•  Kapitel 68: Freitag, 17 Uhr 22, Kellergewölbe

     

    Magdalena Osario und Elaine Maria da Silva waren der Gruppe vorausgegangen und hatten sich bereits schnell einer weiteren unscheinbaren Treppe zugewandt, die in der Nähe des Weinkeller in einen Nebentrakt führte, in dem es bereits übermäßig nach Fisch und brackigem Wasser roch. Nach wenigen Minuten erreichte die Gruppe einen langen Gang, der trotz einiger schwach erhellter Glühbirnen, die den allgemeinen Stromausfall scheinbar überstanden hatten, düster wirkte. Drei große Bottiche, die jeweils durchsichtig und mit soliden Gittern versperrt waren, befanden sich auf der linken Seite, während auf der rechten Seite einige Schränke standen, in denen man Taucherausrüstungen finden konnte. Weiter im Hintergrund befand sich ein offen stehender großer Gefrierschrank, aus dem es erbärmlich nach Fisch stank.

    Selbst Thomas, der nicht gerade sehr empfindlich war, fühlte sich von dem penetranten Geruch angeekelt und hielt sich so weit wie möglich die Nase zu. Hinter ihm reagierte Marilou Gauthier mit einem Würgen auf die unangenehme Atmosphäre und sank zuckend zusammen. Ihr Mann beugte sich hilfsbereit zu ihr herunter und half der Frankokanadierin wieder auf die Beine, begleitete sie aber nach einem kurzen Blickkontakt mit Mamadou aus dem Trakt heraus und zurück in den Hauptgang des Kellers, in dem zwar eine klaustrophobische Enge herrschte, allerdings kein Gestank mehr herrschte.

    Die restlichen Gäste folgten nach diesem kurzen Zwischenfall den beiden Damen, die sich im Keller gut auskannten. Von dem Schlossherrn fehlte aber auch in diesem Bereich des Schlosses jede Spur. Allerdings bemerkte Magdalena Osario, dass ihr Mann den stinkenden Gefrierschrank sonst nie offen stehen ließ und überhaupt sehr auf Ordnung bedacht war. Nachdenklich teilte die Spanierin ihre Gedankengänge mit, als Elaine Maria da Silva plötzlich spitz aufschrie und fast schon angeekelt auf den letzten der drei Bottiche zeigte, in dem drei Haie gemächlich ihre Runden zogen und die Ankömmlinge aus kalten und diabolischen Augen fixierten.

    Thomas trat näher an den Behälter heran und wich sofort wieder zurück. Was er nun zu sehen bekam, übertraf eigentlich seinen Verstand. Der grauenhafte Anblick stand dem des entstellten Körpers der gekreuzigten Religionswissenschaftlerin vom Morgen in nichts nach.

              Der Schotte sah in dem Behälter einen völlig zerfressenen Leichnam und einige blutrot getränkte, zerfetzte Kleidungsstücke, die wie leblose und trostlose Todesboten träge auf der Wasseroberfläche schwammen.

     Noch schlimmer allerdings war der Anblick des aufgequollenen und vom Rumpf abgetrennten Kopf des Direktors, der wie ein lascher Korken an der Oberfläche trudelte. Die Augen waren weit geöffnet, wirkten starr und dennoch erschreckend lebendig, da in dem glasigen Blick noch der Schrecken des Todesmomentes geschrieben stand.

     Am Rande des überdimensionalen Behälters, der am Seitenrand mit der Nummer 63 beschriftet worden war, schwamm der Torso und Thomas erspähte dort auch die nackten Arme des Professors, wobei die Hände mit einer Handschelle aneinander gekettet worden waren, sodass Doktor Wohlfahrt seinen Tod durch die animalische Fresswut der drei Haie in aller Hilflosigkeit hatte miterleben müssen.

    Thomas wandte sich kopfschüttelnd ab, doch Fatmir hatte den Anblick weniger gut überstanden, hatte sich ironischerweise über den zweiten Behälter, der von oben mit einem feinmaschigen Gitter abgedeckt war und in dem lediglich ein Hai schwamm, gebeugt und übergab sich geräuschvoll. Niemand machte ihm dies zum Vorwurf, denn alle Anwesenden hatten ausnahmslose bleiche Gesichter bekommen und waren völlig entgeistert. Niemand nahm von den anderen Begleitern mehr Notiz, die Szenerie wirkte auf makabre Art und Weise wie eingefroren, in einer Mischung aus Ekel und Faszination. Selbst die sadomasochistisch veranlagte Elaine Maria da Silva, die gewiss kein Kind von Traurigkeit war, hatte sich verschwiegen in eine schmale Nische hinter einem Haufen von Taucherausrüstungen gehockt und war trotz ihres bräunlichen Teints bleich geworden und nagte nervös an ihren schwarz lackierten Fingernägeln.

    In diesen Posen verharrten die Gäste sekundenlang, später minutenlang und beinahe schon stundenlang, denn die Zeit hatte jedwede Bedeutung völlig verloren. Der Aufschrei von Magdalena Osario ließ alle Anwesenden zusammenschrecken und aus ihrer fast schon magischen, hypnotischen Erstarrung aufwachen.

    „Wie könnt ihr so ruhig hier sitzen bleiben und schweigen? Tut doch etwas, stoppt dieses Abschlachten, dieses sinnlose Morden! Es muss doch irgendeinen Zusammenhang geben. Was ist der Grund? Wo zur Hölle ist das Muster?“

    Kaum hatte Magdalena Osario diese Worte gesprochen, als Thomas urplötzlich ein Licht aufging. Er war von dieser Geisteseingebung selbst so überrascht, dass ihm sogar der Atem stockte und er sich verwunderte schüttelte. Es war, als ob er aus einem dunklen und tiefen Schlaf erwacht wäre, um einem hellen und klaren Licht entgegen zu fliehen.

    Mit einem Mal machten die vorher noch konfusen Dinge für ihn einen Sinn. Er dachte angestrengt nach, ging jedes Detail der Toten durch, deren Todesart er sich praktisch fotografisch eingeprägt hatte. Mit einer Mischung aus Erregung und Erstaunen wurde er von seinem Einfall immer überzeugter.

    Die anderen Gäste hatten die innere Unruhe des Schotten bemerkt, der völlig in sich vertieft war, verständnislose Phrasen vor sich hermurmelte und dabei sogar mit seinen Händen wild gestikulierte. Schließlich besann sich der junge Polizist und ließ den restlichen Teil der Gruppe voller Eifer und Stolz an seinen noch ungenannten Entdeckungen teilhaben.

    „Ich glaube, dass ich das Muster durchschaut habe!“, sprach Thomas triumphierend und mit einem Mal herschte eine gespannte und beinahe schon ehrfurchtsvolle Stille im düsteren Kellergewölbe.

    Lediglich das plätschernde Wasser, verursacht durch die gierigen und nervösen Haie, die mit gierigen Mäulern und erbarmungslosen Blicken unruhig um den Leichnam des zerfetzten Direktors trieben, sorgte für eine hektische Untermalung der erwartungsvollen Stille.

    „Das will ich doch stark bezweifeln. Es gibt nicht besonders viel zu durchschauen. Der Butler ist der Mörder und wenn wir ihn nicht finden, dann geht das Gemetzel weiter, ich sage es euch!“, propagierte Gwang-jo hochnäsig dazwischen.

    „Spannen Sie uns nicht auf die Folter, Thomas, heraus mit der Sprache!“, herrschte Magdalena Osario Thomas an, als sie bemerkte, dass dieser die Kunstpause für sich ausnutzen wollte, obwohl Überheblichkeit sonst gar nicht seine Art war.

    Der junge Schotte war jedoch von einer seltenen fiebrigen Energie erfüllt, die er noch nicht richtig verarbeiten konnte. Alles schien ihm nun klar und die Aufklärung der Mordserie nicht mehr fern. In diesen Momenten reagierte der Schotte nahezu naiv und dachte in seiner Ekstase gar nicht mehr daran, dass auch der potentielle Mörder selbst anwesend sein und gewisse Schlüsse oder Modifikationen aus dem Plädoyer des jungen Polizisten ziehen könnte. Sein Kollege Mamadou hatte bereits beschwichtigend die Arme erhoben und trat auf seinen schottischen Kollegen zu, doch dieser hatte bereits unbeherrscht angefangen seine Standpunkte zu äußern, sodass es für eine verschwiegenere Taktik nun zu spät war.

    Auf der anderen Seite dachte sich Mamadou, um sich selbst ein wenig zu beruhigen, dass das geteilte Wissen um eine mögliche Taktik des Täters jedem Anwesenden zukünftig von Nutzen sein und ein wenig Ordnung in die diabolische Hektik auf dem unheilseligen Schloss bringen könnte.

    „Der Täter spielt mit uns Katz und Maus und legte seit dem ersten Mord immer verdeckte Fährten, die auf die Urzeit des nächsten Mordes hinwiesen. Außerdem bringt der Täter auch immer abwechselnd einen Mann und dann eine Frau um. Das soll heißen, dass nach dem Tod des Direktors besonders die Leben von Magdalena Osario, Marilou Gauthier und Elaine Maria da Silva in höchster Gefahr sind. Ich bezweifle, dass der Täter mit diesen Ketten oder Methoden bricht, denn dafür ist er zu perfektionistisch, zu sehr überzeugt von der Kunst seines Tötens.“, erläuterte Thomas und blickte die restlichen Anwesenden erwartungsvoll an.

