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    Kapitel 48: Freitag, 2 Uhr 47, Thomas Zimmer

     

    Der junge Schotte hatte den verletzten Albaner erfolgreich verarztet und war in den oberen Flur des Schlaftraktes zurückgekehrt. Dort hatte sich bereits eine Menschentraube versammelt, der Elaine Maria da Silva ihre Version des nächtlichen Vorfalls erzählte und den Butler klar beschuldigte. Unterstützung erhielt sie dabei auch von Fatmir Skola, der völlig erbost war. Thomas Jason Smith hatte mit dem Butler auch kurz gesprochen und ihm nur geraten sich in sein Zimmer heimlich zurückzuziehen, die Tür zu verriegeln und sich vorerst nicht blicken zu lassen.  Er hatte versucht den Butler zu verteidigen, doch er stand wohl auf ziemlich einsamer Front und konnte gegen den Redefluss des Albaners, der Brasilianerin und auch des Koreaner Gwang-jo nur resignieren.

    Die Wachübergabe hatte dann auch entsprechend früher stattgefunden, Magdalena Osario und Björn Ansgar Lykström, die sich für diese Nacht ein Zimmer geteilt hatten, waren ebenfalls geweckt worden und gerade die Spanierin wirkte müde und zermürbt. Sie wurde mit kritischen Fragen nahezu überhäuft, wich diesen jedoch aus und legte sich nur darauf fest, dass der Butler gewiss kein kaltblütiger Mörder sei und sie seine Identität nur geheimgehalten hatte, um ihn vor den Wutausbrüchen ihres aggressiven Mannes zu schützen. Die meisten Anwesenden glaubten ihr nur zum Teil und selbst ihr schwedischer Geliebter äußerte einige Zweifel, die sie müde abwehrte.

    Thomas hatte sich kurz darauf schlafen gelegt, aber kaum ein Auge zugedrückt. Die vorhergegangenen Ereignisse liefen ihm nach, er lag schweißgebadet in seinem Bett und lauschte dem dumpfen Grollen des gewaltigen Sturmes. Er war gerade kurz vor dem Einschlafen, als ein Tumult auf dem Flur entstand, der ihn wieder wachrüttelte. Mehrere Stimmen riefen durcheinander und der Schotte zog sich stöhnend wieder etwas über und torkelte schlaftrunken in den Zimmerflur. Er vernahm sowohl empörte Schreie, als auch Hilferufe und hart geführte Diskussionsfetzen.

    Björn Ansgar Lykström stand im Mittelpunkt des Geschehens. Neben ihm stand seine Geliebte, Magdalena Osario, die ihn mit ängstlichem Blick zur Seite drängen wollte. Mamadou stand betroffen neben dem Paar und versuchte gleichzeitig die Gäste zu beruhigen, die sich schon auf dem Flur versammelt hatten. Besonders Gwang-jo Park und Fatmir Skola drängten sich vehement nach vorne und kommentierten lautstark die neuesten Erkenntnisse. Abdullah Gadua stand sprachlos neben ihnen und wirkte geschockt. Im Hintergrund stand auch Marilou Gauthier, welche die hektische Männergruppe kritisch beäugte. Neben ihr stand Paola Francesca Gallina, die sich hastig bekreuzigte und ein Gebet vor sich hermurmelte. Schon bald waren auch alle restlichen Gäste versammelt.

    Erst nach einigen Augenblicken konnte der schlaftrunkene schottische Polizist überhaupt erkennen, was den Grund für die Aufregung ausgelöst hatte. Bis jetzt war der Butler von der Menschentraube verdeckt worden, doch nun bekam auch der Schotte einen Blick auf den Diener des Schlossherrn. Sein Anblick verschlug ihm völlig die Sprache.

    Der Butler hatte eine klaffende Platzwunde an der Stirn, er zitterte am ganzen Leib und wurde nur noch vom strammen Griff des Schweden in aufrechter Lage gehalten. Sein Blick wirkte apathisch und er schüttelte schluchzend den Kopf.

    Thomas verschaffte sich einen Durchgang durch die Menschenmasse, stieß seinen ehemaligen albanischen Freund zur Seite, bedachte Mamadou mit einem vorwurfsvollen Blick und trat energisch an den schwedischen Lehrer heran.

    „Was zur Hölle ist geschehen? Was habt ihr mit ihm gemacht?“, herrschte der schottische Polizist den Schweden außer sich vor Wut und blankem Entsetzen an.

