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    Kapitel 83: Samstag, 02 Uhr 02 Küche

    Vor Thomas Augen lag Fatmir Skola völlig steif auf dem Küchenboden, sein Körper war völlig vereist, seine Kleidung glänzte in einem kristallenen Weiß, sein Gesicht zeigte noch die Überraschung und Angst im Angesicht des Todes. In der Küche herrschte eine eisige Kälte und seltsam schwere Luft. Verwundert taumelte Thomas zurück und fröstelte nicht nur wegen der gefallenen Temperatur.

    Erst jetzt hatte er seine erste Überraschung überwunden und ein Blick für die Details dieses mysteriösen Todesfalles. Der übergroße Kühlschrank stand noch offen und aus ihm hing eine große, metallische Gasflasche heraus, die fast auf dem kalten Fußboden eingeschlagen war, wenn sie nicht mit einem Schlauch und seidenen Faden innerhalb des Kühlschrankes befestigt gewesen wäre. Thomas sinnierte darüber nach, was für ein Gas wohl aus der Flasche ausgetreten war und Fatmir in Sekundenschnelle auf grausame Weise das Lebenslicht ausgelöscht hatte.

    In dem Moment sah Thomas am Hals der Gasflasche ein silberfarbig eingraviertes Elementsymbol „He“ und verstand plötzlich die Zusammenhänge. In der Gasflasche hatte sich Helium befunden, welches zwar praktisch unsichtbar und geruchlos war, den Albaner beim Austritt aus dem Behälter jedoch unmittelbar tiefgefroren hatte. Mit einem mulmigen Gefühl erinnerte sich Thomas an einen alten und senilen Greis, der ihn damals an der Privatschule in Chemie und Physik unterrichtet hatte. Viel wusste der schottische Polizist nicht mehr über das Gas mit der Ordnungszahl 2 und war sich nicht darüber bewusst gewesen, dass das chemische Element so tödlich und effizient wirken konnte.

    Mit einem Schaudern wandte sich Thomas ab, als sich der Koreaner plötzlich grob an ihm vorbeidrängte, nachdem er seinen ersten Schock nun auch überwunden hatte. Grimmig kniete er neben Fatmir nieder, der im Schloss sein einziger Unterstützer gewesen war, sodass ihn dessen Tod vermutlich besonders treffen musste. Doch anstatt Trauer zeigte Gwang-jo nur Wut, hämmerte auf den gefrorenen und unheimlichen Körper des Albaners ein, schrie ihn an und war wie von Sinnen.

    Thomas wich verstört von dieser verstörenden Szene weg und sah mit einem flauen Gefühl im Magen, dass der tiefgefrorene rechte Arm des Toten mit einem knackenden Geräusch zur Seite hin einfach durchbrach, noch an einem hauchdünnen Stück Haut oder Sehne zu hängen schien und wie ein Fremdkörper lose über dem Boden pendelte, nachdem Gwang-jo auf den Toten eingeprügelt hatte.

    Der schottische Polizist bekam ein flaues Gefühl im Magen und konnte das Ganze schließlich nicht mehr mit ansehen. Energisch trat er auf den Koreaner zu und zerrte ihn grob von dem Toten weg.

    Verwundert taumelte Gwang-jo nach hinten und wäre um ein Haar böse gestürzt, wenn Thomas ihn nicht am Kragen gepackt und wieder in die Höhe gezogen hätte, um den Störenfried energisch aus der Küche zu drängen. Gwang-jo schrie empört auf und übertrug seine angestaute Wut und Angst nun auf den schottischen Polizisten, den er erst jetzt bewusst wahrzunehmen schien und mit dem er ja ohnehin noch eine Rechnung offen stehen hatte.

    Energisch riss der Koreaner seine Faust hoch und traf den unvorbereiteten Polizisten unmittelbar am Kinn, sodass dieser benommen zurück in die Küche taumelte, über den Körper des Toten stolperte und mitten auf dessen eisigen Leichnam fiel, der mit einem infernalischen Geräusch knackte und an manchen Stellen zerbröckelte. Thomas spürte den Schmerz und ein aufsteigendes Gefühl der Übelkeit in sich aufsteigen und rollte sich benommen von dem Toten herunter. Die Kälte in der Küche traf ihn wieder wie ein Schlag und er war fast unfähig sich zu bewegen. Sterne tanzten plötzlich vor seinen Augen und seine Umgebung fing an sich um ihn herum spiralförmig immer schneller zu drehen, doch der Schotte gewann den inneren Kampf gegen die Bewusstlosigkeit, rappelte sich mechanisch auf und stolperte zitternd über den Leichnam hinweg und auf die Küchentür zu. Er folgte einer Art innerem Instinkt und dachte über die Unvorsichtigkeit seines Handelns gar nicht mehr bewusst nach.

    Daher traf ihn der brutale Handkantenschlag in den Nacken völlig unvermittelt. Der sadistische Koreaner hatte im toten Winkel der Tür gelauert und lachte sein hilfloses Opfer höhnisch aus. Thomas fühlte sich wie paralysiert, sein ganzer Körper war nach dem präzisen Treffer wie gelähmt.

    Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Thomas mit einem Mal einen großen und dunklen Schatten, der sich hinter Gwang-jo aufbaute, der dies nicht bemerkte und nur Augen für sein Opfer hatte. Thomas wollte noch etwas sagen, doch auch seine Sinne schienen wie gelähmt und er verlor völlig den Faden.

    Nun war es Gwang-jo, der hinterrücks angegriffen wurde und einen schmerzhaften Schlag an den Hinterkopf hinnehmen musste. Überrascht aufschreiend beugte sich der Koreaner verkrampft nach vorne und bekam sogleich das Knie seines Gegners brutal in den Magen gerammt, woraufhin der Koreaner seinen Oberkörper instinktiv nach oben drückte, um nach Luft zu schnappen. Auch mit dieser Bewegung hatte sein Kontrahent gerechnet und schlug ihm kurz und trocken gegen die linke Schläfe.

    Der Koreaner verdrehte noch ungläubig die Augen, bevor er wie ein nasser Sack zur Seite kippte, gegen den Türrahmen prallte und dann unmittelbar neben seinem toten Freund liegen blieb. Dieser fast prophetische Anblick, den Thomas nur aus dem äußersten Blickwinkel wahrnahm, ließ ihn erneut erschaudern.

    Noch immer war der schottische Polizist unfähig sich zu bewegen und erkannte seinen unverhofften Retter erst, als dieser sich zu ihm beugte und sorgsam betrachtete. Es handelte sich um Björn Ansgar Lykström, der sich aufgeregt nach dem Schotten erkundigte. Daraus schloss Thomas, dass er ein erbärmliches Bild darstellen musste und noch mitgenommener aussah, als er sich ohnehin schon fühlte.

    Langsam kribbelte es wieder in seinen Gliedern, seine Muskeln begannen zu zucken und die Betäubung löste sich langsam wie eine Brausetablette im Wasser auf. Das dumpfe Gefühl wich aus seinem Kopf und sein steifer Nacken entspannte sich wieder ein wenig. Trotzdem wurde Thomas fast noch schwarz vor den Augen, doch er kämpfte erneut mental gegen die Bewusstlosigkeit an.

    Der schwedische Lehrer bot seine ganzen Kräfte auf, als er den immer noch fast unbeweglichen Körper des benommenen Schotten auf die Beine zerrte, diesen stützte und ihn langsam zurück in Richtung der Bibliothek drängte. Thomas kam sich fast so vor wie der tote Butler, den der Schwede vor wenigen Stunden erst durch das Schloss getragen und dessen Stelle nun Thomas auf makabre Weise eingenommen hatte.

    Der schottische Ermittler wollte noch etwas erwidern, wollte die Hilfe des Schweden ablehnen, wollte wissen, ob dieser sich nicht den Toten genauer ansehen wollte, doch er hatte kaum Kraft zum Sprechen.

    Auf der Hälfte des Weges kamen ihnen dann noch Abdullah und Marilou entgegen, die eng umschlungen einen vorsichtigen Blick in den gespenstischen Speisesaal geworfen hatten, der jetzt wieder völlig im Dunkeln lag, da sich die dichte Wolkenwand wieder zugezogen hatte. Ein dumpfes Grollen deutete an, dass es bald neue Unwetter geben würde und auch für den kommenden Tag ein mögliches Verschwinden von der Insel, sowie das eventuelle Entzünden von improvisierten Leuchtsignalen faktisch unmöglich machen würde. Durch den nebligen Dunst würde ohnehin niemand ihr Signal wahrnehmen und die Insel blieb auch weiterhin völlig abgeschottet von der Zivilisation. Alles schien sich gegen die Gäste verschworen zu haben, die in letzter Zeit ohnehin schon mehr hatten ertragen müssen, als manche Menschen in ihrem ganzen Leben.

    Abdullah und Marilou halfen Björn Ansgar Lykström und zu dritt stützten sie nun den Schotten und trugen diesen in die Bibliothek, wo sie ihn auf eine ausrangierte, roséfarbene Couch legten und sogar ein kleines und staubiges Kissen für ihn auftreiben konnten.

    Thomas nickte stumm und blinzelte seine drei Helfer dankbar an. Mit einem Mal sah er doch einen Hoffnungsschimmer in der scheinbar auswegslosen Situation. Ein Gefühl der Solidarität auf Grund der Zweckgemeinschaft hatte sich unter den Anwesenden verbreitet und einzig und allein auf dieser Grundlage konnten sie aufbauen, um gegen den unsichtbaren Täter zu agieren.

    Auch Mamadou, der in der Bibliothek geblieben war, um unter den restlichen Anwesenden wenigstens ein wenig Kontrolle zu wahren, trat kurz auf Thomas zu, sah ihn besorgt an und ging dann selbst schnell zum Tatort.

    Thomas wurde nach einigen Augenblicken allein gelassen und schon bald musste er seiner erneuten Müdigkeit Tribut zollen. Er hatte zunächst noch große Angst, da ein mögliches Einschlafen ihn hilflos gegenüber der allgegenwärtigen Gefahren machte, doch irgendwann waren die Gesetze der Natur stärker noch als sein Wille und er driftete in einen oberflächlichen und unruhigen Traum ab, der ihn dankbar von der tristen Realität abspaltete und ihm gar ein Gefühl wohliger Wärme vermittelte, was sich allerdings abrupt wieder änderte.