    Die beiden in diesem Teil des Kellergewölbes verbliebenen Frauen blickten sich angstvoll an und waren fast schon bleich geworden. Vor allem Magdalena Osario stand unter einem ziemlichen Schock, wirkte nervös, fahrig und zeitweilig auch geistesabwesend. Sie war es auch, die unvermittelt eine rasche Frage einwarf, nur um das für sie unangenehmere Thema zu verdrängen und auf einen anderen Aspekt einzugehen.

    „Der erste Teil mit den Uhrzeiten leuchtet mir nicht so ganz ein.“, murmelte die schöne Spanischlehrerin, die in den letzten drei Tagen optisch und mental um fast zehn Jahre gealtert zu sein schien.

    „Das werde ich Ihnen gerne ausführen. Das erste Opfer war Malcolm. Er erhielt kurz vor seinem Tod ein Fußballtrikot, von dem er glaubte, dass Jeanette es ihm geschenkt habe. Er trug das gute Stück am ersten Abend, als er Dudelsack spielen wollte. Erinnert sich jemand an die Rückennummer des Trikots?“, hakte Thomas nach und kam sich fast schon wie ein Lehrer dabei vor.

    Einige der Anwesenden sahen sich nachdenklich an, bevor Björn Ansgar Lykström, der sich damals ebenfalls als einer der ersten um den Sterbenden gekümmert hatte, behutsam das Wort ergriff.

    „Wenn ich mich recht entsinne, dann trug sein Trikot die Rückennummer 10.“, murmelte der Schwede nachdenklich.

    „Sehr richtig. Das nächste Opfer war dann Jeanette mit den vergifteten Pralinen. Wann genau starb sie?“, wollte Thomas wissen und blickte in größtenteils ratlose Gesichter. Manche Anwesenden wirkten geradezu ungehalten bezüglich des überlegenen Fragespiels zwischen Thomas und den anderen Gästen.

    „Es war jedenfalls am Vormittag.“, gab Björn Ansgar Lykström schulternzuckend zu Protokoll und hoffte auf eine präzisere Ergänzung, die von seiner Geliebten folgte, die ihren Kopf nach hinten gegen seine Brust geschmiegt und die verweinten Augen geschlossen hatte.

    „Es war genau morgens um zehn Uhr. Zu der Zeit wird im Schloss immer gefrühstückt.“, erläuterte die Spanierin, ohne dabei ihre Augen zu öffnen oder aus ihrer starren Pose zu erwachen.

    „Richtig. Meine bescheidene Theorie ist nun, dass die Trikotnummer die Todesuhrzeit im Voraus angekündigt hat.“, fuhr Thomas eifrig fort.

    „Das ich nicht lache. Das könnte auch purer Zufall gewesen sein.“, bemerkte Fatmir kritisch.

     „Dieses Gerede ist hanebüchener Unsinn. Anstatt unsere Zeit mit pseudointellektuellen und tiefenpsychologischen Taktiken zu vergeuden, sollten wir uns endlich aufraffen und dem Ganzen ein Ende setzen!“, forderte Gwang-jo Park erneut.

    „Meine Theorie trifft aber auch in allen anderen Fällen zu. Jeanette hatte vor ihrem Tod einen Strauß Blumen bekommen. Es handelte sich dabei um exakt 15 Rosen. Ich hatte dies bereits zu Beginn bemerkt und mich immer gefragt, ob diese Anzahl eine bestimmte Bedeutung hätte. Dies ist tatsächlich der Fall, denn Hamit Gülcan, der nächste Tote, starb am nächsten Tag gegen 15 Uhr an der präparierten Yacht des Direktors.“, bemerkte Thomas und sah erstmals ein verständnisvolles Nicken unter den Anwesenden und einen anerkennenden, positiven Seitenblick seines afrikanischen Kollegen.

    Lediglich der Koreaner war immer noch nicht zufrieden gestellt und versuchte krampfhaft jedem der Anwesenden die Theorien des schottischen Polizisten als unrealistisch und weltfremd darzustellen. Doch er bekam mittlerweile nur noch wenig Gehör, was ihn sofort ärgerte und sein Gesicht zu einer provokanten Fratze verziehen ließ.

    „Eine tolle Theorie. Zur Zeit der Explosion schwammen sicher genau elf Fische an der Küste.“, entgegnete der Koreaner hämisch und wollte die Theorie des aufgeweckten Schotten nun ins Lächerliche ziehen.

    „Gwang-jo, du hast so eine tolle Auffassungsgabe, du solltest Polizist werden. Dein Scharfsinn sucht seinesgleichen, deine Fairness und Objektivität sind nicht zu übertreffen. Tatsächlich liegt die Lösung nicht so weit davon entfernt. Erinnert sich jemand an den Namen der zerstörten Yacht?“, wollte Thomas wissen, nachdem er sich den gehässigen Konter nicht verkenifen konnte. Sofort wurde er von der nun alleinigen Schlossherrin unterbrochen.

    „Die Yacht nannte er scherzhaft Batavia 3-11.“, bemerkte Magdalena Osario.

    „Wenn ich dies richtig deute, lieber Kollege, dann war dies die Ankündigung zu der grausigen Kreuzigung um elf Uhr am nächsten Morgen.“, mutmaßte Mamadou.

    „Richtig, Herr Kollege. Die Zahl drei stand für den nächsten, den insgesamt dritten Tag auf dieser Insel. Wenn wir uns jetzt noch den entsetzlich zugerichteten Körper der italienischen Religionswissenschaftlerin ins Gedächtnis rufen, dann wird sich fast jeder hier daran erinnern, dass ihr nicht nur Einsenpfähle durch Arme und Beine, sondern auch ein fünfter durch die Mitte des Körpers gestoßen worden war, was bei klassischen Kreuzungen früher völlig unüblich war. Die Kreuzigung mit fünf Pfählen deutete das voraus, was wir jetzt gerade erlebt haben. Der Schlossherr ist kaltblütig in das Haifischbecken gestoßen worden, nachdem man ihm Handschellen angelegt hatte. Das Ganze wird hundertprozentig gegen fünf Uhr nachmittags stattgefunden haben.“, beendete Thomas seine Erläuterungen und genoss den Moment des nachdenklichen Schweigens, während dem die Anwesenden selbst nachdachten oder Thomas anerkennend oder kritisch zunickten oder auch kritisch abwägend den Kopf hoben oder senkten. Selbst Gwang-jo Park war kurzfristig still geworden und hatte sich auf die Theorie eingelassen.

                „Angenommen, dieser konfuse Bockmist würde tatsächlich stimmen, dann müssten wir hier ja auch ein Zeichen dafür finden, wann es den Nächsten von uns trifft!“, stellte der Koreaner fest und löste mit dieser Bemerkung eine hektische Kettenreaktion aus.

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  •  Kapitel 69: Freitag, 17 Uhr 41, Kellergewölbe

     

    Unter den Gästen brach eine Mischung aus Panik und Forschungsdrang aus und jeder suchte plötzlich krampfhaft nach irgendwlechen angeblichen Indizien, so als ob sie alle erfahrene Polizisten wären. Der vorher noch totenstille Korridor war nun von hektischen Stimmen erfüllt, die sich angeregt über irgendwelche Theorien unterhielten. Die Worte von Thomas und die Bemerkung von Gwang-jo hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.

     Thomas fühlte sich jedoch fast unwohl in seiner Haut, als er das hektische Treiben um sich herum sah. Hätte er seine Vermutungen den Gästen überhaupt mitteilen sollen? Würde der Mörder jetzt vielleicht doch seine Taktik ändern? Würde jetzt sogar noch mehr Panik ausbrechen und Thomas eine gegenteilige Wirkung verursachen, als die, die er sich zunächst erhofft hatte? Er fühlte sich schuldig, hatte einen Kloß im Hals und schalt sich einen Narren, dass er seine Gedankengänge so übereifrig mitgeteilt hatte. Am liebsten wäre der engagierte Schotte sofort im grabeskalten Kellerboden versunken.

    Erst nach einigen Augenblicken des stillen Haderns widmete er seine Aufmerksamkeit wieder den angeregten Diskussionen unter den Gästen.

     „Die Sache ist offensichtlich. Das nächste Opfer wird um drei Uhr nachts sterben. Es befinden sich genau drei Haie in dem Becken und zu allem Überfluss ist es auch noch das dritte Becken hier unten.“, erläuterte Abdullah Gadua soeben, der fast unbemerkt mit seiner bleichen und kränkelnden Frau wieder zur Gruppe gestoßen war und den letzte Teil der Unterhaltung mitbekommen hatte. Auch er war zunächst schockiert gewesen, als er den grausig verstümmelten Toten in dem blutroten Haifischbecken gesehen hatte.