    „Wir haben ihm einen nächtlichen Besuch abgestattet, damit er uns von seinen Plänen erzählt. Dein afrikanischer Kollege wollte mich nicht so recht unterstützen, sogar meine Geliebte hat sich für diesen Wahnsinnigen eingesetzt, aber ich wollte die Wahrheit erfahren.“, erklärte ihm Lykström triumphierend und in seinen Augen blitzte es gefährlich.

    „Du hast einfach versucht ein Geständnis aus ihm herauszuprügeln?“, fragte Thomas in einer Mischung aus Unglauben und gewaltiger Empörung.

    „Fatmir und ich haben ihm ein wenig geholfen das Vögelchen zum Singen zu bringen.“, meldete sich plötzlich Gwang-jo hinter ihm zu Wort und grinste Thomas bestialisch an.

    „Ich gebe zu, dass die Situation ein wenig eskaliert ist. Aber was haben wir noch zu verlieren, jetzt wo drei Menschen tot sind? Ich will nicht der nächste auf der Liste sein!“, schrie Lykström seine Angst und seinen Frust sich von der Seele.

    „Es tut mir Leid, Thomas. Ich hatte erst zu spät gemerkt, dass sich Lykström von seinem Überwachungsposten abgesetzt hatte, ich selbst bin durch das Haus patrouilliert und habe mich auch um den Direktor gekümmert, ihn beruhigt, verarztete und das Gespräch mit ihm gesucht, denn das hatte er wahrlich nötig. Ich habe die Gruppe dann erst gerade eben am Flur getroffen.“, gab Mamadou kleinlaut in Richtung seines Kollegen zu.

    Thomas schüttelte entsetzt den Kopf und warf einen blick auf Magdalena Osario, die völlig aufgelöst war und sich zitternd von der Gruppe abgewandt hatte. Noch erbärmlicher anzusehen war allerdings der Butler. Zu seiner ohnehin schon seelisch instabilen Lage war nun auch die körperliche Pein hinzugekommen. Er war mehr bewusstlos als bei Besinnung.

    „Er hat die Morde nach wie vor bestritten, aber er hat dabei gezittert und gefleht. Wenigstens konnten wir ihm das Geständnis über seine Drogenvergangenheit abverlangen. Tatsächlich hat er uns von seinem Versteck hier im Schloss erzählt, wo er zwei Kilogramm Kokain versteckt hält. Aber es war nichts da, wir haben es schon überprüft. Er wollte uns in die Irre führen. Es gab weder ein Weinfass, noch irgendwelche Drogen an dem von ihm beschriebenen Ort. Er hatte den Mut uns hereinzulegen. Jetzt ist doch allen klar, dass er ein viel schlimmeres Geheimnis auf dem Gewissen hat!“, schrie nun Fatmir Skola, dessen Wut auf den Butler nach dem Streifschuss ins Unermessliche gestiegen war und nun fast einem blinden Wahn glich.

    Thomas und Mamadou tauschten kurz ihre Blicke auf. Der Ghanaer nickte kurz und auch dem Schotten war klar geworden, dass der Butler seine brutalen und aufgebrachten Gegner nicht etwa angelogen hatte, sondern dass die beiden Polizisten die Drogen am Morgen des gestrigen Tages versteckt hatten. Thomas musste die Wahrheit sagen, um den Butler vor weiteren Folterungen zu schützen. Er musste irgendwie erreichen, dass sich der Hass nicht so einseitig auf den Butler fokussierte, denn dieser würde der psychischen Belastung nicht mehr allzu lange Stand halten.

    „Der Kerl führt uns an der Nase herum, ich wusste sofort, dass er dahinter steckt, seitdem er nach dem Verhör vom Nachmittag so extrem reagiert hatte.“, äußerte sich nun auch Gwang-jo zu dem Thema.

    „Wir müssen uns schützen und die Wahrheit aus diesem gefährlichen Bastard herausprügeln!“, pflichtete ihm nun sogar Elaine Maria da Silva mit markigen Worten bei, die gerade erst zur Gruppe getreten war und sich sofort auf die Seite der aufgebrachten Männer stellte.

    „Ihr habt recht. Lieber sein Leben als das unsrige.“, überzeugte sich nun sogar Abdullah Gadua und die Stimmung drohte immer mehr auf die Seite der brutalen, rebellierenden Männer zu kippen.

    Thomas sah die aufkommende Gefahr einer vorschnellen Verurteilung und merkte, dass ihm die Felle davonschwammen. Er sah sich gezwungen nun einzugreifen.