    Der übermüdete und sorgengeplagte Schotte hatte einen sehr wechselhaften Traum. Zunächst war er bedrohlich und düster, er sah den tiefgefrorenen Körper des toten Albaners vor sich liegen und spürte in diesem Traum wie seine eigenen Beine vereisten und wie ein langsam erfrierender Mamadou neben ihm wie eine Statue umfiel und in Millionen Splitter zerbarst. Dann spürte er eine wohlige Wärme, als die mysteriöse und halbnackte Brasilianerin in seinem Traum auftauchte, ihn zärtlich berührte und liebkoste. Doch plötzlich verzerrte sich das Gesicht der Schönheit zu einer hässlichen Fratze einer alten, grauhaarigen Hexe mit schwarzen Zähnen und haarigen Warzen im Gesicht. Das Biest zückte einen Lederpeitsche und schlug in blinder Wut mehrmals auf den gepeinigten und starren Thomas ein, bevor sie den völlig paralysierten Schotten mit Plastikhandschellen in einem Kerker des Kellers an eines der Haifischbecken kettete. Neben der verwandelten Brasilianerin stand er Koch, der mit einem irren Blick ein überlanges und silbrig funkelndes Stahlmesser im Fleisch eines toten Haies wetzte, der neben Thomas lag. Da ertönte plötzlich das schaurige Lachen des Koreaners, der zu den anderen beiden Übeltätern zutrat und dabei Mamadou im Schwitzkasten hielt. In der anderen Hand hielt er dessen Pistole und blickte Thomas aus schwarzen und animalischen Augen an. Zuletzt traten schließlich Marilou und Abdullah zu der Gruppe. Abdullah reichte dem Koch ein Silbertablett, auf dem sich eine silbrige Haube befand, die wohl ein besonderes Menu dem Anblick der anderen Anwesenden verwehrte. Die Kanadierin jedoch trug eine Art übergroße Flagge, auf der vier weiße Lilien auf blauem Grund zu sehen waren, wobei diese durch ein weißes Kreuz in gleich große Viertel gespalten wurden. Am spitzen Ende des holzigen Flaggenmastes waren die Schädel der anderen bisherigen Toten aufgesteckt worden und die sonst so stille Marilou blickte Thomas kalt an und fing an schaurig zu lachen. Im selben Moment lüftete der Koch das Silbertablett und fand den abgeschlagenen Kopf von Björn Ansgar Lykström auf einem gigantischen Teller. Ameisen, Spinnen und Ratten krochen in der blutigen Soße umher, in den ausgerenkten Mund des Schweden war ein giftgrüner Apfel gesteckt worden. Mit einem irren Lachen ergriff der Koch sein Messer und begann damit den blutüberströmten und klumpenartigen Kopf in Fünftel zu schneiden, die er jedem anderen der Anwesenden anbot. Das letzte Stück behielt er jedoch nicht für sich, sondern schritt mit dem Tablett auf den angeketteten Thomas zu, grinste ihn diabolisch an und setzte ihm die Messerklinge an die Kehle. Mit seinen klobigen Findern ergriff er den Mund des Schotten und drückte diesen langsam und gewaltsam auf, bevor er das Tablett mit dem letzten Teilstück langsam näher schob und in den Rachen des Schotten schieben wollte. Dieser erblickte das leblose Auge des toten Schwedischlehrers, das ihn fast hypnotisch ansah. Mit großem Ekel wollte sich der junge Polizist gegen die bizarre Delikatesse sperren, doch sein Kiefer schien ausgerenkt zu sein, sein gesamter Körper betäubt und jeder Widerstand war zwecklos. Ein Büschel toter Haare des Schweden kitzelte bereits seinen Gaumen und der Schotte verschloss mit einem stummen Schrei die Augen...

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    Kapitel 84: Samstag, 02 Uhr 44 Bibliothek

    In diesem Moment fuhr Thomas aus dem Ekel erregenden Traum hoch und schreckte von dem Sofa hoch. Sogleich spürte er einen stechenden Schmerz in seinem Nacken und es wurde ihm wieder schwarz vor den Augen. Erschöpft legte er sich wieder flach auf das Sofa. Sein Herz pochte ihm das Blut in den Kopf, sein Gesicht war schweißüberströmt, doch niemand schien das Leiden des jungen Polizisten zu bemerken.

    Nach einigen Minuten der Regeneration öffnete Thomas wieder die Augen und konzentrierte sich optisch und akustisch wieder auf seine unmittelbare Umgebung.

    Kaum war er wieder voll bei Sinnen und hatte sich auf dem Sofa mit angezogenen Beinen hingesetzt, als er Elaine Maria da Silva bemerkte, die ihm gegenüber saß und von Mamadou eifrig befragt wurde. Die mysteriöse Schöne hatte jedoch nur Augen für Thomas, den sie mit einem herzlichen Lächeln anblickte, welches er ihr nie zugetraut hätte. Thomas spürte ein wohliges Gefühl der Wärme in seinem Körper und dieser Zuspruch der Brasilianerin gab ihm neue Antriebskraft. Sein unheimlicher Traum, in dem die Brasilianerin eine entscheidende Rolle gespielt hatte und der auf ihn erschreckend realistisch und pessimistisch gewirkt hatte, war mit einem Mal wie fortgewischt, wenngleich auch der ein oder andere letzte Zweifel von dieser grenzwertigen Erfahrung übrig blieb.

    Thomas ließ seinen Blick durch die Bibliothek streifen und sah wie just in diesem Moment Abdullah Gadua und Björn Ansgar Lykström von der Eingangshalle her durch den kleinen Tunnel marschiert kamen. In ihrer Mitte ging der alte Koch, der im Schlafanzug und einem Paar alter Stoffschuhe steckte. Er blickte sich ängstlich um und zitterte wie Espenlaub.

    In dem Moment stürmte die letzte fehlende Person durch die Eingangshalle und auf die Bibliothek zu. Es handelte sich um Marilou Gauthier, die sehr aufgeregt wirkte und ein gerötetes Gesicht hatte. Aufgeregt wedelte sie mit einem vergilbten Papier durch die Luft, welches sie an ihren Fingerspitzen festhielt.

    Verwundert wandten sich die Anwesenden der Kanadierin zu, von der man solche Ausbrüche gar nicht gewohnt war. Mamadou trennte sich mit einem grimmigen Blick von der Brasilianerin, die jetzt elegant und langsam aufstand und sich neben Thomas auf das Sofa setzte. Diesem war die öffentliche Nähe zu der Brasilianerin unangenehm, doch gleichzeitig verspürte er auch wieder eine feurige Erregung, als er den Atem der schönen Frau in seinem Nacken spürte und ihr Parfüm in sich aufsog, welches er bereits vor wenigen Stunden bei ihrem Schäferstündchen intensiv wahrgenommen hatte.

    „Was ist denn los, Marilou?“, fragte Abdullah Gadua und wandte sich überrascht seiner Partnerin zu, die hastig zu einem zentral gelegenen Holztisch eilte und das vergilbte Papier entfaltete.

    Mamadou und Abdullah traten zu ihr und sahen interessiert auf den seltsamen Zettel. Auch Thomas wurde jetzt nervös und wartete mit unbändiger Spannung auf eine Aufklärung.

    „Hier steht alles geschrieben. Er gesteht alle Morde. Er erwähnt sogar explizit die letzten beiden Fallen mit dem Blitzschlag und der Gasflasche. Das ist ein astreines Geständnis.“, kommentiert die Kanadierin energisch.

    „Der Butler soll hinter allem stecken? Wo hast du den Brief denn gefunden?“, fragte Abdullah Gadua ungläubig.

    „In diesem Turmzimmer. Ich war eben noch einmal dort oben, da wir dort ja schon so viele Indizien gefunden hatten und ich mir sicher war, dass der Butler vielleicht eine Art Tagebuch geführt hatte oder irgendetwas vor seinem Tod noch hinterlassen wollte. Die Sache hat mir irgendwann einfach kene Ruhe mehr gelassen, ich wollte Gewissheit haben, da ich einfach furchtbare Angst habe.“, erklärte die plötzlich aufgetaute und listig herausfordernd blickende Marilou.

    „Ich weiß nicht. Der Abschiedsbrief wirkt auf mich ein wenig konstruiert. Der Butler ist einfach so verschwunden, hat sich still und einsam umgebracht und wollte vor uns fliehen und dann soll er vor seinem Suizid so weit gedacht haben, dass er einen Abschiedsbrief schreibt und uns alles gesteht, nachdem er sich vorher so sehr gegen uns gesperrt hat? Ich fühle mich da gerade ein wenig überrumpelt.“, kritisierte Mamadou und wurde dafür von Marilou giftig und verbissen angeblickt.

    Gwang-jo, der mit einem Verband benommen auf einem Sessel in der Ecke neben dem Kamin am äußersten Rande der Runde gesessen hatte, wurde nun hellhörig und lachte auch jetzt wieder triumphierend auf.

    „Damit wäre jetzt wohl entgültig bewiesen, dass ich Recht behalten habe. Niemand wollte mir glauben, alle haben sich gegen mich gewendet, aber wenn ihr mich nicht aufgehalten hättet, dann wären vielleicht weniger Menschen hier gestorben.“, urteilte der Koreaner knallhart und blickte verbissen um sich.

    „Ich schätze, dass der Brief eine Fälschung ist. Thomas hatte es am heutigen Nachmittag bereits einmal vorgeschlagen und jetzt wird seine Idee interessanter denn je. Wir sollten dringend Schriftproben durchführen.“, funkte Mamadou dazwischen und war bereits wieder in seinen alten energischen Eifer verfallen, jetzt wo die Auflösung des mörderischen Rätsels so nah zu liegen schien.  

    „Wie wäre es, wenn einer von euch Helden den Brief mal vorlesen würde, damit wir euren qualitativ hochwertigen Diskussionen auch folgen könnten?“, warf Elaine Maria da Silva spöttisch ein und Thomas musste trotz der gespielten Kritik und dem drückenden Ernst der Lage unwillkürlich grinsen.

    Mürrisch blickte Mamadou die beiden an und ergriff vorsichtig das vergilbte Papier, als ob es jeden Moment zu Staub zerfallen könnte. Vielleicht wollte er aber später auch einfach nur mögliche Fingerabdrücke sicher stellen und diese nicht bereits jetzt unvorsichtig verwischen. Langsam und wohl artikuliert las der Ghanaer den mysteriösen Brief vor.