     Marilou hatte sich den Anblick erst gar nicht angetan und still und fast apathisch in eine Ecke des unheilvollen Gewölbes gesetzt, den Blick über ihre zusammengekauerten Knie hinweg auf ihre Fußspitzen gerichtet. Sie wirkte so, als ob sie einen kleinen Schock erlitten hätte oder sehr angestrengt am Nachdenken war.

    „Ich finde, dass sich die Theorie sehr logisch anhört.“, stimmte Björn Ansgar Lykström anerkennend zu.

    „Was ist denn, wenn wir falsch liegen? Wenn wir Vorbereitungen zum falschen Zeitpunkt machen und unmittelbar davor oder danach leicht angreifbar sind? Es könnte immerhin auch sein, dass man die Gesamtanzahl der Haie nehmen muss. Demzufolge wäre der nächste Mord erst um fünf Uhr morgens.“, hielt Fatmir dagegen.

    „Die Spekulationen führen uns mal wieder nicht weiter. Wir müssen unbedingt in Gruppen zusammenbleiben, ab sofort darf sich niemand mehr allein und frei bewegen, sonst riskiert er oder sie das Leben.“, mahnte Mamadou ausdrücklich.

    „Ich darf ja wohl hoffentlich noch wenigstens allein auf Toilette gehen. Oder wollen Sie mitkommen und mir den Arsch abputzen?“, begehrte Gwang-jo wieder einmal auf und zog den Unmut der anderen Gäste auf sich.

    „Um deinen Arsch wäre es ohnehin nicht schade.“, konnte sich Elaine Maria da Silva nicht verkneifen und wurde von dem Koreaner aus zusammengekniffenen Augen so erbarmungslos angesehen, als ob er sie am liebsten ebenfalls in eines der Becken gestoßen hätte.

    Es war wohl lediglich dem Umstand, dass vor wenigen Augenblicken eine Leiche entdeckt worden war zu verdanken, dass der misanthropische Asiat sich jetzt nicht auf die mysteriöse Brasilianerin stürzte. Diese wich einem weiteren Konflikt aus und wandte sich stattdessen lieber Thomas zu, der ein wenig abseits stand und die Leute genau beobachtete.

    „Ich finde es faszinierend, dass sie diese Zusammenhänge so gut bemerkt und analysiert haben. Vielleicht stehen wir jetzt am entscheidenden Wendepunkt.“, meinte die Brasilianerin mit einem gewinnenden Lächeln und einem hoffnungsvollen Glanz in ihren Augen. Ihre spöttische Art hatte sie gegenüber Thomas abgelegt und schien mit einem Mal viel Respekt vor ihm zu haben.

    „Das möchte ich hoffen.“, murmelte Thomas, der aus seinen Gedanken gerissen worden war und noch nicht ganz bei der Sache war.

    Erst jetzt nahm er die Brasilianerin bewusst war. Sie war wie immer dunkel geschminkt, trug einen kurzen schwarzen Rock und darunter eine strapsesartige Netzstrumpfhose, sowie recht hohe, lackbehaftete und metallische Stiefel, die ihr bis zu den Unterschenkeln gingen. Sie trug ein schwarzes Hemd mit einigen roten und blauen Farbtupfern, die fast an Blut erinnerten und in dieser Umgebung sarkastisch und makaber wirkten. Ihr Haar trug die Brasilianerin offen und ihre dunklen, schelmischen Augen blickten verheißungsvoll zum schottischen Polizisten und schienen auf bedrohliche Art und Weise bis in seine Seele eindringen zu wollen. Thomas bekam ein kaltes Schaudern und merkte, dass die Brasilianerin ihn unnatürlich nervös machte.

    „Wenigstens habe ich jetzt einen kompetenten Beschützer gefunden, der diesem Killer vielleicht ebenbürtig ist.“, murmelte die Brasilianerin verheißungsvoll und auch ihr Blick sprach Bände.

    Thomas fühlte sich gleichzeitig geschmeichelt, als auch angewidert und unwohl in seiner Haut. Mit diesen kontroversen Gefühlen war er noch nicht ganz ins Reine gekommen.

    Nervös stammelnd suchte er nach Worten und wurde noch unruhiger, als er das wissende und spöttische Lächeln auf dem Gesicht der Brasilianerin sah, die sich ein wenig zu ihm beugte und dabei einen tiefen Einblick in ihr dezentes, aber wirkungsvolles Dekollete gewährte.

    Thomas spürte den feurigen Atem, der über ihre zarten Lippen drang, auf seiner Wange und wandte sein Gesicht instinktiv ab. Er sträubte sich mit aller Vehemenz gegen seine Erregung, doch der junge Schotte hatte diesen Kampf schon längst verloren. Die mysteriöse Dame hatte ihn scheinbar simpel und eiskalt um den Finger gewickelt.

    „Ebenbürtig bin ich dem Mörder vielleicht noch nicht. Aber ich gebe mein Bestes. Dieses Grauen muss aufhören.“, warf Thomas rasch ein, um von seiner Unsicherheit abzulenken. Er war enorm dankbar, als in diesem Moment die Schlossherrin das Wort ergriff und Thomas somit vor weiteren, unangenehmen Berührungsmomenten bewahrte.

    „Der Aufenthalt hier unten macht wenig Sinn. Wir sollten nach oben zurückkehren und noch einmal gründlich alles aufrollen und unser weiteres Vorgehen gemeinsam besprechen. Außerdem wollte Thomas ja auch noch diesen ominösen Schrifttest durchführen. Möglicherweise hat er uns auch sonst noch etwas zu sagen.“, meinte Magdalena Osario kalt zu dem Schotten und spielte darauf an, dass dieser die Gäste nicht über die Ergebnisse und Entdeckungen der nachmittäglichen Exkursion in das Dickicht informiert hatte.

    Der Vorschlag der Spanierin wurde dankbar aufgenommen, denn alle Gäste fühlten sich unangenehm in dem kalten Kellergewölbe, welches sie mit fünf blutrünstigen Raubtieren, stinkenden toten Fischen und den Überbleibseln des ehemaligen Direktors und Gastgebers teilen mussten.

    Die Gruppe folgte der relativ kühl und herzlos gewordenen Spanierin, die sich selbst von ihrem Geliebten distanziert hatte und energisch und allein zurück in der Haupttrakt des Kellers eilte. Thomas vermutete, dass die Spanierin sich mit dieser Kälte und plötzlichen Entschlossenheit selbst ein wenig Mut, Stärke und Willenskraft zusprechen wollte. Ihr schwedischer Verehrer machte darüber jedoch eher einen verwirrten Eindruck und warf einen missmutigen Blick auf den Kadaver des Mannes seiner Geliebten, bevor er fast tranceartig mit Thomas zuletzt diesen Kellertrakt verließ.

    Gemeinsam stieg die Gruppe wieder die alte Treppe hinauf und gelangte nach wenigen Augenblicken in die Eingangshalle, die auch düster vor ihnen lag, nach der sterilen Kälte des Kellers aber fast schon anheimelnd wirkte. Grelle Blitze tauchten die Halle von Zeit zu Zeit wieder in ein wirres Licht, welches nur durch die Schatten einiger alter und verkrüppelter Bäume aus dem Vorgarten unterbrochen wurde.

    Plötzlich hörte Thomas ein krachendes Geräusch und zuckte herum. Alle Anwesenden blickten sich gegenseitig an und waren einigermaßen verwirrt. Plötzlich ertönte das düstere Krachen noch einmal und klang beinahe so wie das Geräusch einer Totenklaue, die monoton gegen eine innere Sargwand klopfte.

    „Das Geräusch kommt vom Eingangsportal her.“, bemerkte Abdullah und alle Blicke wandten sich wie auf Befehl dem angesprochenen Bereich zu.

    Das Tor wirkte solide und das Klopfen war nur düster zu hören. Durch das solide Holz konnte man nicht einmal erahnen, wer sich auf der anderen Seite befinden könnte. Das unheimliche Klopfen klang noch einmal auf und ließ allen Anwesenden erneut das Blut in den Adern gefrieren.

    Wie unter einem Zwang nahm sich Thomas der Sache an, schritt zaghaft und langsam auf das Eingangsportal zu und wirkte dabei wie ein apathischer Schlafwandler. Alle Augen waren kommentarlos auf ihn gerichtet und diese erwartungsvolle Stille zermürbte ihn. Der Schotte merkte deutlich, dass es ihm unangenehm war im Mittelpunkt zu stehen und als Held angesehen zu werden, doch gleichzeitig hatte er sich fast schon automatisch zu einer solchen Führungspersönlichkeit im Laufe der letzten Tage entwickelt, weil er seit dem Vorfall mit der Mafia sich geschworen hatte, nie wieder ein Verbrechen direkt oder auch indirekt zu verschulden und sich gegen jede Art von Kriminalität unter dem Einsatz seiner gesamten Kräfte aufzulehnen.

    Ein grell krachender Blitz, lauter noch als alle anderen zuvor, ließ ihn aus seiner Lethargie aufwachen und der Schotte ging nun zügiger auf das Eingangsportal zu und legte seine schweißnasse und zitternde Hand nervös auf die Torklinke, die er langsam und unter höchster Anstrengung herunterdrückte.

