria da Silva nachdenklich, nachdem sie Marilou erst entgeistert angeblickt und mehrmals geschluckt hatte, bevor sie für sich entschieden hatte auf ihre Aussage nicht direkt einzugehen.

    „Du musst es ja genau wissen, so gut, wie du dich mit geisteskranken Gehirnen auskennst. Scheint eine Art Obsession von dir zu sein, nicht wahr?“, stichelte die Kanadierin wieder und die Brasilianerin unterdrückte ihre Wut mit einem eiskalten Lächeln, als sie sich wie in Zeitlupe zu Marilou herumdrehte und noch kurz nach den idealen Worten für eine kühne Antwort suchte. Da ihr auf der Stelle wenig einfiel, verschärfte sie ihren kalten Tonfall und auch ihre Intention.

    „Wenn du mich noch ein einziges Mal in irgendeiner Form provozieren solltest, dann bist du eine tote Frau. Glaube mir das, du krankes Biest.“, flüsterte sie drohend.

    In diesem Moment riss Thomas wieder entschlossen die Augen auf, sprang auf die Füße und stieß die beiden überraschten Frauen radikal und kräftig auseinander. Beide hatten Mühe nach diesem kurzen Gewaltausbruch ihre Haltung und Fassung zu wahren, doch Thomas ließ auch noch eine verbale Standpauke folgen, während Abdullah nicht wusste, wie er zu der neu entstandenen Situation überhaupt stehen sollte. Björn Ansgar Lykström schaute nur interessiert, aber geistig doch ein wenig abgelenkt und abseits des Geschehens, zu und bewegte wortlos und gebetsmühlenartig seine aufgeplatzten, bleichen Lippen. Der einstige Sunnyboy war innerhalb weniger Tage eine graue und verwirrte Persönlichkeit geworden. Scheinbar hatten ihn die Veränderungen von allen Anwesenden am meisten getroffen.

    „Es ist jetzt verdammt noch mal keine Zeit für persönliche Fehden und Sticheleien! Euer Ego müsst ihr hinten anstellen, es geht nur noch um das pure Überleben. Morgen wird Rettung kommen, die Sondereinheiten der Polizei werden auf der Insel anrücken und dann ist alles vorbei. Das Ganze dauert noch etwas mehr als zwölf Stunden, aber wenn wir jetzt zusammenhalten und uns gegenseitig beobachten und nichts mehr essen, trinken, rauchen oder angucken, dann werden wir dieser Hölle entkommen.“, mahnte er eindringlich und hoffte auf das zustimmende Verständnis der restlichen Anwesenden. Die einzige Reaktion, die seine kurze Rede hervorrief, war jedoch wieder eine lauernde Frage von Seiten von Marilou.

    „Woher ziehst du diese Erkenntnis schon wieder? Wer hat denn wie die Polizei informiert? Die Telefonleitungen sind doch allesamt gekappt und elektronische Geräte sollte niemand hierhin auf die Insel mitgebracht haben.“, ließ Marilou verwirrend die scheinbaren Fakten Revue passieren. 

    „Dein Plan hatte eben einen kleinen, aber beachtlichen Fehler.“, gab Elaine Maria da Silva ungefragt provokant und vorlaut zurück.

    „Mamadou wusste Bescheid. Er hat die nächste Polizeidienststelle mit einem mir zuvor auch unbekannten Laptop angeschrieben. Sie können wegen des Sturmes heute nicht kommen, aber werden mit einem Sonderkommando am Morgen nach den abgeflauten Ausläufern des Sturms hier anrücken.“, erklärte Thomas kurz und ehrlich. Er hoffte mit dieser Aussage, die er ursprünglich eigentlich gar nicht preisgeben wollte, sich nun aber wieder versprochen hatte, den Täter weiter aus der Reserve zu locken. Es war ein Spiel mit dem Feuer.

    „Wunderbar, jetzt weiß der Mörder auch noch, dass er sich beeilen muss.“, kritisierte Elaine Maria da Silva dieses Eingeständnis von Thomas auch entsprechend sarkastisch.

    „Lass dir von der falschen Schlange nichts einreden, sie will dich doch nur isolieren und dann eiskalt zuschlagen. Alle Weiber, die ich so kenne sind abgrundtief schlecht. Wir sollten jetzt immer ehrlich und offen zueinander sein, uns vielleicht bestenfalls über den Aufenthaltsort und die Vorlieben und Schwächen der Anderen informieren.“, schlug die Kanadierin schnell sprechend und auf arrogante Art und Weise vor, da ihre brasilianische Lieblingsfeindin mit offenem Mund zu einer spitzzüngigen Erwiderung angesetzt hatte, aber grob unterbrochen und sogar provoziert wurde, da Marilou ihr die Hand vor das Gesicht hielt und ihr eigenes Antlitz dennoch demonstrativ abwandte. Die Brasilianerin schlug die Hand entzürnt und mit funkelnden Augen weg.

    „Wir sollten die Nachrichten noch einmal genau lesen und auf Hinweise durcharbeiten. Mamadou wird den Mörder gekannt haben.“, bemerkte Abdullah Gadua nach einer kurzen Zeit des eisigen Schweigens.

    „Davon gehe ich mittlerweile auch aus. Nun ja, zehn Augen sehen mehr als zwei oder vier und irgendwo muss es ja endlich einen Anhaltspunkt geben.“, bekräftigte Thomas, der sich inzwischen fast vollständig wieder erholt hatte und lediglich noch etwas wacklig auf den Beinen stand und gierig die Luft in seine Lungen sog.

    „Das Zimmer von Gwang-jo sollten wir uns dann bei Gelegenheit auch mal gründlich vornehmen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass auch er irgendetwas versteckt hält und verbergen wollte.“, weitete Marilou den Untersuchungsradius ungefragt aus.

    Thomas sah keinen Grund darin, der mysteriösen Kanadierin in diesem Fall zu widersprechen, obwohl Elaine Maria da Silva sie wieder tückisch musterte und irgendeinen tieferen Sinn zu erkennen versuchte, mit dem Marilou etwas Böses im Schilde führen könnte.

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