    „Das Blatt hat sich gewendet, das Schicksal hat sich erneut gegen mich gerichtet. Ein Leben lang wurde ich geprügelt, verachtet, ausgenutzt und ich verlor alles, was ich wirklich liebte. Mein Leben in diesem Schloss unter diesem Tyrannen hat meine letzten Gefühle von Moral absterben lassen, er hat mich misshandelt und ist mit mir wie mit einem dreckigen Straßenköter umgegangen. Ich hasse diese Welt und ich hasse diese ganzen reichen Schnösel, die verachtend auf mich blicken, mich unterdrücken und mein Leben zerstören. Ein einziges Mal wollte ich der Sieger sein, ein einziges Mal wollte ich die Macht über euch Reichen und Schönen haben. Ich habe von Anfang an Nachforschungen über jeden gemacht, habe den Schlossherr und seine Gemahlin ausgehorcht und habe euch analysiert, seitdem ihr diese Insel betreten habt. Doch man kam mir durch Zufall auf die Schliche, eine wahnsinnige Verschwörungstheorie ohne jegliche Grundlage hat meine gesamten ausgeklügelten Pläne mit einem Schlag zerstört. Ein paar von euch erbärmlichen Gestalten werde ich noch mit ins Jenseits nehmen. Zwei Fallen habe ich noch vorbereitet, die während dieser Nacht zuschlagen werden. Die arrogante Schlossherrin und der bemitleidenswerte Fatmir, der mich ebenso drangsaliert und verachtete hat wie alle Anderen auch, werden mir in den Tod folgen. Meine letzte Mission ist gescheitert, doch es war nicht alles umsonst. Ich habe keine Kraft mehr, ich will nicht wieder in eine Opferrolle geraten, sondern im Gefühl des Sieges aus dem Leben scheiden, mit dem Wissen, dass mein inszenierter Albtraum jeden unter euch bis ans Ende des Lebens verfolgen wird und jeder von euch nur einen Bruchteil der Ängste und Schmerzen erfahren wird, die ich Zeit meines Lebens erdulden musste. Es ist vorbei. Ich sterbe als Märtyrer im Kampf gegen Arroganz, Misshandlung und die moderne Welt, in der Leute nach Geld und Ruhm beurteilt werden und der Egoismus unsere Herzen vergiftet. Francis McGregor alias der Butler, der den Tod servierte.“, schloss Mamadou mit leiser und betretener Stimme seine morbide Lektüre ab.

    Zunächst herrschte eine fast ehrfürchtige Stille in der Bibliothek. Das mysteriöse Flackern der Kerzen und der Sturm, der wieder stärker und unablässig wie ein unermüdliches Ungeheuer gegen die soliden Wände des Schlosses anrannte, verstärkten die Gänsehaut erzeugende Atmosphäre. Trotz des vermeintlichen Geständnisses, der Aufklärung der schrecklichen Taten, gab es niemanden, der jetzt erleichtert oder fröhlich wirkte.

    Wie immer bildete der Koreaner Gwang-jo mit seinem Verhalten wieder die krasse Ausnahme. Er strotzte nun vor Selbstvertrauen, Arroganz und Zuversicht und genierte sich auch in dieser düsteren und schwer verdaulichen Situation nicht, seine Überlegenheit den anderen Gästen mitzuteilen, die ihm jedoch kaum zuhörten und in verworrenen Gedanken versunken waren.

    „Es ist genauso, wie ich es euch immer gesagt habe. Wenn ich nicht die Initiative ergriffen und diesen verfluchten Bastard eingeschüchtert hätte, dann wäre er jetzt immer noch am Leben und würde vermutlich gerade den Nächsten von uns um die Ecke bringen. Ich erwarte eine aufrichtige Entschuldigung von euch für das, was ihr mit mir gemacht habt.“, forderte der hitzige Koreaner, der sich trotz seiner Verletzung bereist wieder aufgerichtet hatte und wild mit den Armen gestikulierte, um seine Stärke zu demonstrieren. 

    Thomas hörte schon gar nicht mehr hin und blickte nachdenklich zu Elaine Maria da Silva, die der unverhofften Wende im mörderischen Spiel ebenfalls noch nicht so ganz zu trauen schien. Die Brasilianerin wirkte ungewohnt introvertiert. Als sie dem Blick ihres schottischen Geliebten begegnete, lächelte sie müde und ohne Überzeugungskraft. Ihr mysteriöser Charme war einer nachdenklichen Müdigkeit gewichen.

    „Das wäre zu schön, um wahr zu sein.“, urteilte sie mit leiser und rauer Stimme, die bei Thomas unwillkürlich eine erregende Gänsehaut provozierten.

    „Wir dürfen in jedem Fall nicht den Fehler machen und uns nun in Sicherheit wägen.“, gab Thomas zurück. und warf einen Blick in die Runde.

    Der Koch, der eben noch aus dem Schlaf gerissen worden war, saß bleich in einer Ecke des Raumes und räusperte sich vernehmlich. Er versuchte beschämt auf sich aufmerksam zu machen. Erst nach einigen Augenblicken wandten sich Abdullah Gadua und Björn Ansgar Lykström, die ihn entschlossen in die Bibliothek eskortiert hatten, zu dem alten Mann um.

    „Jetzt wo diese Sache geklärt ist, dürfte ich vielleicht wieder auf mein Zimmer zurückkehren?“, fragte er mit dunkler und doch verschreckter Stimme.

    „Es ist noch überhaupt nichts geklärt, mein Herr. Mich wundert es ohnehin, dass Sie so ruhig schlafen können und so unbeteiligt bleiben, während um sie herum ein Mensch nach dem Anderen brutal ermordet wird.“, erwiderte Mamadou vorwurfsvoll und Thomas bemerkte, wie der Koch mit einem Mal einen roten Kopf bekam und eigenartig nervös wurde.

    „Das liegt daran, dass ich keine großen Gruppen mag. Ich kenne Sie doch nicht, wieso sollte ich mit jemandem von Ihnen hier zusammenbleiben, wo es auch sein könnte, dass ich in der nächsten Sekunde kaltblütig um die Ecke gebracht werde?“, entgegnete der Koch stotternd mit einer Gegenfrage.

    „Indem Sie sich verstecken, können Sie den Problemen und Gefahren auch nicht mehr ausweichen. Im Gegenteil, es ist so, dass Sie ein einfaches Angriffsziel bieten. Zu Ihrer eigenen Sicherheit sollten Sie unter uns bleiben.“, riet ihm Mamadou nun mit eindringlichem Unterton.

    „Wer sollte ein Interesse haben mich umzubringen? Ich bin nur ein alter und müder Koch, der von nichts weiß. Ich werde mich aus allem heraushalten und mich jetzt zurückziehen.“, entgegnete er störrisch und rappelte sich ächzend auf.

    Nervös nahm er ein blütenweißes Taschentuch aus seiner Hosentasche, auf dem sein Vorname und der einer Frau eingestickt waren, sowie ein älteres Datum, das schwer lesbar war. Thomas ging davon aus, dass dieses alte Taschentuch eine Art Andenken an die Frau des Kochs war und möglicherweise an deren Hochzeit gedachte. Thomas musste lächeln, als er daran dachte, dass das romantische Andenken im Grunde zu einer recht ekligen Notwendigkeit herhalten musste und die praktische Bedeutung somit im völligen Kontrast zur psychologischen Bedeutung stand, wenn man dies so sehen wollte.

    „Wir können Sie nicht zum Umdenken zwingen.“, entgegnete Mamadou mit bitterem Unterton und blickte dem Koch, der rasch davonschlurfen wollte, nachdenklich nach.

    In diesem Moment kam Thomas noch eine Idee. Schnell stand er auf und lief hinter dem alten Koch her, der sofort seinen Schritt beschleunigte und furchtbare Angst zu haben schien. Erst im Tunnelgang wandte er sich zitternd um, Schweiß lief über sein Gesicht und er blickte den verwunderten Thomas aus weit geöffneten Augen an.

    „Sie müssen keine Angst vor mir haben. Ich würde nur gern wissen, ob es möglicherweise eine Art Testament des Schlossherrn oder seiner Frau gibt. Vielleicht ging es dem skrupellosen Mörder ja nur um das Schloss und all die teuren Besitztümer hier.“, erläuterte Thomas seinen Einfall.

    Der schottische Polizist merkte sofort, dass der Koch noch nervöser wurde und sich hektisch umsah, als ob er zu einer beliebigen Seite davonlaufen wollte. Dieses Verhalten bewies Thomas nur, dass der Koch mehr wusste, als er offensichtlich zugeben wollte und ihm selbst lieb war. Thomas versuchte es mit der ruhigen und überzeugenden Methode, um an ein paar Informationen zu gelangen.

    „Hören Sie, Sie können mir vertrauen. Ich bin selbst Polizist. Wenn Sie uns helfen und kooperieren, dann könnten wir die ganze Sache hier vermutlich entgültig aufdecken. Ich bitte Sie eindringlich darum.“, begann Thomas fast theatralisch, verschränkte bittend seine Hände und sah seinem Gegenüber offen und direkt in die Augen. 

    Der Koch wandte den Blick ab und trat unruhig von einem Fuß auf den Anderen. Er schien mit sich selbst zu hadern und nach einer Ausflucht zu suchen. Thomas hatte Verständnis und Mitgefühl für den Mann, der auf seine alten Tage noch so ein grausiges Verbrechen miterleben musste und ließ dem Koch deswegen einige Minuten Bedenkzeit. Nach einigen Augenblicken blickte der alt und gebrochen wirkende Mann ihn langsam und fast ängstlich an.

    „Ich sage Ihnen, was ich weiß, unter der Bedingung, dass Sie mich in Ruhe in meinem Zimmer lassen, keine Ansprüche auf irgendwelche Mahlzeiten mehr stellen und außerdem versuchen werden wieder Wachposten aufzustellen, sodass dieser Killer, falls er denn noch unter Ihnen ist, mich nicht aufgreifen kann.“, forderte der Koch mit fester Stimme und verkniffenem Blick, obwohl in seinen Augen die pure Angst aufflackerte.

    Thomas zögerte nicht lange und dachte auch nicht großartig darüber nach, ob er die verlangten Forderungen wirklich einhalten konnte. Allzu exorbitant waren die Bedingungen nicht und es brannte ihm unter den Nägeln, endlich mehr zu erfahren und möglicherweise eine neue Spur zu finden. So sagte er eilig zu.