    „Hört mir zu! Dreht jetzt bloß nicht durch! Er hat euch die pure Wahrheit gesagt!“

    Überrascht blickten die Anwesenden zu ihm. Für einen kurzen Moment war es ganz still, bevor Gwang-jo schallend lachte und auch Fatmir Skola eine feixende Bemerkung abgab, die für seinen ehemaligen schottischen freund wie ein Stich ins Herz war. Er schluckte seinen Zorn herunter und versuchte sich weiterhin bemerkbar zu machen, obwohl man ihm bereits jetzt höhnischen Protest entgegenbrachte.

    „Es ist wahr, dass er im Drogengeschäft verwickelt war und seine Beute war auch bis heute Morgen im Keller.“, fuhr der Schotte fort und verschaffte sich mit lautstarker Stimme mühsam Gehör.

    „Was willst du damit sagen?“, fragte ihn Lykström drohend.

    „Mamadou und ich haben heute Morgen einen Kontrollgang durch die Kellergewölbe gemacht nach dem Mord. Wir waren sozusagen auf Spurensuche und uns ist auch das deplaziert wirkende Weinfass aufgefallen.“, berichtete Thomas nun weiter.

    „Das sagst du doch nur, weil du als Bulle den Angeklagten schützen willst. Wir haben keine handfesten Beweise und somit ist er für dich automatisch unschuldig!“, herrschte Gwang-jo ihn an und hob drohend seine Faust.

    „Ihr wollt immer nur nach Indizien suchen und Leute befargen, anstatt den gesunden Menschenverstand zu benutzen. Der Kerl kannte den Geheimgang und hat uns kaltblütig überfallen!“, warf auch der Albaner ein, der die Ereignisse ziemlich verdrehte.

    „Die beiden haben recht und die Mehrheit ist gegen euch beide. Ihr habt nicht über uns zu bestimmen und das Recht unsere Taten zu verurteilen. Es geht um unser Leben und wir werden uns nicht weiter von euch einschränken lassen.“, begehrte nun auch Abdullah gadua auf, dessen Turban verrutscht war, sodass seine kurzen haare schweißnass auf die Stirn gepresst waren.

    „Die Sache ist ja wohl eindeutig, Herr Kommissar!“, höhnte auch Elaine Maria da Silva und blickte Thomas tiefgründig an.

    „Es ist die Wahrheit. Mamadou und ich haben die Drogen im Wald versteckt. Ihr könnt dort gerne nachsehen und euch davon überzeugen! Wir ahnten, dass irgendwer die Sachen suchen könnte und wollten sie als Beweismaterial für spätere Aufklärungsversuche verstecken!“, erwiderte Thomas, der äußerlich gefasst wirkte, innerlich aber den fast unnachgiebigen Drang verspürte sich vor allem wieder auf den misanthropischen Koreaner zu stürzen, der mit hasserfüllten und haltlosen Beschuldigungen nur so um sich warf.

    „Da haben wir doch das perfekte Motiv.“, keifte Elaine Maria da Silva.

    „Unsinn! Nur ich wusste von seiner anderen Identität und selbst ich war mir nicht darüber im Klaren, dass hier im Schloss noch Beute lagern könnte. Ich war die einzige Gefahr für ihn, aber die anderen, die tot sind, haben mit der Geschichte nichts zu tun!“, griff nun Magdalena Osario schluchzend und nuschelnd ein.

    „Du hast diesen Kriminellen geschützt!“, herrschte ihr Liebhaber sie ungläubig an und hob drohend seinen rechten Arm zum Schlag.

    „Ja, vor der Wut und Brutalität meines Mannes.“, gestand die Spanierin, blickte ihren Geliebten ängstlich und schüchtern an und sank zitternd auf die Knie.

    Jetzt war sogar Lykströms erbarmungslose Kälte gebrochen und er zeigte eine menschliche Regung, als er sich besann und auf seine Geliebte zu bewegte, sie in den Arm nahm und ihr aufhalf.

    „Ich wollte dir keinen Vorwurf machen, es tut mir Leid. Mir sind die Nerven einfach ein wenig durchgegangen.“, flüsterte er ihr entschuldigend zu und die Spanierin presste ihr verweintes Gesicht erleichtert gegen seine Schulter.

    „Daraus sollten wir alle lernen. Haltlose Beschuldigungen helfen niemandem weiter. Der Butler hat mit den Morden nichts zu tun und wenn wir uns auf ihn als Täter fokussieren, dann hat der wahre Mörder genau das erreicht, was wir wollen.“, erklärte Thomas der gespannt mitverfolgenden Gruppe.