    Er atmete noch ein letztes Mal tief durch, blickte in die erwartungsvollen Gesichter der Gäste, denen der Atem zu stocken schien. Mit einem letzten Ruck überwand der Polizist seinen inneren Dämon und riss das Eingangsportal so heftig auf, dass ihm irgendeine völlig vermummte und durchnässte Person überrascht entgegenfiel.

    Thomas schrie vor Schreck auf, rollte sich im Fallen über die Schulter ab und sprang ein wenig zur Seite. Rasch rappelte er sich auf und war ebenso verwundert wie die anderen Gäste, als er den völlig durchnässten Mann geradezu leblos auf dem Bauch liegen sah, dessen Kleidungsstücke zudem mit hässlichen Blutflecken übersät waren.

    Wie sooft war es schließlich Gwang-jo Park, der die Szene einführend kommentieren musste und danach ein heiseres und höhnisches Lachen voller Arroganz hinterherschickte.

     „Da sieh mal einer an. Unser Butler ist zurück im Hause!“

     

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  • Kapitel 70: Freitag, 18 Uhr 03, Eingangshalle

     

                Alle Augen starrten auf den Butler, der sich ächzend aufrappelte und ängstlich von einem Anwesenden zum Nächsten blickte. Seine Augen waren geweitet, sein Blick wirkte glasig und verwirrt. Der ehemals vornehme und um Stil und Anstand bemühte Butler wirkte nun völlig von der Rolle in seinen zerrissenen, blutverschmierten und durchweichten Kleidungsstücken. Dreckiger Lehm hatte sich an seinen Wangen und auf der Stirn zu klobigen Krusten festgesetzt.

     Thomas hatte jedoch auch noch einen Blick für den Vorgarten, in dem eine ebenfalls blutverschmierte Kettensäge achtlos weggeworfen worden war. Thomas war ziemlich schnell klar, dass der Butler sich mit irgendjemandem brutal duelliert haben musste. Wer aber konnte dies sein? War es der unbekannte Mörder? Oder war der Butler letztlich doch selbst der Serienkiller und hatte mit diesem Werkzeug seinen eigenen Arbeitgeber kaltblütig angegriffen, zerstückelt und erst danach in das Haifischbecken geworfen?

     Der verwirrte Butler wollte sich stotternd erklären und blickte immer wider ängstlich zu Gwang-jo herüber, der ja sein größter erklärter Feind war. Dem fahrigen Nervenbündel war in diesen Momenten nur schwer zu folgen.

    „Draußen... Duell... Ich meine, dass... er kam einfach so... hierher... aus dem Gebüsch kam er und sah mich...  Verfolgung... habe schon seit Minuten hier angeklopft... hatte Angst, er könnte noch am Leben sein... hat mich bis hierher verflogt... auf der Wiese... das Duell... hat mich angefallen... rücklings... dann mit Kettensäge attackiert... große Wunde... alles voller Blut... er kam nicht zurück... müsste im Gebüsch verendet sein... riesiges Monstrum von Wolf... gezüchtet, habe ich direkt erkannt... brutalste Sorte... kein Schrecken mehr, ich habe ihn umgebracht.“

    Thomas, wie auch der Rest der Gruppe konnten kaum glauben, was sie dort hörten. Hatte der verwirrte Butler sie tatsächlich von dem Fluch des grausamen Wolfes erlöst? Wie würde sein Besitzer darauf reagieren?

    Der junge schottische Polizist blickte sich dezent um, denn er rechnete damit, dass der potentielle Eigentümer des Wolfes sich durch irgendeine entrüstete, unüberlegte Reaktion verdächtig hätte machen können. Alle Anwesenden wirkten jedoch einfach wie erstarrt, manche mit grimmigen Mienen, die anderen mit verwirrten und ängstlichen Gesichtszügen. Eine krasse Ausnahme war für Thomas nicht auszumachen. Der Täter musste sich nach diesem zweiten Niederschlag an selben Tag unglaublich gut unter Kontrolle haben, um nicht in Panik zu verfallen oder auszurasten. Wer von den Anwesenden hatte für solch eine besonnene und überlegte Reaktion überhaupt genügend Selbstvertrauen, persönliche Kälte und Verschwiegenheit? Insgeheim ging Thomas die Liste der Anwesenden noch einmal durch und war mit dem Ergebnis doch relativ unzufrieden.

    Mitten in seine Überlegungen platzte einmal wieder Gwang-jo hinein, der langsam auf den stammelnden und schwer atmenden Butler zutrat und anklagend auf ihn wies, während er die restlichen Gäste dabei hart ansah.

    „Das glaubt ihr ihm doch nicht, oder? Wir waren allesamt entweder draußen bei der Suche unterwegs oder hier im Schloss zusammen. Dieser verrückte Typ hat uns an der Nase herumgeführt. Er lockt uns in den Wald, damit er im Schloss eiskalt zuschlagen konnte. Er kennt die besten Schleichwege, denn er lebt ja schon lange auf dieser Insel und in diesem Schloss, dringt in das Kellergewölbe ein, bringt unseren ehemaligen Direktor um und versucht uns dann die Sache mit dem Wolf aufzutischen, um unser Vertrauen zu gewinnen und dann wieder zuzuschlagen. Damit soll jetzt Schluss sein! Der Kerl gehört eingesperrt!“, schrie Gwang-jo.

    Der Butler kroch auf den Koreaner zu, klammerte sich hilflos und bemitleidenswert um das rechte Bein des empörten Cholerikers, der ihn grob von sich stieß. Der Butler schluchzte laut, rappelte sich auf und zitterte am ganzen Körper.

    „Er hat recht. Schaut doch nur, wie der Typ zittert und bettelt. Er ist psychisch völlig labil und niemand weiß, was er als Nächstes tun wird. Der Kerl ist eine Bedrohung für uns alle und sich selbst.“, pflichtete Fatmir dem Koreaner bei und Thomas merkte beunruhigt, dass viele Gäste den beiden mittlerweile Glauben schenkten und manche sogar instinktiv vor dem ominösen Butler zurückwichen.

    Dieser warf sich plötzlich herum und taumelte wieder nach draußen, wo der wieder aufkommende Regen ihn völlig durchnässte.

    „Haltet diesen Verrückten auf, wir dürfen ihn nicht noch einmal entkommen lassen!“, heizte Gwang-jo die Masse noch einmal zusätzlich auf und setzte somit eine Kettenreaktion in Gang.

    Die nächsten Geschehnisse passierten so schnell, dass Thomas sie erst im Nachhinein vollständig begreifen und analysieren konnte, denn er war im ersten Moment ebenso verwirrt, wie auch geschockt.

    Der Butler war im Vorgarten auf die Knie gesunken, wandte sich plötzlich um und riss die Kettensäge, die er soeben aufgehoben hatte, drohend in die Luft. Mit einem lauten Heulen betätigte er dieses tödliche Werkzeug und ein entschlossener, brutaler Zug war in sein Gesicht getreten. Mit einem düsteren und grunzartigen Angriffsschrei taumelte er vorwärts, während hinter ihm über dem Meer ein Blitz zu explodieren schien, der mit einem lauten Krachen alle Anwesenden betäubte.

    Abdullah Gadua war als Erster durch das Eingangsportal gegangen, um den Butler zu stoppen und war nun schreckensbleich wie angewurzelt stehen geblieben, während der Butler mit wahnsinnigem Blick auf sein erstes Opfer zueilte.

    Es schien bereits, als habe das letzte Stündlein für den überraschten Abdullah geschlagen, als aus dem Eingangbereich des unheilvollen Schlosses plötzlich ein Schatten von der Seite auf ihn zugeflogen kam und brutal zur Seite rammte. Gadua knickte weg und fiel mit einem Schrei die kurze Treppe hinunter und schlug im nassen Blumenbeet auf. Völlig verstört blickte der Katarer auf die Person, die ihm gerade das Leben gerettet hatte.

    Es handelte sich um Marilou Gauthier, die nun ihrerseits rücklings in der Türschwelle lag und von dem Butler angegangen wurde. Mutig riss die Kanadierin ihr linkes Bein hoch und trat dem völlig verduzten Butler, der seine Waffe auf zwar krampfhaft umklammert hielt, aber nicht die richtige Technik besaß, um sie vernünftig zu gebrauchen, damit wuchtig in den Magen. Der Butler war von der Attacke überrascht, taumelte nach hinten und stolperte über die oberste Treppenstufe. Mit rudernden Armen ließ er sie Kettensäge fallen, verlor das Gleichgewicht und prallte mit dem Rücken auf die Stufenkanten und fiel das kurze Stück bis in den Vorgarten. Die Kettensäge selbst war geräuschvoll auf der Treppe aufgeschlagen und rutschte, sich um ihre eigene Achse rotierend, nun die Treppe hinunter und auf den eigentlichen Täter zu, der sich im letzten Moment benommen zur Seite rollte.