    „Es ist in Ordnung.“, bemerkte er und blickte den Koch erwartungsvoll an. Dieser fühlte sich sichtbar geniert und trat zögernd ganz nah an den schottischen Polizisten heran und flüsterte ihm dann sein geringfügiges,  aber möglicherweise durchaus Ausschlag gebendes Wissen zu.

    „Es ist nur ein Zufall, dass ich davon weiß. Hier im Schloss befinden sich viele Geheimgänge. Ich habe sie niemals selbst durchsucht, das verbietet mir meine Diskretion. Allerdings weiß ich von einem Geheimgang hinter dem Kamin in diesem Zimmer. Im Kellergewölbe dieses Ganges sollen alle möglichen Papiere und Urkunden gelagert sein. Vielleicht werden Sie in den Archiven fündig. Ich weiß allerdings nicht, was in einem solchen Testament drinsteht. Ich weiß nur, dass der Schlossherr sein Testament kurz nach der Hochzeit gemeinsam mit Frau Osario abschloss. Seine Gemahlin ließ das Testament jedoch mit Hilfe eines Notars in Abwesenheit ihres Mannes vor etwa einem Monat umändern.“, erklärte der Koch flüsternd und gepresst.

    In Thomas stieg ein heißes Kribbeln auf, das sich wie elektrisierend um seine Kopfhaut zu legen schien. Diese Information könnte der gesamten Grundlage des Falles eine andere Wendung geben. Thomas hatte bereits eine vage Vermutung und war Feuer und Flamme den Geheimgang zu finden. Nervös und ungeduldig hakte er beim Koch nach.

    „Diese Information könnte uns allen enorm weiterhelfen. Wissen Sie zufällig auch noch, wie man den Geheimgang öffnen kann?“, wollte Thomas hoffnungsvoll wissen.

    „Nein, nein. Ich habe Ihnen vermutlich schon zu viel gesagt. Mein Gott, hoffentlich wird sich das nicht rächen. Entschuldigen Sie mich, ich werde mich zurückziehen. Halten Sie bitte ihr Versprechen ein und denken Sie immer an meine Worte.“, stotterte der Koch, der schon halb im Selbstgespräch versunken war und gehetzt in die Eingangshalle stolperte.

    Thomas wandte sich mit einem grimmig entschlossenen Lächeln um und kehrte langsam und nachdenklich in die Bibliothek zurück. Alle Augenpaare richteten sich erwartungsvoll auf ihn, manche abwertend, manche aber durchaus auch hoffnungsvoll und interessiert. Der schottische Polizist musste kurz lächeln und kostete das Gefühl des Triumphes aus. Siegessicher und motiviert ballte er seine Hände zu Fäusten. Dann wandte er sich an die übrigen Anwesenden.

    „Die Sache ist noch nicht vorbei. Es gibt vermutlich eine neue, interessante Spur. Es geht um das Testament der Schlossbesitzer. Wir dürfen nicht ausschließen, dass es dem Täter nur um das Geld und die Reichtümer hier gegangen ist. Die Familie hat im Kellergewölbe einen großen und mit höchsten Sicherheitsvorkehrungen geschützten Tresor, in dem sich Gegenstände von Werten in Millionenhöhe befinden. Wonach wir jetzt suchen, ist eben jenes Testament der beiden Schlossbesitzer, das uns unter Umständen einige interessante Aufschlüsse geben könnten. Vielleicht stoßen wir auch noch auf andere wichtige Unterlagen.“, bemerkte Thomas eifrig und sah jede Menge erstaunter Gesichter um sich herum, vor allem Björn Ansgar Lykström bekam seinen Mund fast gar nicht mehr zu.

    Thomas hatte lange gezögert, ob er allen Anwesenden klaren Wein einschenken sollte, doch letztlich hatte er sich für die Offenheit entschieden und einige damit wohl überrascht. Gerade Mamadou sah ihn vorwurfsvoll an und auch Björn Ansgar Lykström wirkte mittlerweile sogar hochgradig verärgert.

    „Wo befinden sich diese Archive oder Testamente denn?“, hakte Abdullah Gadua nach.

    „Sie befinden sich am Ende eines Geheimgangs. Und dieser Gang befindet sich mitten hier in diesem Raum!“, tat Thomas euphorisch die nächste Überraschung kund.

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    Kapitel 85: Samstag, 03 Uhr 15 Bibliothek

    Mit einem Mal herrschte wieder eine ehrfürchtige Stille in der Bibliothek. Alle Anwesenden drehten sich wie auf Kommando um, betrachteten argwöhnisch die Wände der Bibliothek, die hohen Regale, die Kerzenständer und Fackelhalter, die kleinen Tische und Sitzkissen, den verwaisten Kamin, die edlen Holzvertäfelungen und die alten Gemälde, von denen an jeder Wand genau ein Exemplar hing und verschiedene Landschaften des Planeten zeigte.

    Auch Thomas hatte schon einen prüfenden Blick auf den Kamin geworfen, doch ein direkter Mechanismus war nicht sofort zu erkennen. Sein Eifer und Entdeckungsdrang waren jedoch geweckt und er versuchte beides auf die wie gelähmt wirkenden Gäste zu übertragen.

    „Der Koch hat mir gesagt, dass irgendwo hinter diesem Kamin ein geheimer Gang sein soll. Den Mechanismus kennt er nicht, aber wenn wir jetzt gemeinsam gezielt vorgehen, dann werden wir auch dieses Rätsel lösen.“, motivierte der junge Schotte den Rest der Gruppe.

    Seine neue Geliebte Elaine Maria da Silva stand als Erste auf, trat demonstrativ zu dem Polizisten und blickte erwartungsvoll und herausfordernd die anderen Gäste an. Nach ihr erhob sich Mamadou, dessen Eifer ebenfalls wieder geweckt worden war. Die drei stellten sich zusammen und warteten auf die anderen Gäste, die noch sehr zögerlich wirkten. Thomas wurde zunehmend ungeduldiger.

    „Steht auf und helft uns! Wenn wir nur planlos herumsitzen, dann werden wir den Killer niemals schnappen. Wir bleiben einfach zusammen und gehen gemeinsam in dieses Gewölbe, niemand muss Furcht haben allein zu sein. Wo also liegt euer Problem?“, argumentierte Thomas und lief aufgeregt hin und her, wobei er jeden der Gäste abwesend und eindringlich musterte.

    „Ich möchte dich daran erinnern, dass wir in unserem letzten Geheimgang auf einen Toten gestoßen sind. Das Ganze macht mir immer noch zu schaffen. In so einen Gang kriegen mich keine zehn Pferde mehr hinein.“, stellte sich Björn Ansgar Lykström quer.

    „Ich würde auch lieber hier oben bleiben. Ich fürchte mich vor dunklen Räumen. Ich kann hier auf euch warten.“, warf nun auch Marilou ein.

    „Ich würde auch lieber mit Marilou warten.“, bemerkte Abdullah Gadua leise und sah seine Partnerin gleichzeitig liebevoll, aber auch besorgt an.

    „Nein, das brauchst du nicht. Du kannst dich ruhig an der Suche beteiligen. Mir wird schon nichts passieren.“, entgegnete die Kanadierin sanft, aber erstaunlich bestimmt.

    „Macht euch darum keine Sorgen. Ich werde ebenfalls hier oben bleiben und auf die restlichen Anwesenden aufpassen.“, griff Mamadou plötzlich hektisch ein und erntete den verständnislosen Blick seines Kollegen.

    „Wir brauchen dich aber dort unten. Du hast eine erstaunliche Beobachtungsgabe und das könnte sich für uns im Endeffekt als sehr nützlich erweisen.“, versuchte Thomas seinen Partner zu überreden.

    Doch der Afrikaner blieb beharrlich bei seiner Meinung und schüttelte den Kopf. Thomas verstand die ungewöhnliche Reaktion seines sonst so kooperativen und freundlichen Kollegen nicht, zumal der Afrikaner ihn nicht direkt ansah und stattdessen mit einem Mal sehr grimmig und introvertiert wirkte. Schließlich konnte er die auf ihn ruhenden Blicke nicht mehr ertragen und schritt steif auf den Kamin zu, den er suchend umschritt und dabei die nähere Holzvertäfelung abklopfte.

    Thomas blickte Elaine Maria da Silva an, die gleichgültig mit den Schultern zuckte und dann auf eines der übergroßen Bücherregale zutrat. Thomas blieb nachdenklich zurück und nahm sich vor mit seinem Kollegen bald ein Wort unter vier Augen zu wechseln.

    Nach einigem Zögern trat auch der junge Schotte in die Nähe des Kamins und betrachtete gedankenverloren die alten und staubigen Bücher. Dabei beobachtete er aus den Augenwinkeln heraus Mamadou, der sich immer wieder umwandte und die restlichen Gäste, die nur zögernd an der Suche teilnahmen, grimmig im Auge behielt. Er war kaum bei der Sache und wirkte sehr unruhig.

    Thomas versuchte sich auf andere Dinge zu konzentrieren und dachte darüber nach, wo sich der Geheimgang befinden könnte. Er beobachtete zunächst, wie seine Begleiter bei der Suche vorgingen, um sich auf diese Weise selbst zu inspirieren.

    Elaine Maria da Silva nahm zunächst die Fackelhalter und Kerzenständer in Augenschein, die allerdings alle fest verankert waren und um keinen Zentimeter nachgaben. Thomas hätte es auch erstaunt, wenn der Mechanismus für die Geheimgänge immer derselbe gewesen wäre. Seine neue Liebhaberin bückte sich nun und kroch langsam, aber ohne Ekel oder Verlegenheit in den rußigen Kamin, dessen Wände sie prüfend abklopfte. Sie fand einen verrosteten Schürhaken, mit dem sie jeden einzelnen Stein abklopfte, doch sie blieb dabei ohne Erfolg. Ernüchtert kroch sie rückwärts wieder aus dem engen Kamin heraus und Thomas bekam ein heißes Schaudern, als der Rock der Brasilianerin dabei leicht in die Höhe rutschte und ihre makellosen Beine entblößte. Langsam und lasziv zog sie sich den Saum wieder in die Tiefe und warf dem schottischen Polizisten einen spöttischen Blick zu. Thomas fühlte sich ertappt, wandte sich verlegen um und tat so, als wäre er selbst eifrig auf der Suche nach einem Mechanismus.