    Die meisten der Anwesenden nickten verständig und zum Teil betroffen, doch die ursprünglichen Unruhestifter, allen voran Gwang-jo, ließen sich nicht überzeugen oder gar einschüchtern.

    „Von einem Drogendealer zu einem Mörder ist es nicht weit!“, bemerkte der Koreaner grimmig und blickte die anderen Gäste um Zustimmung heischend an.

    „In seiner Akte stand, dass er unter akutem Mordverdacht stand.“, stellte nun auch Elaine Maria da Silva fest und ein unruhiges Raunen ging wieder durch die Gäste.

    „Ich habe mit ihm darüber gesprochen. Es sind falsche Anschuldigungen, die ihm ehemalige Kollegen der Szene anhängen wollen.“, ergriff Magdalena Osario Partei, die sich ein wenig beruhigt hatte und wieder gefasster und klarer sprach, wobei sie immer noch in den Armen ihres Geliebten lag.

    „Du bist zu gutgläubig. Er hat dir das so erzählt, aber woher willst du wissen, dass es so stimmt? Er hat mich kaltblütig angeschossen!“, erwähnte Fatmir Skola nun und wies anklagend und wütend auf seine verbundene Schusswunde.

    „Ein professioneller Mörder hätte besser getroffen. Ihr seid auf dem Holzweg!“, wies nun auch Mamadou den Albaner zurecht.

    Die anwesenden Gäste wirkten auch weiterhin bedrückt und verfolgten zum Teil aufmerksam die angeregte, skurrile Diskussion, wobei sie zwischen den einzelnen Thesen hin und hergerissen waren. Sie alle wirkten müde und erschöpft, aber auch ängstlich und übermäßig nervös.

    „Das Diskutieren nützt nichts. Morgen werden wir noch einmal in Ruhe über alles reden. Lasst den Butler in Ruhe. Ich werde mich um ihn kümmern. Geht nun schlafen, nach einem solchen Tag hat das wirklich jeder von uns nötig!“, ergriff Thomas wieder das Wort und stieß den empörten Lykström zur Seite, um den zu Boden sinkenden Körper des Butler aufzufangen, den er stützend durch die offene Tür seines Zimmers bugsierte und auf sein Bett legte.

    Thomas wurde bei diesem Gedanken nun auch von Mamadou wieder unterstützt, der es tatsächlich schaffte, die anderen Gäste einigermaßen zu beschwichtigen und aufzufordern wieder in ihre Zimmer zurückzukehren. Selbst Gwang-jo und Fatmir gehorchten, nicht ohne vorher einen hasserfüllten, misstrauischen Blick auf das Bett und in das Zimmer des schottischen Polizisten geworfen zu haben. Sie hielten die Köpfe zusammen, flüsterten angeregt und der Koreaner lachte grimmig. Thomas bekam wieder ein ungutes Gefühl. Er war sich sicher, dass er vor allem diese beiden Männer, aber wohl auch die Brasilianerin niemals auf seine Seite ziehen konnte und hatte den unguten, aber wohl unfehlbaren Instinkt, dass sie weiterhin auf ihrer Meinung beharren und sich dem Butler gegenüber feindlich verhalten würden. Thomas betete, dass die Situation nicht noch weiter eskalieren möge. Doch selbst er war sich nicht sicher, ob göttlicher Beistand ihnen jetzt noch zu helfen vermochte.

    Langsam trat auch Mamadou in das Zimmer des schottischen Kollegen, warf noch einen nachdenklichen Blick zurück in den Zimmerflur und machte mit einem desolaten Kopfschütteln die Tür bedeutungsschwanger hinter sich zu.

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    Kapitel 49: Freitag, 3 Uhr 00, Thomas Zimmer


    Thomas hatte immer einige Pflaster und Verbandszeug in seiner Reisetasche, die jetzt dem verstörten, erschöpften und fast lethargisch im Bett liegenden Butler zu Gute kam. Der schottische Polizist hatte einst einen umfangreichen Erste Hilfe Kurs absolviert und verarztete die Wunden des Butlers in angemessener Weise. Er hatte einige derbe Schläge abbekommen, auch eine Platzwunde an der Stirn, die Thomas besonders vorsichtig gesäubert hatte. Der Butler stöhnte einige Male, nahm aber ansonsten in keiner Weise Kontakt zu Thomas oder dem betreten danebenstehenden Mamadou auf. Der Butler schien in eine Art Schockzustand gefallen zu sein und Thomas setzte sich nachdenklich auf die Bettkante, nachdem er die letzten Reste verkrusteten Blutes aus dem Gesicht des ehemaligen Drogendealers gewischt hatte. Thomas war völlig müde, hatte Kopfschmerzen, aber auch enorme Sorgen und sogar ein wenig Angst vor dem Einschlafen.