    Damit rissen die Ereignisse jedoch nicht ab! Gwang-jo hatte ebenfalls reagiert und setzte mit einem gewaltigen Hechtsprung über die kurze Treppe hinweg und kam direkt neben dem Butler auf. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern ließ der Koreaner einen brutalen Handkantenschlag auf den Nacken des Butlers niederfahren, der stöhnend zusammenbrach, als er sich gerade wieder aufrichten wollte und vor Schmerz erbärmlich aufgeschrien hatte. Dieser Klagelaut motivierte den Koreaner nur noch mehr, der sich auf den Butler warf und ihm einen Schwingschlag gegen den Kiefer verpasste und dann abwechselnd mit beiden Fäusten weiter pausenlos zuschlug.

    Hilflos riss der Butler seine Arme hoch, um die Handkantensalve abzuwehren, doch nach wenigen Sekunden war sein Widerstand gebrochen und er hatte der Wucht der Angriffe nicht mehr viel entgegenzusetzen.

    In diesem Moment jagte auch Mamadou an dem starr und fassungslos im Eingang stehenden Thomas vorbei, überwand die Treppe mit einem sportlichen Satz, packte die Schultern des Koreaners und zerrte diesen unter grölendem Protest von dem nur noch leblos zuckenden Butler weg, dessen Gesicht ein einziger blutiger Klumpen zu sein schien.

    Der Koreaner sah nicht ein sich zu beruhigen und verstand die eingreifende Geste des Polizisten völlig falsch. Gwang-jo entwand sich aus dem Griff des Afrikaners, stieß diesem brutal den Ellbogen in die Magengrube und zog dann in einer blitzschnellen Aktion die Pistole des Eingreifenden aus dessen Holster, welches er seit der nachmittäglichen Untersuchung um seinen Hosengürtel geschnallt hatte.

    Drohend riss Gwang-jo die Waffe hoch, entsicherte diese hastig und stieß ein teuflisches Lachen auf, als er in die entsetzt geweiteten Augen seines Gegenübers starrte. Alle Anwesenden waren völlig verstummt und in ihren Bewegungen eingefroren und es schien so, als würde der Koreaner Mamadou einfach brutal niederschießen wollen.

    Stattdessen wich er jedoch grimmig zurück, riss die Waffe hektisch in die Luft und feuerte einen Schuss ab, der ebenso ohrenbetäubend laut zu sein schien, wie der Blitz, der vor wenigen Augenblicken noch über dem Ozean eingeschlagen war.

    Gwang-jo schien diese Aufmerksamkeit für sich sichtlich zu genießen, blickte sich hochnäsig um und reckte sein Kinn in die Luft. Dann hielt er seine erbeutete Waffe plötzlich wieder auf Mamadou, der sich von der Seite hatte anschleichen wollen, um den kurzen Moment des arroganten Triumphes und der scheinbaren Unaufmerksamkeit des gewaltbereiten Koreaners auszunutzen.

    Entsetzt wich der Polizist zurück und sein Gegner schüttelte spöttisch und mitleidig den Kopf. Der Koreaner wich ein wenig von den restlichen Anwesenden zurück und gelangte in die Mitte des kleinen Parks, von wo aus er eine bessere Übersicht hatte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet und keiner konnte ihn nunmehr überraschend angreifen.

    Mit einem sarkastischen, langgezogenen Lachen bewegte er seine Waffe lässig in einem Halbkreis und schien auf jeden der Gäste einmal zielen zu wollen. Auch Thomas stockte der Atem, denn wer konnte schon wissen, was der sadistische Choleriker und Misanthrop als Nächstes vorhaben könnte? War auch er jetzt so unberechenbar geworden wie der Butler?

    Gwang-jo hob seine Stimme und blickte die restlichen Anwesenden in einem Gefühl der Überlegenheit an, das keinen Widerspruch oder Kommentar zu dulden schien. Eine düstere Totenstille hatte sich über die Insel gelegt, nur aus dem grauschwarzen Himmel und dessen nebligen Schlieren schien ein unheilvolles Grollen zu klingen.

    „Wenn ihr jetzt brav seid und genau das tut, was ich euch sage, dann wird euch nichts passieren. Es ist alles nur zu unserem Besten, glaubt mir.“, rief Gwang-jo, der plötzlich sehr ruhig und organisiert wirkte.

    Dabei ging er wieder allmählich näher an den Rest der Gruppe heran, wobei er jedoch nur den beinahe bewusstlosen Butler im Visier hatte. Die Kettensäge, die einige Meter daneben im Gebüsch lag, war inzwischen auch wieder ausgegangen und lag wie ein fremdes Instrument herum, bedeckt mit einigen roten Flecken, die alle Anwesenden wieder daran erinnerten, dass von der Waffe vor nicht allzu langer Zeit erfolgreich Gebrauch gemacht worden war.

    Gwang-jo trat jetzt an den Butler heran, packte mit seiner linken Hand den Kragen des ausgeleierten Hemdes und zerrte den ehemals im organisierten Verbrechen tätigen Schotten energisch in die Höhe, drückte den laschen Körper an sich und hielt dem labilen Diener den Pistolenlauf an den Kopf.

    „Ich verlange nur eine einzige Sache von euch! Wir werden diesen gottverdammten Bastard jetzt gemeinsam einsperren und überwachen. Wer sich mir in den Weg stellt, der wird die Konsequenzen tragen müssen. Sagt nicht, dass ich euch nicht gewarnt hätte!“, ereiferte sich der erbarmungslose Koreaner und nahm die vor ihm liegende Treppe wachsam in Angriff, warf einige Blicke auf die anderen Gäste, die jedoch völlig starr wirkten und nicht einmal daran zu denken schienen, den Koreaner in irgendeiner Weise attackieren zu wollen.

    Da brach Magdalena Osario neben Thomas plötzlich zusammen, schlug hinterrücks auf dem kalten Boden der Eingangshalle auf und hatte in diesem Moment bereits ihr Bewusstsein verloren…

     

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  •  Kapitel 71: Freitag, 18 Uhr 11, Eingangshalle

     

    Dieser Vorfall löste Thomas endlich aus seiner Erstarrung und die Gedanken rauschten wild und ungeordnet durch seinen Kopf, nachdem er zuvor nur ein hilfloses, dumpfes und irgendwie leeres Gefühl empfunden hatte.

     Auch jetzt war die Situation zu überraschend, zu wahnwitzig, als dass er groß hätte überlegen können. Er kniete sich stattdessen neben der umgestürzten Magdalena Osario nieder, bei der auch schon ihr Geliebter Björn Ansgar Lykström hockte. Nervös tastete Thomas nach der Halsschlagader der jungen spanischen Lehrerin und stellte erleichtert fest, dass ihr Puls völlig normal und regelmäßig war. In diesem Moment stöhnte die Lehrerin auch auf, blinzelte verwirrt und kam langsam zu sich.

     Thomas und Björn Ansgar Lykström sahen sich langsam an und der Schwede machte eine leichte Kopfbewegung zu einem älteren, roten und staubigem Sofa an der linken Seite der Eingangshalle hin. Der schottische Polizist begriff, packte die Beine der Spanierin, während der Schwede Arme und Kopf seiner Geliebten stützte. Diese Aktion genügte dem Koreaner, der inzwischen das Eingangsportal erreicht hatte, schon wieder als Provokation.

     „Ohne meinen Befehl rührt sich hier niemand vom Fleck. Keine falschen Tricks von euch beiden, sonst muss es unsere allseits geliebte Lehrerin für euch ausbaden!“, herrschte er die beiden drohend an.

     Lykström blickte Thomas kurz an, sein Gesicht verfärbte sich rot vor Zorn und er bebte angesichts der unmissverständlichen und dreisten Drohung. Irgendwie schaffte der Schwede es noch sich im Zaum zu halten und legte den Körper der Spanierin trotz der deutlichen Warnung des selbstverliebten Koreaners gemeinsam mit Thomas langsam auf dem Sofa ab. Magdalena Osario war nach diesem kurzen Schwächeanfall immer noch ein wenig benommen und Lykström hielt mitfühlend ihre Hand, während Thomas sich rückwärts gehend entfernte.

     Plötzlich ertönten ein ohrenbetäubender Knall und ein lautes Splittern. Irgendwo an der Wand fiel ein Bild auf den Boden, wobei der Rahmen in tausend Scherben zersprang. Gwang-jo hielt drohend die Pistole in die Luft, aus deren Mündung es noch qualmte. Lykström war erschrocken und in abwehrender Haltung herumgewirbelt und blickte den Koreaner fassungslos an.

     „Hörst du mir nicht richtig zu, Lykström? Ich habe hier die Kontrolle und das war die letzte Warnung für dich. Gehe zurück zum Rest der Gruppe und nimm den Bullen gleich mit! Ich habe die Schnauze voll von diesem dilettantischem und ungeordnetem Vorgehen. Jetzt nehme ich das Ruder in die Hand, um mal ein bisschen Ruhe hineinzubringen und diesen dreckigen Killer zu bestrafen.“, schimpfte er laut und fuchtelte bedrohlich mit seiner Waffe in der Luft.