    Mamadou untersuchte neben ihm einige Holzvertäfelungen und nahm nun eines der großen Gemälde vorsichtig von der Wand, nachdem er sehr grazil und schnell auf eines der hohen Regale geklettert war, welches unter seinem Gewicht ordentlich knarrte. Das Holz bog sich bereits leicht durch und der Afrikaner beeilte sich einen Blick hinter das Gemälde zu werfen, doch er fand dort nichts als Spinnweben und Staub.

    Ernüchtert sprang er mit einem raschen Satz von dem Regal und kam federnd auf den Knien auf. Sein nächstes Ziel waren die anderen drei Gemälde. Abdullah Gadua kam ihm jetzt aber auch entgegen und half dem Polizisten bei dessen Klettereien, indem er ihm eine Räuberleiter machte oder ihn in einer enormen Kraftanstrengung in die Lüfte drückte.

    Selbst Marilou Gauthier war jetzt aktiv geworden und schaute unter diversen Teppichen der Bibliothek nach einer versteckten Klappe oder Falltür und schob dafür auch einige der zahlreichen Sitzgelegenheiten beiseite.

    Auch Björn Ansgar Lykström hatte sich schließlich willenlos erhoben und suchte erst die Decke mit ihren Lüstern ab, um sich dann in den kleinen Tunnelgang zwischen der Eingangshalle und der Bibliothek zu begeben, wo auch noch jede Menge Gemälde hingen. Versehentlich warf er sogar eine dort stehende Ritterrüstung um, die scheppernd auseinanderbrach und alle Anwesenden verschreckt zusammenzucken ließ. Der Schwede entschuldigte sich kleinlaut und baute die Rüstung behutsam wieder zusammen. Die Nerven waren bei allen extrem angespannt.

    Einzig und allein Gwang-jo saß isoliert und grimmig auf seiner Couch und beobachtete die anderen Gäste mit stechenden Blicken. Manche erwiderten seine mürrische Art und blickten den Koreaner verachtungsvoll an. Schließlich konnte sich Abdullah Gadua nicht mehr zusammenreißen und stellte den Boykottanten zur Rede.

    „Hör endlich auf eine solche Fresse zu ziehen und pack lieber mit an!“, herrschte er den Koreaner an und mit einem Mal hielten alle in ihrer Suche inne und wandten sich verschreckt zu den beiden Streithähnen um. Doch Gwang-jo blieb dieses Mal provokant ruhig und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.

    „Wofür sollte ich mit anpacken? Erst schlägt man mich grob zusammen und schenkt mir keinen Glauben und jetzt soll ich mir den Arsch für euch aufreißen? Sucht euch einen anderen Idioten!“, konterte Gwang-jo kalt und offensiv wie immer.

    Abdullah Gadua ließ einen Kerzenständer, den er gerade in der Hand hielt, achtlos zu Boden fallen. Das aggressive Scheppern begleitete den forschen Gang des Provozierten, der grimmig auf Gwang-jo zutrat und wenige Zentimeter vor ihm mit bebender Stimme und zitterndem Körper stehen blieb.

    „Hör mir zu, du arroganter Bastard! Es geht hier nicht um mich, sondern um uns alle. Irgendein krankes Hirn bringt uns hier systematisch der Reihe nach um. Wenn wir zusammen dagegen vorgehen, dann können wir überleben. Aber ich habe keine Lust wegen deinem Ego und deiner blinden Arroganz mein Leben leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Du hast alle gegen dich aufgebracht und wenn du nicht mitziehst, wird das fürchterlich für dich enden, das verspreche ich dir.“, drohte Abdullah ihm mit geballter Faust.

    Plötzlich schnellte Gwang-jo blitzschnell hoch und drückte sein Gesicht gegen das seines Gegenübers. Seine gewaltige Halsschlagader trat bebend hervor, Speichel flog von seinen Lippen, als der Koreaner seiner Wut Ausdruck verlieh.

    „Du dreckiges Arschloch willst mir drohen? Jetzt hörst du mir mal zu! Der Killer hat ein Geständnis abgelegt, die Sache ist gelaufen. Stattdessen versucht ihre euch gegenseitig verrückt zu machen und in die Irre zu treiben. Euren komischen und ineffizienten Methoden traue ich nicht mehr. Ich fühle mich sicher, mein Leben nicht in Gefahr und ich werde mich auch nicht unnötigerweise in eine solche begeben. Bringt euch meinetwegen gegenseitig um oder ertränkt euch in Tränen voller Selbstmitleid, aber lasst mich aus dem Spiel!“, forderte der Koreaner mit unbändiger Wut und schraubte seine schrille Tonlage extrem in die Höhe. Sein Gegenüber aber blieb unbeeindruckt.

    „So wie du reagierst, müsste man annehmen, dass du hinter all dem steckst und dieser sadistische Killer bist!“, entgegnete Abdullah kalt und mit stechendem Blick.

    „Glaubt doch, was ihr wollt! Beweise habt ihr keine. Lasst mich mit euren utopischen Verschwörungsgeschichten in Frieden!“, entgegnete Gwang-jo und setzte sich demonstrativ wieder hin.

    Abdullah Gadua verharrte wutschnaubend vor dem Koreaner, ballte seine Hände zu Fäusten, sodass seine Nägel ihm bereits schmerzhaft ins Fleisch schnitten. Er schien darüber nachzudenken, ob er sich auf den Koreaner stürzen sollte und war kaum mehr zurückzuhalten. Er verlor langsam die Kontrolle über sich selbst und alle Dämme schienen zu brechen.

    Plötzlich trat jedoch von hinten eine Person an Abdullah heran und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. Unwillig und überrascht zugleich fuhr er herum und blickte in das besorgte Gesicht seiner Partnerin. Marilou strich Abdullah beruhigend durch das Haar, ergriff den Arm ihres Gemahls und zerrte diesen entschlossen von dem Koreaner weg, der diese Situation mit einem höhnischen und selbstsicheren Lächeln quittierte. Die Kanadierin blickte Gwang-jo so kalt und unbarmherzig an, dass diesem das Lachen im Gesicht gefror und selbst der vorlaute Provokateur verstummte.

    Thomas folgte die Szene mit besorgter Miene und atmete sichtbar durch, als er bemerkte, dass eine erneute Eskalation dieses Mal noch verhindert werden konnte. Langsam wandten sich alle Suchenden wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zu, lediglich Marilou und Abdullah setzten sich auf eine Couch und tauschten erregt flüsternd ein paar Worte aus. Abdullah Gadua blickte feindselig zu Gwang-jo herüber und schien seine Partnerin über das provozierende Verhalten seines Gegenspielers aufzuklären, wobei er sie in seiner wild gestikulierten Erregung gar nicht mal mehr zu Wort kommen ließ. Die Kanadierin wirkte bald wie versteinert und nahm das Gerede ihres Mannes überhaupt nicht mehr richtig wahr. Ein dunkles, abwesend wirkendes Lächeln war über ihr Gesicht gehuscht und wirkte schließlich wie eingemeißelt.

    Mit einem Frösteln wandte sich Thomas ab und blickte mehr oder weniger planlos über die endlos langen Reihen der Bücher, bis sein Blick eher zufällig an ein paar älteren Exemplaren der spanischen Literatur hängen blieb. Sein Blick streifte über einige Autoren, bis er plötzlich an einem edlen, mit braunem Leder eingebundenen Exemplar hängen blieb. Das gute Stück war völlig verstaubt, doch man konnte gerade noch die silbrigen Lettern erkennen, die beinahe am Abblättern waren.

    „El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha von Miguel de Cervantes Saavedra.”, murmelte Thomas den Namen eines der wichtigsten Exemplare der spanischen Literatur und Weltliteratur im Allgemeinen vor sich hin.

    Der junge Polizist erinnerte sich daran, dass die spanische Lehrerin Magdalena Osario oft aus diesem Roman zitiert hatte und ihn seit jeher auch als ihr Lieblingsbuch bezeichnet hatte. Konnte dieses alte und sicherlich wertvolle Erbstück ein Schlüssel zu dem möglichen Versteck sein? Hatte Magdalena Osario ihre wichtigsten Unterlagen unter dem Zeichen ihrer persönlichen Lieblingslektüre verborgen?

    Behutsam stellte sich Thomas auf die Zehenspitzen und griff nach dem labil wirkenden Buchrücken. Er zerrte behutsam daran und merkte, dass sich das Exemplar nicht vom Fleck rühren wollte. Verwundert zog Thomas erneut daran, als das Buch ihm plötzlich entgegen und in seine offenen Arme fiel.

    Staub flog dem jungen Schotten wie eine gigantische Duftwolke entgegen und kitzelte seine Nase. Im ersten Moment geschah nichts Besonderes und Thomas wollte das alte Buch, nachdem er es flüchtig durchgeblättert und den starken Niesreiz vertrieben hatte, wieder zurück an den ihm angestammten Platz stellen, als mit einem Mal ein hässliches Schleifen ertönte und eine dichte Staubwolke direkt von der rechten Seite kam und Thomas für kurze Zeit die Sicht blockierte.

    Der Schotte mit dem sicheren Gespür für gute Ideen und treffende Eingaben hustete keuchend und unterdrückte mit letzter Willenskraft ein Niesen. Zögernd öffnete er seine tränenden und müden Augen und konnte kaum Glauben, was er jenseits des Staubschleiers entdeckte.

    Er hatte tatsächlich den Mechanismus ausgelöst, der den unteren Teil des Kamins mitsamt dessen Rückwand um neunzig Grad nach links geschoben und einen niedrigen und undurchdringlich dunkel wirkenden Gang freigelegt hatte.

    Fasziniert und wie gebannt trat Thomas auf das gähnende Loch der Öffnung zu und fühlte sich sowohl sehr aufgeregt, als auch ein wenig ängstlich. Er nahm die Umgebung um sich herum kaum mehr war und befand sich mit seinen Gedanken schon in einem alten Verließ voller Archive.

    Der junge Schotte wollte sich gerade tranceartig in Bewegung setzen, als er plötzlich einen unbarmherzig festen Griff auf seiner Schulter spürte, der ihn langsam herumdrückte. Konsterniert blickte Thomas in das Gesicht des schwedischen Lehrers Björn Ansgar Lykström, der wie in Zeitlupe seinen rechten Arm hob und Thomas seltsam distanziert anblickte.

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    Kapitel 86: Samstag, 03 Uhr 39 Archive

    Thomas glaubte sein Herz würde still stehen vor Schreck und blickte sein Gegenüber, das er zunächst durch den immer noch dichten Staubschleier noch nicht erkannte, planlos und ängstlich an, doch plötzlich spürte er eine große Erleichterung, als er den Schweden erkannte und atmete hörbar durch. Selbst ein erleichtertes Lachen konnte der Polizist sich jetzt nicht mehr verkneifen.

    Kopfschüttelnd ergriff er die kleine, aber starke Taschenlampe, die der Schwede in seiner Hand gehalten hatte. Björn Ansgar Lykström lächelte kurz, versank dann jedoch wieder in seiner alten Ernsthaftigkeit und Trauer.

    „Ich dachte mir, dass du die gut bebrauchen könntest. Ich werde hier oben bleiben.“, bemerkte der Schwede mit einem gezwungen wirkenden Lächeln, klopfte Thomas aufmunternd auf die Schultern und wandte sich dann schlurfend und mit hängenden Schultern ab.

    Thomas atmete tief durch und wischte sich schnaufend den Schweiß von der Stirn, bevor er sich bückte und die Taschenlampe mit dem hellen, weißen Strahl einschaltete. Vor ihm befand sich ein enger Schacht, der nach kurzer Zeit scharf nach rechts abknickte und dabei in die Tiefe zu führen schien. Wie schon im anderen Gang sah Thomas zahlreiche Spinnweben und große Staubreste auf dem kalten und uneben geformten Boden.

    Langsam kroch Thomas in den Gang, die Faszination und Motivation hatten ihn nun gepackt. Erst an dem scharfen Knick hielt er inne und warf einen kurzen Blick über seine Schulter. Elaine Maria da Silva war ihm dicht gefolgt und Thomas empfand ein seltsames Gefühl des Triumphes, als er bemerkte, dass ihre Rollen nun vertauscht waren und er sich nicht mehr hinter ihr befand, wie noch im letzten Geheimgang. Diese Verwandlung war für Thomas sehr symbolisch, da er sich auch geistiger und zwischenmenschlicher mit der Brasilianerin nun mindestens ebenbürtig fühlte. Der Gedanke an ein Erfolgerlebnis, welche bislang eher sehr spärlich gesät gewesen waren, gab dem schottischen Polizisten unter diesen Vorzeichen neuen Antrieb.

    Thomas bog um die Ecke und kroch nun in einem Winkel von vielleicht zwanzig Grad tiefer in Richtung des Gewölbes. Der Gang schlängelte sich bald, um nach einigen Minuten in einer Spirale zu münden, die kreisförmig immer weiter in die Tiefe führte. Thomas bewegte sich schnell voran, aber die drückende Hitze in dem eigentlich so kalt wirkenden Gang, sowie auch die Enge und der zahlreiche Staub um ihn herum machten ihm gehörig zu schaffen. Thomas wurde immer ungeduldiger, legte öfters Pausen ein, um auf seine Begleiter zu warten, hielt inne und sinnierte darüber nach, wann der Gang endlich zu einem Ende kommen könnte.

    Er hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben und war in eine motivationslose Monotonie verfallen, bewegte sich auf allen Vieren wie ein Roboter vor und zurück, als er plötzlich einen anderen, weicheren Untergrund unter seinen Beinen spürte.

    Thomas hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als der Untergrund plötzlich nachgab und er abrupt und fast ungebremst in einen dunklen Schacht stürzte. Thomas versuchte noch instinktiv zu reagieren und sich irgendwo festzuhalten, doch er hatte eng zusammengekauert im Gang gehockt und fühlte sich auch jetzt wie ein unbewegliches und eingeschnürtes Paket.

    Er hatte nicht einmal mehr die Zeit, einen erschrockenen Schrei auszustoßen und stürzte in ein dunkles Loch, wobei er aus den Augenwinkeln heraus ein flackerndes Licht bemerkte. Bevor er sich über dieses Bild bewusst werden konnte, schlug Thomas grob auf einer harten Fläche auf, die unter ihm geräuschvoll zersplitterte, sodass sein Fall nur gebremst, aber noch nicht gestoppt worden war. Thomas fiel hilflos weiter, bis er nach wenigen Sekundenbruchteilen schon wieder hart auf einem staubigen und festen Boden aufkam.

    Ein dumpfer Schmerz wanderte durch seinen lädierten Rücken und er stöhnte geräuschvoll auf. Über sich sah er ein zersplittertes Holzbrett, jenseits davon eine schattige Öffnung an der Decke, wo er das Gesicht der schönen Brasilianerin mehr erahnte, als erkannte. Ächzend fuhr Thomas sich durch die Haare, schloss die Augen und ordnete seine Gedanken.

    „Ist bei dir alles in Ordnung, Thomas?“, fragte Elaine Maria da Silva halb spöttisch, halb besorgt und beugte sich mit ihrem Oberkörper nach unten.

    „Ich bin in Ordnung.“, brüllte Thomas entnervt zurück, tastete im Dunkeln halb blind nach seiner Taschenlampe, die neben ihm zu Boden gefallen war.

    Energisch schaltete er sie ein, doch es erfolgte keine Reaktion, das Licht blieb aus. Fluchend wiederholte er diesen Vorgang einige Male, doch die Lampe war offensichtlich durch den Sturz in Mitleidenschaft gezogen worden.

    Ungeduldig richtete Thomas sich auf, schirmte seine Augen mit den Händen ab und sah in dem relativ breiten und hohen Gang über sich ein Flackern. Neben dem zerstörten Holzbrett befand sich ein stabileres Gerüst, das durch einen tunnelartigen Gang in eine größere Höhle führte, aus der dieses mysteriöse Leuchten kam.

    Neugierig richtete sich Thomas auf, warf noch einen ergebnislosen Blick in den kleinen Vorraum, und stolperte dann auf eine kleine Holzleiter zu, die an den Durchgang angelehnt worden war. Mühsam erklomm er die knappe Distanz und wandte sich in dem Moment um, als seine brasilianische Begleiterin mutig nach unten gesprungen war, dabei jedoch vorsichtiger vorgegangen war, als ihr neuer Partner. Die mysteriöse Schönheit kam federnd auf einem noch intakten Teil des Holzbrettes auf und tänzelte instinktiv einen Schritt nach vorne, woraufhin auch das bedrohliche Knarren und Quietschen der alten Konstruktion gnädig verstummte.

    Die Autorin lächelte ihr Gegenüber charmant und überlegen an, Thomas nahm dies grimmig hin, doch seine Bitterkeit wich aus dem Gesicht, als die Brasilianerin rasch auf ihn zueilte und ihre heißen Lippen fordernd gegen die des verwirrten Schotten presste. Thomas fühlte sich wieder wie elektrisiert und schloss mit einem angenehmen Stöhnen die Augen.

    In diese kurzlebige Idylle funkte Abdullah Gadua dazwischen, der ebenfalls in die Tiefe gesprungen war, ebenfalls auf einer intakten Platte aufkam, sich instinktiv über die Schulter abrollte und mit dem verschreckten Paar fast in Kollision geraten wäre. Spritzig und frisch richtete er sich auf, während Elaine und Thomas rasch und fast beschämt Abstand voneinander nahmen und ihrem Begleiter fast gleichzeitig die Hand reichten, um ihm aufzuhelfen. Abdullah zwinkerte den beiden wissend zu und trotz der so ernsten Situation, mussten alle drei Anwesenden herzhaft lachen. Außer ihnen waren alle anderen Gäste in der Bibliothek geblieben. Thomas fragte sich mit einem unbehaglichen Gefühl, was sie wohl bei ihrer Rückkehr erwarten würde.

    Abdullah Gadua klopfte sich Staub und Dreck von seinen edlen Anziehsachen und machte dann aber den ersten Schritt auf den kurzen Zwischengang zu, der direkt in ein kleines Gewölbe mündete, welches durch einige Petroleumlampen erhellt war, die nie völlig abzubrennen schienen. Ehrfürchtig sahen sich die drei Ankömmlinge in dem hohen Verließ um und betrachteten nachdenklich die hohen, rostigen und kalten Regale, in denen zahlreiche gebundene Bücher, Ordner und kleinere Kunstgegenstände standen.

    Direkt ins Auge fiel ihnen eine Art Schrein in der Mitte der überschaubaren und doch groß wirkenden Halle. Zwei schwere Holzschatullen mit Glasvitrinen und Sicherheitsschloss standen auf einer Art steinernem Podest. Beide waren durch eine hölzerne, geschnitzte Trennwand voneinander abgeschnitten.

    Neugierig trat Thomas näher und zitterte vor nervöser Anspannung. Angestrengt blickte er auf die gläserne Oberfläche, unter der zwei edle und eingebundene Bücher lagen, auf denen in verschnörkelter Schrift stand, dass diese Bücher die Testamente von der Schlossherrin und dem Schlossherrn beinhalteten.

    Noch viel überraschender war aber die Tatsache, dass eines der Schlösser weniger intakt war, als man vorher geglaubt hatte. Das Schloss zur Schatulle der am Grab ihres Vaters gestorbenen Schlossherrin verzeichnete einen kleinen, aber sehr feinen Riss. Zögerlich rüttelte Thomas an dem Schloss, das sofort aufsprang und ebenmäßig durchgesägt zu sein schien. Verwundert runzelte Thomas die Stirn. Wer könnte von dem Gang gewusst und ein Interesse an diesem Testament gehabt haben?

    Thomas hatte sofort eine Idee, klappte die Glasvitrine aus und entnahm daraus das durchaus schwere, gebundene Testament. Eifrig überschlug der schottische Polizist die ersten Seiten, bevor er auf ein relativ aktuelles Dokument stieß, dessen Papier versiegelt und noch klar und weiß war. Ein flüchtiger Blick auf das Datum bestätigte Thomas, dass das neue, geheimnisumwitterte Testament der Spanierin, erst vor etwas mehr als einem Monat neu notariell beglaubigt worden war.

    Viel interessanter als diese bestätigende Entdeckung war jedoch der Inhalt des Testamentes, der den triumphierenden Thomas in seiner Vorahnung bestätigte und ihm doch gleichzeitig Angst machte.

    Nervös wandte er sich zu seinen anderen Begleitern um, die ebenfalls ungläubig auf das Papier starrten und Thomas dann aufgeregt zunickten. Sie alle mussten die Entdeckung zunächst verdauen, bevor sie darüber sprechen und Schlüsse ziehen konnten.