     Lykström gehorchte mit gesenktem Haupt und geballten Händen und auch Thomas schlug langsam denselben Weg ein. Alle Anwesenden hatten sich jetzt mit dem Rücken zum offenstehenden Eingangsportal versammelt, auch Abdullah Gadua war nach seinem Sturz in den Garten wieder zu ihnen gestoßen. Seine Kleidung war schlammig und verdreckt, eine Mischung aus Regen und Schweiß klebte auf seiner Stirn. Schwer atmend ergriff er die Hand seiner Partnerin, die ihm vielleicht das Leben gerettet hatte und hauchte ihr atemlos einen Kuss in den Nacken. Marilou lächelte undefinierbar, obwohl sie auch nur Augen für den Koreaner hatte, der die Anwesenden kritisch musterte.

     Jetzt wirkte Gwang-jo tatsächlich fast zufrieden und grinste die Gruppe überheblich an.

     „Ich brauche zwei tatkräftige Leute, die diesen Verrückten in ein Zimmer sperren und dann dort die erste Wachschicht schieben. Ich schlage vor, dass wir ihn in sein eigenes Zimmer sperren, von dort oben aus kann er bestimmt nicht mehr abhauen. Fatmir und Mamadou, ihre beide werdet diesen Bastard tragen. Der Rest der Gruppe kommt ebenfalls mit uns hoch, damit niemand auf dumme Gedanken kommt.“, bestimmte der Koreaner mit harter Stimme und ließ den Butler achtlos aus seinen Armen und zu Boden fallen. Dabei war es bezeichnend für den sadistischen Koreaner, dass er zu der Schwerstarbeit nun genau die zwei Männer aufforderte, die zuvor schwer verletzt worden waren und sich kaum mehr aufrecht halten konnten.

     Das Blut aus der zertrümmerten Nase des Butlers sprühte über die Eingangshalle hinweg und er sank fast leblos in sich zusammen, während stumme Tränen aus seinen glasig gewordenen Augen liefen.

     Die beiden angesprochenen Männer gehorchten dem Befehl; Mamadou ein wenig zögernd und widerwillig, Fatmir jedoch war weitaus entschlossener. Der Albaner ging sogar mit einem grimmigen Lächeln auf den Butler zu, dem er direkt noch einen kurzen Tritt in die Magengrube verpasste. Der Butler war vor Schmerz mittlerweile so betäubt, dass er gar nicht mehr akustisch darauf reagierte oder Abwehrmaßnahmen unternahm.

     Thomas ekelte das ganze bizarre Szenario extrem an und er suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, das Glück wieder auf seine Seite zu bringen.

     Er ging gedanklich alle Möglichkeiten durch, die ihm noch blieben. Er musste sich jedoch eingestehen, dass er höchstens einen Moment der Unachtsamkeit des Koreaners ausnützen könnte, denn Thomas war sich sicher, dass Gwang-jo kalt genug war, um von seiner erbeuteten Waffe ab sofort jederzeit auch tödlichen Gebrauch zu machen.

     Der sonst so cholerische Koreaner tat Thomas jedoch den Gefallen nicht, sondern wirkte seltsam ruhig und bestimmend und schien gerade den schottischen Polizisten, den er wohl als stärksten Gegner einschätzte, ständig mit Argusaugen zu beobachten.

     Mittlerweile hatte Fatmir grob die Arme des Butlers ergriffen, dessen Kopf leblos und schräg über die Schulter des Albaners hing. Mamadou hatte ächzend die Beine des Butlers gepackt und blickte hin und wieder feindselig und verkniffen zu dem Koreaner, der mit dem Lauf seiner Waffe jetzt auf die Treppe wies.

     Die beiden Männer, mit einer makabren Last beladen, führten den Befehl aus und Gwang-jo ging nach einiger Zeit rückwärts auf die Treppe zu, sodass er alle Gäste noch im Blick hatte. Thomas versuchte in diesem Moment Blickkontakt mit seinem Kollegen Mamadou aufzunehmen, da dieser jetzt im Rücken des Koreaners stand und somit eine kleine Chance hatte, diesen unbeobachtet zu attackieren.

     Doch erneut wurde Thomas ein dicker Strich durch die Rechnung gemacht, denn der Koreaner bemerkte die leichte Kopfbewegung des Schotten und wies sofort mit seiner Waffe auf ihn. Grimmig lachte Gwang-jo auf und drückte plötzlich gnadenlos ab.

     Thomas rutschte das Herz in die Hose. Im Moment der Entdeckung seiner versuchten Kontaktaufnahme war ihm bereits der Schweiß ausgebrochen und er wirkte wie versteinert. Als er nun den peitschenden Schuss hörte, schloss er instinktiv die Augen, wohl wissend, dass die Kugel in jedem Fall schneller war als er selbst. Er sandte noch ein rasches Stoßgebet gen Himmel, doch seine Gedanken waren wie betäubt, er schien zugleich an tausend Dinge zu denken und dann doch wieder an nichts. Diese Unordnung hinterließ ein taubes Gefühl in ihm, welches er gar nicht einmal so sehr als unangenehm empfand, da die Gedankengänge ihn aus der bitteren Realität fortrissen, weg von der düsteren Insel, auf der in den letzten Tagen so viele Menschen ihr Leben lassen mussten, weg von der aussichtlosen Jagd auf einen unbekannten Mörder, weg von dem gemeingefährlichen Koreaner, der in seinem Wahn nun selbst die Leben der Leute auslöschen wollte, die sich gegen seine Pläne stellten. Fast war es so, als ob Thomas die Monotonie des Todes mit offenen Armen empfangen würde, denn nicht der Tod war die Hölle, sondern sein Leben war es in den letzten Tagen geworden. Warum war er so abgestraft? Er hatte schon einmal dem Tod näher gestanden als dem Leben, hatte höllische Qualen erlitten und nun war dieser Heilungsprozess nichtig geworden, war lediglich ein Aufschub gewesen und nun war sein Ende gekommen. Er starb wie ein Niemand, beinahe wie ein weiteres Opfer eines Verrückten, eine weiteres durchnummerierte Leiche auf der grausigen Todesinsel. Thomas Gedanken verflüchtigten sich, eine hypnotisierende Stille umgab ihn.

     Da hörte der junge Schotte einen dumpfen Knall, ein Splittern und Krachen. Was konnte das sein? Wo befand er sich? Thomas hatte die Augen verschlossen, er sah nichts als eine dunkle Schwärze. Wo war das ominöse Licht des Jenseits? Wo waren die imaginären Welten, die man gemeinhin als Himmel oder Hölle bezeichnete?

     Thomas blinzelte verwirrt und machte die Augen auf. Die Überraschungen rissen nicht ab. Er stand immer noch in der Eingangshalle, stocksteif, ebenso wie die anderen Gäste, die ihn wie einen Geist anblickten oder voller Angst den Koreaner musterten, der locker den Qualm von dem Lauf seiner Pistole blies.

     „Beim nächsten Mal ziele ich genauer, Bullenschwein. Das gilt für jeden hier, der versucht mich zu hintergehen. Ich will kein unnötiges Blutvergießen, ich will lediglich Gerechtigkeit und dass wir diesen Mörder einsperren. Wenn ihr zu mir haltet, kommen wir vielleicht alle noch lebendig von hier weg, doch wenn ihr mich hintergeht, dann seid ihr meine Feinde und ich werde eure Leben für das meinige opfern.“, mahnte Gwang-jo heldenhaft und ging dann weiter rücklings die Treppe hinauf.

     Mit einer überheblichen Handbewegung gab er zu verstehen, dass die restlichen Gäste ihm folgen sollten. Thomas setzte sich als Letzter wie betäubt in Bewegung und schritt langsam die breiten Stufen hinauf, bewegte sich dann in Richtung des Turmes.

     Sie hatten das Zimmer des Butlers schon beinahe erreicht, als sich der nächste überraschende Vorfall ereignete. Zunächst hörte Thomas nur ein Fluchen, ein Poltern und plötzlich eine Schuss der sich aus einer Waffe löste. Dann sprangen die Leute vor ihm plötzlich rücklings die Treppe hinunter, rissen Thomas mit, der sich so gerade noch auf den Beinen halten konnte. Taumelnd wich er zur Seite in den größeren Gang aus und sah plötzlich wie zwei ineinander verhake und sich umklammernde Männer mit enormer Geschwindigkeit die Treppe hinunterstürzen und sich dabei gegenseitig zu schlagen versuchten.

     Thomas erkannte, dass es sich um Gwang-jo und Mamadou handelte. Offenbar hatte der Ghanaer die Geste des schottischen Polizisten doch mitbekommen oder hatte möglicherweise sogar aus eigenem Entschluss gehandelt und den herrischen Koreaner auf der Treppe attackiert, als dieser keinen Schutz oder Sicherheitsabstand mehr vor ihm hatte.

     Der Schotte wich hastig zur Seite und musste mit ansehen, wie der Koreaner plötzlich einen Kinnhaken platzieren konnte, der den auf ihm liegenden Gegner mit aller Brutalität traf und ihn in die Luft wirbelte. Benommen schlug der ohnehin körperlich eingeschränkte Mamadou wenige Zentimeter neben Thomas auf, der plötzlich hellwach war und reagieren wollte. Er packte den linken Arm des Benommenen und zerrte ihn wieder auf die Beine, als er in der Bewegung plötzlich ein kaltes, bedrohliches, metallisches Klicken vernahm.