    Schließlich war es die gewohnt forsche Elaine Maria da Silva, die das Thema wieder aufgriff und Thomas dabei eindringlich und seltsam ernst ansah.

    „Dieses Dokument könnte in der Tat der Schlüssel zu einer unglaublich komplexen Verschwörung sein. Damit hätte ich nicht gerechnet!“, bemerkte sie und blickte ihre männlichen Begleiter erwartungsvoll an.

    „Diese Sache gibt dem, was bisher geschehen ist, möglicherweise eine ganz neue Dimension.“, pflichtete Abdullah der schönen Autorin bei.

    Lediglich Thomas reagierte zögernd und besah sich die Entdeckung noch einmal genauer, bevor auch er die Inhalte vorsichtig und seine Worte behutsam während thematisierte.

    „Hier haben wir es tatsächlich schwarz auf weiß. Magdalena Osario enterbt ihren Gatten von allen familiären Erbgütern, abgesehen von dem Schloss selbst und dessen Grundbesitz und überträgt alle Erbstücke, das Geld und die Kunstobjekte ihrem Geliebten Björn Ansgar Lykström. Die Werte dieser Erbschaft werden notariell auf etwa fünf bis sechs Millionen Pfund geschätzt.“, zitierte Thomas ein wenig aus dem Testament.

    Abdullah blickte erst den schottischen Polizisten, dann seine brasilianische Partnerin und dann das Testament an, als ob sie für ihn bedrohliche oder weltfremde Objekte wären. Dann nickte er grimmig und entschlossen und ein unheimliches Flackern huschte kurz durch seine verklärten Augen. Thomas hatte dies schon bei dem fanatischen Gwang-jo bemerkt, wenn er mit diesem einige Wörter gewechselt hatte und dieser unheimliche Wiedererkennungseffekt verursachte ihm jetzt schon böse Bauchschmerzen und eine ängstliche Vorausdeutung auf eine kommende Eskalation. Die harten Worte seines Begleiters bestätigten die unheilvolle These nur noch.

    „Fünf Millionen Pfund sind wohl ausreichend, um an Macht zu gewinnen, alle Mitwisser auszuschalten und gegen die Gesetze der Vernunft, Liebe und Moral zu handeln. Björn Ansgar Lykström hat auf mich schon immer suspekt gewirkt. Es wird endlich Zeit ihn in die Opferrolle zu schieben und den Spieß des Spiels um Leben und Tod umzudrehen.“, murmelte Abdullah Gadua mit gepresster Stimme, schickte dieser ein böses Lachen hinterher und wandte sich bereits von dem dunklen Verlies, das ihm gar nicht behagte, mit neuer und wütender Entschlossenheit wieder ab.

    „Abdullah, warte noch! Eine übereilige Reaktion macht nur noch alles viel schlimmer!“, mahnte die Brasilianerin und streckte ihre Hand nach dem Arm des Schweden aus, doch dieser blockte ihren Griff grob ab und funkelte sie kalt an.

    „Schlimmer als es jetzt ist kann es gar nicht mehr kommen.“, urteilte er mit harter Stimme und wandte sich mit strammen Schritt von seinen beiden Begleitern ab.

    Thomas und Elaine Maria da Silva sahen sich bedeutungsschwanger an. Stöhnend verstaute der junge Polizist nach einem kurzen Zögern und letzten aufmerksamen Blick das Buch mit der testamentarische Darstellung wieder in der Vitrine, während seine Partnerin bereits dem wutschnaubenden Abdullah Gadua hinterhereilte, der in diesem Moment auf die Öffnung an der Decke im anderen Raum zusprang und sich elegant und rasant wieder in den alten und instabilen Gang zurückzog, um diesen zu durchqueren und im Gefühl des Racheverlangens wieder zur illustren Gästeschar zu stoßen.

    Thomas nahm sich trotz der brenzligen Situation allerdings noch die Zeit auch nach dem testament des toten Österreichers zus ehen, doch seine Schatulle war mehrfach verschlossen und unangetastet geblieben. Es hatte sich darauf gar eine dicke Staubschicht gelegt. Thomas schloss daraus, dass der Direktor im Todesfall sein erbe vermutlich ganz normal auf seine spanische Frau übertragen hätte. Da nun beide tot aren, erachtete der schottische Polizist dies allerdings eher als unwichtig.

    So wandte auch er sich endlich von den Vitrinen ab, warf noch einen Blick durch die Höhle, in der alte Zeitungen, Dokumente, Aktenordner und sogar alte Gesellschaftsspiele, sowie ein verfallener Billardtisch gelagert waren.

    Thomas riss sich von dem Anblick los, als er den fordernden Ausruf seiner brasilianischen Partnerin hörte. Da wusste er, dass er keine Zeit mehr zu verlieren hatte und seine Benommenheit war wie von Geisterhand auch zu dieser ungewöhnlichen Uhrzeit wieder verschwunden.

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    Kapitel 87: Samstag, 04 Uhr 10 Archive

    Der junge Schotte eilte jetzt seiner neuen Partnerin hinterher und ein ungutes Gefühl breitete sich dabei in seinem Magen aus, während ihm der Schweiß in den stickigen Katakomben aus allen Poren rann. Thomas fürchtete, dass bei Abdullah nun ebenfalls alle Sicherungen durchgebrannt waren und fragte sich bange, wann es wen als Nächstes treffen würde. Die Situation wurde immer bedrohlicher und komplexer und es fehlte in der Gruppe an einem kühlen Kopf, der die Dinge unter Kontrolle halten konnte. Mamadou und Thomas versuchten sich zwar in dieser Rolle, doch auch sie hatten verständlicherweise nur mäßigen Erfolg, denn selbst mit Mamadou war eine langsame und seltsame Veränderung vorgegangen, die Thomas noch nicht vollends verstand.

    Abdullah Gadua war inzwischen wieder in den baufälligen Schacht gekrochen, der hinter der Stelle seines Einsturzes zu einer Röhre geführt hätte, die sie direkt seitlich in das Archiv gebracht hätte. Der schmale Gang lag in einer schattigen Nische nahe dem kurzen Verbindungsgang, den Thomas jetzt mit großen Schritten durchquerte.

    Elaine Maria da Silva hatte sich mit einem erstaunlich sportlichen Klimmzug fast wieder in den Schacht gezogen. Thomas eilte heran, als er merkte, dass die Brasilianerin mit der letzten Koordination noch Schwierigkeiten hatte. Energisch griff er ihr an die Hüften und drückte seine Partnerin weiter in die Höhe. Seine Hände rutschten dabei ein wenig nach oben und streiften das wohl geformte Gesäß der Brasilianerin, die jetzt in den flachen Gang hineinkroch und sich zu ihrem Helfer umwandte.

    Thomas sprang mit keuchendem Atem zur Öffnung, bekam den zersplitterten Holzrand der Öffnung zu fassen, wobei sich ein Splitter geräuschvoll in seine Hand bohrte. Thomas zuckte zusammen und verzerrte qualvoll das Gesicht, als ein dicker Blutstropfen aus der Wunde hervorquoll und in die Tiefe tropfte. Der Schmerz zwang ihn fast dazu loszulassen und erneut in die Tiefe zu fallen. Sein Körper zitterte schon und der schottische Polizist biss die Zähne zusammen und versuchte Stärke zu zeigen.

    Da ergriff Elaine Maria da Silva seinen verletzten Arm und zog Thomas mit einer ungeheuren Kraftanstrengung entgültig zurück in den Gang. Mit ihrer zweiten Hand griff sie nach dem Hemd des Schotten und zerrte ihn somit noch höher. Thomas Jason Smith kletterte nun auch selbst noch ein Stück und sackte schließlich schnaufend und völlig erschöpft in dem Gang zusammen. Die Brasilianerin streichelte ihm kurz durch die Haare, verlor ihre Zeit jedoch nicht mit romantischen Spielereien und wurde plötzlich sehr energisch.

    „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Lass uns hoffen, dass der Vorsprung noch nicht zu groß ist.“, bemerkte die Brasilianerin, wandte sich um und kroch wendig und schnell wie eine grazile Schlange durch den engen Gang und bewegte dabei ihr Gesäß aufreizend hin und her.

    Thomas war von der neuen hilfsbereiten und energischen Seite der sonst so unnahbaren und mysteriösen Brasilianerin beeindruckt und bekam unwillkürlich wieder eine Gänsehaut. Er spürte eine seltsame Wärme in seiner Brust und spürte mit jeder Faser seines Körpers, dass er der mysteriösen Dame absolut verfallen war.

    Er zwang sich zur Konzentration und robbte nun, den Schmerz in seiner rechten Hand, in der das Blut pochend und dumpf aus der Wunde strömte, ignoriernd, krampfhaft weiter voran. Der Schotte wusste bereits, dass sein Weg ein langer und anstrengender werden würde, doch er wollte sich davon dennoch nicht demotivieren lassen.

    Nach einiger Zeit, in der er nur schleppend vorankam, war er es leid und riss sich die Splitter einzeln aus der Hand, was zwar sehr schmerzhaft war, ihn jedoch beim Kriechen weniger behinderte.

    Thomas hatte den Anschluss an die beiden Begleiter schon verloren und zwang sich zu noch größerer Anstrengung. Schweißgebadet kroch er die endlos lange Spirale in die Höhe und erreichte unter Schmerzen und Erschöpfung schrecklich wieder den Knick, der in Richtung des Kamins in der Bibliothek führte. Er war bereits an das diffuse Dunkel in dem dreckigen Gang gewöhnt gewesen, sodass das Licht ihn blendete und er nur sehr ungeschickt und irritiert weiter nach vorne kroch. Sein Körper war mit Staub und Spinnweben bedeckt, seine Wunde pochte pulsierend und sein Herz schlug so laut, dass dessen Geräusch sogar dumpf in seinem Schädel wiederhallte.

    Der schottische Polizist gab ein bemitleidenswertes, aber kämpferisches Bild ab, als er wieder in die Bibliothek stolperte, sich den Staub aus den Augen wischte und ächzend erhob.

    Langsam öffnete er die Augen und nahm gerade noch war, wie Abdullah Gadua, auf den alle Augen gerichtet waren, sich auf den schwedischen Lehrer stürzen wollte, der mit grimmiger Miene und erhobener Faust in Richtung des Speisesaals zurückgewichen war. Abdullah hatte instinktiv einen soliden Kerzenständer ergriffen, der neben ihm auf einem kleinen Tisch stand. Mamadou hatte gar nicht mehr die Gelegenheit seine Waffe zu ziehen, sondern versuchte sich gedankenschnell zwischen die beiden neuen Kontrahenten zu stellen.

    Es war wohl eher Zufall, dass Abdullah Gadua im selben Moment angriffsbereit den Arm erhoben hatte und wutschnaubend nach vorne lief, als der Ghanaer im letzten Moment entschieden mit seinem robusten Körper in seine Laufrichtung sprang, sich dabei noch ächzend zur Seite drehte und dabei wuchtig mit dem Kerzenständer in Berührung kam, der ihn kurz und trocken am Hinterkopf traf. Der Afrikaner verdrehte die Augen und sank unmittelbar zusammen. Wie ein nasser Sack fiel er in sich zusammen und lag benommen auf dem Bauch auf einem der alten Teppiche.

    Abdullah Gadua stockte in seinen Angriffsbemühungen und blickte den Kerzenständer in seiner Hand wie einen unheilvollen und ihm völlig fremden Gegenstand an. Mit einem verschreckten Schaudern ließ er die Waffe fallen, als ob sie plötzlich glühend heiß geworden wäre. Dumpf schlug die Waffe neben dem regungslosen Mamadou auf. Seinen ursprünglich geplanten Angriff vergaß Abdullah mit einem Mal, sackte ebenfalls in sich zusammen und kroch kopfschüttelnd und entsetzt auf sein versehentliches Opfer zu.

    Aus den Augenwinkeln herausbemerkte Thomas, dass selbst Marilou bei dieser Reaktion verwundert den Kopf schüttelte und abfällig lächelte. Björn Ansgar Lykström war ebenfalls sowohl perplex, als auch erleichtert, da er einem brutalen Konflikt durch einen unglücklichen Zufall noch einmal ausgewichen war.

    Thomas verließ seine Beobachterrolle und eilte ebenfalls auf seinen bewusstlosen Kollegen zu. Sanft, aber bestimmt drängte er den ängstlich schwitzenden Abdullah zur Seite, der wie ein schuldbewusstes Häufchen Elend wirkte. Seine wütende Entschlossenheit war einer fast infantilen Hilflosigkeit gewichen.

    „Pack mit an! Wir tragen ihn dort hinten auf die Couch!“, befahl Thomas dem nervösen Täter, der zunächst eifrig, dann aber wieder benommen nickte und erst nach nochmaliger Aufforderung auch wirklich zur Hilfe eilte.

    Mit zitternden Händen drückte er den Körper des robusten Afrikaners in die Höhe, während Thomas trotz seiner Verletzung kräftig anpackte und seinen verletzten Kollegen mit verbissenem Gesicht ebenfalls in die Lüfte stemmte. Gemeinsam trugen die beiden ihn, von den anderen Gästen nur staunend oder neugierig angestarrt, zu der nächsten Couch, wo Thomas seinen Kollegen in eine stabile Seitenlage bettete. Erleichtert stellte er fest, dass der Puls noch in vollem Gange war, doch der schottische Polizist bemerkte mit ungutem Gefühl die riesige, dunkle Beule, die sich bereits jetzt am Hinterkopf des eher kahlen Ghanaers gebildet hatte und einen gelblich-orangenen Farbton hatte. Wenigsten war die dünne Kopfhaut aber nicht aufgeplatzt und sein Kollege hatte kein Blut verloren.

    Aufgeregt suchte Thomas nach einer Möglichkeit diese Wunde zu kühlen und kam tatsächlich zu einem Entschluss, während die restlichen Gäste sich nun doch in einem Halbkreis um den Verletzten scharten.

    „Ich werde jetzt in die Küche gehen und dort nach Eis suchen. Vielleicht finde ich dort auch eine Art Handtuch, sodass wir seine Wunde kühlen können. Gleichzeitig hole ich noch eine Flasche Wasser. Behaltet meinen Kollegen solange im Auge!“, mahnte Thomas und sah das mechanische und monotone Nicken der meisten Gäste.

    Ohne länger darüber nachzudenken eilte der junge Polizist durch das offenstehende Portal in den düsteren Speisesaal. Trotz der bereits frühen Morgenstunde konnte er keinen Sonnenstrahl der aufgehenden Sonne erkennen. Der Wolkenvorhang war immer noch völlig dicht, der Regen prasselte monoton gegen die großen Scheiben. Im diffusen Licht erblickte Thomas im naheligenden Garten sogar einen umgeknickten Baum, der in der Nähe der Vogelhäuser lag. Die Vegetation hatte ihren Tribut an die tagtäglichen Stürme gezollt, die fast schon Ausmaße einer Naturkatastrophe annahmen.

    Thomas wollte bereits weiter in Richtung Küche gehen, als er in der Nähe jenes Baumstamms plötzlich einen dunklen Schatten bemerkte, der sich langsam und irgendwie humpelnd auf das Schloss zu bewegte. Thomas kniff die Augen zusammen und ein heißer Schreck zuckte durch seine Glieder, als er die zottelige Gestalt zu erkennen glaubte.

    Es handelte sich zweifellos um den gespenstischen Wolf, den der Butler erschossen oder schwer verletzt haben wollte. Doch das Tier war am Leben und hatte wohl nun auch gemerkt, dass es beobachtet wurde. Sein kalter, grauer Blick traf Thomas bis ins Mark und er schauderte, als er an seine bisherigen Begegnungen mit diesem scheinbar unbesiegbaren Biest dachte.

    Kaum hatte er diesen Gedankengang zu Ende geführt, als sich der Wolf abwandte und auf die uneinsehbare Rückseite des Schlosses zulief. Trotz der gedrückten Stimmung und der brisanten Ereignisse war Thomas heilfroh, dass er in diesem unheilvollen Schloss eine Art Refugium gefunden hatte, das ihn vor dem unbarmherzigen Wetter und dem mordlustigen Wolf schützte.

    Thomas fühlte sich unbehaglich ertappt, als er merkte, dass seine Gedanken abschweiften und er den eigentlichen Grund seiner Eile fast vergessen hätte. Schuldbewusst wandte er sich von den Scheiben ab und rannte im Halbdunkel in Richtung der Küche, wo vor wenigen Stunden noch das letzte Opfer zu beklagen gewesen war. Man hatte den toten Fatmir Skola provisorisch weggeschafft und auch in der Bibliothek hatte Thomas den Körper nicht mehr gesehen. Er vermutete, dass sein Kollege, während seiner Abwesenheit im Geheimgang zu dem Aufbewahrungsort der Testamente, einige Leute dazu aufgefordert hatte die Leiche zu den anderen Opfern zu schaffen, die man allesamt in einen kühlen Raum am Eingang des Kellers gelegt hatte. Dort befanden sich auch zwei Särge, in denen die ersten Opfer lagen, doch die anderen hatte man einfach nur daneben legen können, sodass der Raum wie ein makabres Massengrab wirkte. Der Gedanke daran ließ Thomas erschaudern, doch er musste innerlich zugeben, dass diese Lösung besser war, als wenn man die Toten an Ort und Stelle hätte liegen lassen. Er versetzte sich in die Rolle der Gäste, welche die Opfer hatten tragen müssen, doch diese unangenehme Arbeit war immer noch besser, als fortwährend in einem Raum mit einem Toten zu sitzen, der vor kurzem noch sehr lebendig gewesen war. Trotz seines Berufes als Polizist hatte Thomas eine gewisse Angst vor Leichen und spürte bei deren Anblick in der Pathologie beispielsweise immer eine lähmende Kälte.

    Endlich erreichte der Schotte die Küche, umging den Raum mit der schweren und grauen Gasflasche, die immer noch an Ort und Stelle lag, und trat stattdessen auf einen kleineren Gefrierschrank zu, den er aufriss. Ein dumpfes Summen schlug ihm entgegen. Thomas fand einige Eiswürfel in einem Fach und sah an einer kleinen Spüle ein feines, weißes Handtuch, welches er sich über die Schulter warf. Eilig erstellte er einen improvisierten Kühlbeutel, beäugte sein Ergebnis kritisch und war doch notdürftig zufrieden. Energisch nickend schlug er den surrenden Gefrierschrank zu und eilte wieder schleunigst aus der Küche heraus, in der er sich sehr unwohl fühlte, zumal er an diesem Ort selbst vor wenigen Stunden um sein Überleben gegen den durchgedrehten Koreaner gekämpft hatte. Mit fast jedem Ort im Schloss und auf der Insel verband Thomas inzwischen bestimmte unangenehme Erinnerungen, die ihn beinahe wie Traumata zu verfolgen schienen. Er fragte sich ernsthaft, ob er sich jemals wieder von diesen Ereignissen erholen würde und sich in psychiatrische Behandlung geben müsste, falls er die nächsten Stunden überhaupt überleben könnte.

    Mit raumgreifenden Schritten eilte der missmutige Polizist zurück in die Bibliothek und sah einige Gäste besorgt über den Ghanaer gebeugt. Mürrisch eilte Thomas heran, drängte die Gäste beiseite. Rasch presste er den Eisbeutel an die immer stärker anschwellende Wunde am Hinterkopf des Afrikaners, die wie ein überdimensionaler Bluterguss aussah. Mamadou war noch immer bewusstlos und Thomas musterte seinen Kollegen besorgt. Er fragte sich auch wieder, warum sein Kollege sich zuletzt so seltsam benommen hatte.

    Thomas führte diesen Gedanken nicht weiter aus, da dieser durch eine Entdeckung abrupt unterbrochen wurde. Erschrocken fuhr der Schotte zusammen, fixierte eine bestimmte Stelle am Körper des Ghanaer und zwinkerte mit den Augen, um sich zu versichern, ob er nicht auf Grund seiner Erschöpfung und der unmöglichen Uhrzeit einer Sinnestäuschung erlegen war. Nervös klopfte er den Körper, vor allem auch die Taschen der Hosen und Hemden an dem Körper des Bewusstlosen ab und wandte sich dann mit steinerner Miene zu den Gästen, die ihn in Erwartung einer weiteren Hiobsbotschaft beunruhigt ansahen. Thomas nahm das Verhalten der einzelnen Anwesenden in Sekundenbruchteilen auf, bevor er mit der Sprache endlich herausrückte.

    „Wer von euch hat die Waffe meines Kollegen in meiner kurzen Abwesenheit an sich genommen?“

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