     Wie in Zeitlupe bewegte Thomas seinen Kopf zur Seite und blickte in das vor Zorn gerötete Gesicht des Koreaners, der sich schnell aufgerappelt hatte und seine Waffe offensichtlich bei dem Kampf und Sturz nicht verloren hatte. Trotz seiner misslichen lage hatte er wieder die Oberhand geworden und selbst die Menschen ins einem Rücken, die sich noch auf der Wendeltreppe befanden, wagten es nicht ihn herauszufordern. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten blickte Thomas in ein kaltes Mündungsloch und erstarrte atemlos.

     Würde sich der zu allem bereite gewalttätige Asiate noch einmal im Zaum halten können? Thomas war sich über nichts mehr sicher, aber dieses Mal schloss er nicht wie ein Feigling die Augen, sondern wollte sich dem Kontrahenten und Unterdrücker ohne Angst und Schwäche als ebenbürtiger Gegenüber stellen.

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  •  Kapitel 72: Freitag, 18 Uhr 23, Turmaufgang 

     

    Der Koreaner blickte Thomas und Mamadou kalt an, als plötzlich ein böses Lächeln auf seinem Gesicht erschien. Dann näherte er sich den beiden, bekam den noch benommenen Ghanaer zu packen und hielt diesem urplötzlich den Lauf der Waffe an die Schläfe.  

     Thomas brach in Schweiß aus, sein ganzer Körper schien zu zittern. Die Geiselnahme seines Kollegen machte ihm viel mehr zu schaffen, als wenn der Koreaner sich an ihm vergriffen hätte. Hilfesuchend blickte der nun unschlüssige und etwas überraschte Schotte zu den restlichen Gästen, die auf der Treppe zum Turm standen und die unheimliche Szene steif und wortlos verfolgten. Von ihnen hatten Thomas und Mamadou wohl keine Hilfe zu erwarten, zu sehr waren sie nach dem brutalen Vorgehen des Koreaners geschockt.

     Gwang-jo blickte kalt und überlegen zu Thomas und sprach ihn mit leiser, drohender Stimme an, während er den Lauf der Pistole jetzt in den Nacken seiner neuen Geisel drückte.

                   „Du tust jetzt genau das, was ich sage, sonst ist dein Kollege hier ein toter Mann. Du gehst jetzt langsam die Treppe bis ins Turmzimmer hinauf, ohne faule Tricks. Oben angekommen, wirst du dich auf das Bett setzen und auf mich und deinen erbärmlichen Verbündeten warten.“, gab der Koreaner vor.

    In Thomas brodelte es, alles strebte sich in ihm gegen den Gehorsam, doch er hatte einfach keine anderen Optionen. Er musste den Anforderungen des Koreaners Folge leisten, der alle Trümpfe in der Hand hatte und leichtfertig mit Leben und Tod zu spielen schien.

     Langsam wandte sich Thomas um und ging auf die steile Treppe zu, die sich kreisförmig in die Höhe schraubte und in dem Zimmer des Butlers endete. Thomas blickte in ausdruckslose, manchmal aber auch grimmige und beschämte Gesichter, als er an den anderen Gästen vorbeischlich. Das düstere Knarren der Holzstufen erinnerte an eine bizarre Symphonie des Todes. Niemand wollte oder konnte dem Schotten helfen, die Köpfe der Anwesenden waren gesenkt. Niemand wollte an seiner Stelle sein und noch viel wneiger an der seines Kollegen und neuen Freundes.

     Thomas fühlte sich, als ob er im falschen Film sei, wo der Gefangene sich auf seinem letzten Marsch in Richtung des Dorfplatzes begibt, wo er exekutiert werden soll. Was aber würde ihn selbst im Turmzimmer erwarten?

     Die Dielen knarrten, Staub wirbelte durch die Luft und draußen schlug irgendwo mit infernalischer Wucht ein Blitz ein. Durch die Fenster des Turmzimmers und in den düsteren Gang zuckten gespenstische und helle Strahlen. Die Gesichter der anderen Gäste wirkten wie dämonische Fratzen, deren grausamsten Offenbarungen noch in den düsteren Schatten kaschiert zu sein schienen.

     Endlich sah Thomas die dunkle Holztür, ein kalter, schneidender Wind trieb ihm von dort entgegen, denn draußen tobte wieder die Fortsetzung des großen Unwetters, welches seit Tagen wie ein unheilvolles Omen diese Insel umwaberte. Offensichtlich war diese Turmkammer nicht vollständig isoliert.

     Thomas blickte auf das Bett, welches zentral in diesem Zimmer stand. Der Butler, mehr tot als lebendig, war inzwischen mit seinen eigenen Bettlaken an das Gestell gebunden worden und rührte sich nicht vom Fleck. Neben dem gefesselten stand Fatmir Skola, der Thomas kalt entgegenblickte. Von den ehemaligen Annäherungsversuchen zwischen den beiden war nichts mehr zuspüren. Fatmir hatte sich in dieser Extremsituation zu einem völlig neuen Menschen entwickelt, der scheinbar nur auf die Kraft des despotischen Koreaners zu vertrauen schien. Thomas erinnerte sich an seinen Ausbildungsleitner, der immer gesagte hatte, dass Menschen in Extremsituationen zu rücksichtlosen Bestien wurden und denen jedes Mittel recht war, um auch nur eine Minute ihres Lebens hinauszuschinden. Allerdings hatten sie im Unterricht eher von Bankräubern und professionnellen Geiselnehmer gesprochen und nicht von einem verzweifelten Alkoholiker, der sich an den größten Despoten der Gruppe klammerte, als ob er sein letzter Rettungsring auf hoher See sei.

    Thomas blieb kurz in der Türöffnung stehen und blickte den Albaner grimmig an. Er hoffte insgeheim, dass dieser irgendeine menschliche Reaktion zeigen würde, doch diese Gedanken waren nur unscheinbare Illusionen.

    Der sonst so dynamische Schotte bekam nun einen heftigen Stoß in den Rücken, taumelte vorwärts und wandte sich schnell um. In der Türöffnung stand jetzt Gwang-jo Park, der sich rasch von der Tür wegdrehte und Mamadou Kharissimi, den er immer noch in eiserner Umklammerung hielt, brutal mit sich riss. Kalt und arrogant nickte er seinem albanischen Verbündeten zu.

    „Binde den schottischen Bullen vor dem Bett an das Gestell am Fußende fest. Im Kleiderschrank wirst du sicher etwas Brauchbares dafür finden!“, befahl der Koreaner kalt und der Albaner befolgte den Befehl ohne Widerspruch.

    Fatmir Skola trat langsam zu dem Kleidungsschrank, in dem vor wenigen Stunden noch erdrückendes Beweismaterial gegen den Butler gefunden worden war. Hektisch durchwühlte er dabei mehrere Fächer und Schubladen und warf mehrere Hemden, Unterhosen und sogar Kopfbedeckungen achtlos hinter sich in den Raum, bevor er innehielt und plötzlich mit einem triumphierenden Grinsen ein altes Seil oder auch eine Kordel in die Luft hielt. Prüfend spannte er den zweckentwendeten Fund und nickte zufrieden.

    Gwang-jo wies nun wieder auf Thomas und bedeutete diesem mit einem kalten Nicken sich dem Bett zu nähern, wo der bewusstlose und blutüberströmte Butler noch lag. Der schottische Polizist setzte sich langsam in Bewegung, wollte irgendwie Zeit gewinnen und hoffte noch auf ein Ende, auf ein fremdes Eingreifen, ein Erwachen aus diesem irrealen Alptraum. Er dachte vor allem an seinen Partner Mamadou, der sonst so mutig und energisch war und begegnete sogar dessen Blick, da er nahe der Eingangstür kauerte, wo sich auch manche anderen Gäste befanden. Der Ghanaer wirkte ratlos und war am Ende seiner Kräfte angelangt. Er zuckte bedauernd mit den Schultern, als er dem Blick seines Kollegen begegnete und starrte dann sogar betreten zur Seite, da der Koreaner die erneute Kontaktaufnahme bemerkt hatte und dem Ghanaer einen herben Tritt auf das verwundete Bein verpasst hatte. Mamadou wand sich vor Schmerzen und konnte nur mit zusammengepressten Lippen und weitgeöffneten Augen einen Schmerzensschrei unterdrücken.

    Thomas wirkte entmutig und angeekelt, ballte die Hände zu Fäusten und suchte nach weiteren Möglichkeiten zu einer Flucht.

    Da trat jedoch Fatmir auf ihn zu, drückte Thomas brutal zu Boden und umschlang dessen Arme sogleich mit der Kordel. Der Albaner ging unglaublich schnell und geschickt vor, während Thomas das Ganze mit zusammengekniffenen Lippen ertrug und aggressiv zu Gwang-jo blickte, der höhnisch lächelte und mit der Mündung der Waffe nun Thomas anvisierte.

    Thomas fühlte, wie die alte Kordel ihm in die Unterarme schnitt, wie die Haut aufgescheuert wurde und wie die Umklammerung stramm gezogen wurde. Ebenso fest und energisch band der Albaner ihn am Bettgestell fest und prüfte diese Festigkeit erneut, in dem er an den Fesseln zerrte. Nach nur wenigen Minuten war er zufrieden und blickte nun Gwang-jo wieder erwatungsvoll an, ohne Thomas auch nur eines einzigen Blickes gewürdigt zu haben.

    Dieser spürte einen bebenden Zorn in sich aufsteigen, prüfte seine Fesseln, wand sich in seiner Umklammerung wie eine Schlange, doch er spürte recht schnell, dass der Albaner unglücklicherweise zufällig ein richtiger Profi für so etwas zu sein schien. Die Fesseln gaben nicht um einen einzigen Zentimeter nach. 

    Gwang-jo trat nun wieder in Aktion, allerdings anders als erwartet. Verächtlich blickte er auf den Ghanaer und spuckte abfällig auf den Boden. Dann wandte er sich zu den anwesenden Gästen an, musterte diese grimmig und winkte dann Abdullah Gadua mit seinem Pistolenlauf zu sich, der sich bleich von Marilou löste, die sich noch verzweifelt an seinen Arm klammerte und den Koreaner verständnislos und vorwurfsvoll anblickte.

    „Unser Kollege Kharissimi ist völlig hinüber. Es ist völlig sinnfrei ihn in Gefangenschaft zu halten, diese Rolle wirst du daher übernehmen, mein lieber Abdulla, du bist auch einer von der härteren Truppe und sollst mir nicht länge rim Weg stehen. Das müsste dir doch auch in den Kram passen, nicht wahr? Du wirst hier im Turmzimmer direkt dem Spektakel beiwohnen können, wenn wir dem Typen, der dir zehntausend Pfund gestohlen hat, fertig machen und über den Jordan schicken. Na, ist das nichts?“, fragte Gwang-jo voller triefendem Spott und stieß Abdullah Gadua mit dem Pistolenlauf in den Rücken zu seinem albanischen Helfer, der bereits eine zweite Kordel in der Hand hielt und sein nächstes Opfer brutal auf die andere Seite des Bettes zerrte, welches völlig schräg und ungeordnet in dem fast völlig verwüsteten Raum stand.

    Während der Albaner still seine Arbeit ausführte, von den Argusaugen des Koreaners beobachtet, prasselte von außen ein fast schon monsunartiger Regenstrom gegen das Dach. Die Brutalität dieser betäubenden Monotonie der Natur raubte Thomas fast den Verstand. Er fühlte sich elendig erniedrigt, lag hilflos verschwitzt auf einem dreckigen Boden und an ein rostiges Bettgestell gefesselt. Auch sein Blickfeld war eingeschränkt, denn er sah nur noch Gwang-jo, der zentral im Raum stand und sein Blick zwischen den stummen Gästen, seinem Verbündeten und dem gefesselten Thomas schweifen ließ. Die Szene wirkte fast wie eingefroren, nur das leise Zurren der Kordel war zu hören, mit der jetzt auch Abdullah Gadua gefesselt wurde.

    Thomas erhaschte auch einen Blick auf die Partnerin seines gefesselten Schicksalsbruders, denn Marilou stand direkt neben dem erschöpft und gedemütigt wirkenden Mamadou, der zurück zur Gruppe gekrochen war und sich mühsam am Türrahmen aufgerichtet hatte. Die Kanadierin wirkte grimmig und stierte abfällig zu Gwang-jo, als ob sie ihn am liebsten sofort persönlich umbringen wollte. Thomas hatte die sonst so stille und fast apathisch wirkende junge Dame selten so aufgewühlt und aggressiv erlebt und er fürchtete sich fast vor ihrem beinahe schon wahnsinnigen und stechenden Blick. Der Schotte sagte sich aber, dass die Kanadierin wenigstens nicht in eine neue Depression gestürzt war und offensichtlich um ihren Ehemann sorgte. Vielleicht würden diese extremen Ereignisse die beiden wieder unweigerlich zusammenschweißen. Doch an ein rechtes Happy End konnte der Schotte im Moment einfach noch nicht glauben.

    Endlich hatte Fatmir seine unehrenhafte Sisyphosarbeit abgeschlossen und blickte nun wieder erwartungsvoll zu Gwang-jo, der anerkennend nickte.

    „Sind die Fesseln auch stramm genug?“, fragte dieser noch einmal kritisch nach.

    „Darauf kannst du dich verlassen.“, erwiderte Fatmir mit einem überheblichen Grinsen.

    „Falls nicht, wirst du dafür bezahlen. Du bleibst jetzt vorerst als Wachmann hier oben und setzt dich auf einen der Stühle. Ich werde mit den anderen Leuten wieder nach unten gehen und sie ein wenig in Schach halten.“, bestimmte der Koreaner grimmig und herrisch.

      „Worauf sollen wir denn eigentlich warten?“, wollte Fatmir wissen.

     „Darauf, dass endlich die Polizei kommt oder irgendein Schiff. Sobald das Wetter besser wird, werde ich ein großes Feuer machen, damit man dieses Signal von der Küste aus sehen kann. Ich werde mir aber auch die Stromleitungen im Haus ansehen, irgendetwas wird mir wohl einfallen, um sie vernünftig zu reparieren.“, gab der Koreaner zurück.

    „Eine andere Wahl bleibt uns tatsächlich nicht.“, gab Fatmir zu.

    „Sehr gut. Pass gut auf diese drei verabscheuungswürdigen Gestalten auf. Wenn einer von denen irgendeinen Mucks macht, dann weißt du, was zu tun ist. Und du weißt auch, bei wem du hin und wieder etwas härter zulangen darfst.“, erläuterte Gwang-jo mit einem bitterbösen Blick auf den Butler, trat gleichzeitig auf Fatmir zu und zog mit einem Mal ein großes Schweizer Messer aus seiner linken hinteren Hosentasche. Fast schon feierlich überreichte er seinem Verbündeten die Waffe.

    „Das ist die einzige Waffe, falls man sie überhaupt so nennen kann, die ich mit auf diese Insel genommen habe. Du wirst es kaum glauben, aber mein Großvater hat das Teil einem ermordeten amerikanischen Soldaten abgenommen und schon im Koreakrieg benutzt. Gehe sorgfältig damit um.“, mahnte Gwang-jo den Albaner, der das Messer mit einem Schaudern entgegennahm und ehrfürchtig und eifrig nickte.

    Gwang-jo war zufrieden und wandte sich mit einem kalten Lachen wieder den anderen Gästen zu, nachdem er noch einen letzten abfälligen Blick zu den drei Gefangenen geworfen hatte. Überheblich spuckte er auf den Boden und ließ seine erbeutete Waffe lässig um seinen Zeigefinger herum rotieren.

    „Wir werden jetzt alle zusammen wieder schön in die Empfangshalle gehen. Versucht erst gar keine miesen Tricks.“, herrschte er die Anwesenden an und trat langsam und drohend auf die steil nach unten führende Wendeltreppe zu.

    Thomas verrenkte fast seinen Kopf, um einen letzten Blick auf die Gäste zu erhaschen. Mamadou bemerkte ihn und nickte ihm grimmig zu, während sich Marilou wütend herumwarf und sich an den Abstieg machte. Die anderen Gäste wirkten sprachlos oder einfach nur verängstigt. Sie wirkten wie gelähmt und hatten während der gesamten Aktion im Schlossturm kein einziges Wort gesprochen und sich kaum vom Fleck gerührt. Die Angst stand in fast allen ihren gesichtern geschrieben. 

    Nach wenigen Augenblicken wandte sich auch Mamadou humpelnd ab und schritt als Letzter die Treppe hinunter, verfolgt von Gwang-jo, der noch einen letzten, ernsten Blick zu Fatmir warf, der sich nahe des Treppenaufgangs auf einen alten Holzstuhl gesetzt hatte. Mit einem grimmigen Knurren fischte der Koreaner im Fortgehen noch lässig eine Zigarette aus seinem Ärmel und zündete sich diese an. Vermutlich wollte er sich mit dieser demonstrierten Gelassenheit nicht nur selbst Mut machen, sondern die restlichen Anwesenden zusätzlich erniedrigen.

    Dann schritt auch der Koreaner als abschließendes Glied der schweigsamen Prozession in die Tiefe und nach einer Minute war selbst das düstere Knarren der Treppen verklungen. Das gesamte Schloss war ruhig und wie ausgestorben. Nur der starke Regenfall prasselte mit sturer Monotonie weiter gegen den Turm mit den verdreckten und spärlichen Fenstern, durch die man bereits einen tiefschwarzen Abend sehen konnte, der wie ein Mahnmal ewiger Dunkelheit wirkte.

    Thomas machte die Stille fast wahnsinnig und immer wieder versuchte er unbemerkt an seinen eisernen Fesseln zu zerren, doch er hatte kaum Erfolg. Fatmir sah ihm mit einem höhnischen Lächeln dabei zu.

           Der junge schottische Mann lehnte sich schließlich erschöpft und entmutigt zurück gegen das rostige Gitter des Bettgestells, doch da hatte er noch eine letzte Idee, die er sich als letzte Option offen gehalten hatte. Lauernd richtete er sich auf und überraschte selbst seinen Mitgefangenen Abdullah, als er ihren gemeinsamen Bewacher ansprach.

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