    Mamadou erzählte seinem provisorischen schottischen Kollegen noch einmal ausführlich die Geschichte. Mamadou war im Schloss patrouilliert und hatte irgendwann gemerkt, dass Lykström seinen Posten verlassen hatte. Magdalena Osario hatte nur erwähnt, dass er mit ihr über die Herkunft des Butlers gesprochen habe und sich danach entfernt habe, um in der Küche eine Flasche Wasser zu besorgen. Dazu war es nicht gekommen. Lykström war stattdessen wohl Gwang-jo über den Weg gelaufen, der den Plan gehabt hatte dem Butler einen nächtlichen Besuch abzustatten. Angesteckt von dem hinterhältigen und bösartigen Koreaner hatte Lykström diesen begleitet, um einige Antworten in dem tödlichen Verwirrspiel zu erhalten, nachdem man die altersschwache Tür zu seinem Turmzimmer mit geballter Wut zerstört hatte. Als der Butler nicht geantwortet hatte, wurde Gewalt angewandt, schließlich hatten die beiden nächtlichen Besucher ihr Opfer in den Keller geführt, um dort Beweise für die versteckten Drogen zu erhalten. Unglücklicherweise waren Mamadou und die spanische Schlossherrin in jenem Moment der Abwesenheit in das Zimmer des Butlers gegangen, da der Afrikaner die Aktionen des schwedischen Englischlehrers vorausgesehen hatte. Sie waren durch den verwüsteten Raum und die Kampfspuren in ihren Annahmen bestätigt worden und hatten systematisch die Trakte durchsucht, bis sie zufällig das Schreien und Wimmern des Butlers hörten, der sich irgendwie von seinen Bewachern gelöst hatte und aus den Kellergewölben gestürzt kam, eng verfolgt von seinen beiden Widersachern. In der Eingangshalle hatten sie ihn eingeholt, doch der Butler hatte sich noch geschickt verteidigt und wie eine Furie um sein Leben gekämpft. Im letzten Moment hatte Mamadou eingreifen können, der Butler war mit letzter Kraft in den oberen Gang geflohen und der dort verursachte Lärm hatte dann die meisten Gäste geweckt.

    Thomas lauschte gebannt den Ausführungen seines Kollegen. Gewisse Teile der Gruppe entwickelten in der Stresssituation, in der sie sich alle zweifellos befanden, eine gefährliche Eigendynamik. Die lebensbedrohliche Situation verschärfte die Konflikte und die Isolation der einzelnen Personen. Jeder dachte an sich, sein Überleben und entwarf hirnrissige Verschwörungstheorien. Es wurden kurzweilige, spannungsgeladene Zweckgemeinschaften eingegangen, aber oft eskalierten selbst kleine Streitereien und gerade diese Kontraproduktivität und Angst spielte dem unbekannten Serienmörder in die Karten. Je mehr die Gäste isoliert waren, desto leichter konnte man ihnen auflauern, sie allein antreffen oder unbemerkt weitere Fallen oder Schandtaten vorbereiten. Es war ein psychologisches Duell, in dem der ominöse Mörder bislang klar im Vorteil lag. Thomas fragte sich, ob der Killer das Ganze nicht einfach nur tat, um sich an der Hilflosigkeit anderer Menschen zu laben und sich selbst stark und allmächtig zu fühlen. Der junge Schotte glaubte längst nicht mehr an ein Motiv wie etwa einen Dreifachmord aus Rachsucht, Eifersucht oder ähnlichen Dingen. Ein Schauer rieselte fröstelnd über den Rücken des Schotten, als er die unaussprechliche Lösung vor seinem inneren Auge wiedergespiegelt sah. Er saß nun ebenso apathisch auf dem Bett wie der schottische Butler. Thomas sah bereits weitere tote Gäste vor seinem inneren Auge und selbst er würde diesem Schicksal kaum entrinnen können. Der Mörder schien nur noch das Ziel zu haben jeden einzelnen der Schulgruppe auszuschalten und niemanden zu verschonen.

    Thomas spürte wie seine Hände zitterten und seine Augen huschten nervös hin und her, wobei er seine äußere Umgebung kaum noch wahrnahm. Stattdessen spukten ihm die Bilder erstochener, zerfetzter Menschen durch den Kopf, das Bild einer düsteren, verregneten Insel, auf der ein unheilvolles, gotisches, grausam majestätisches Schloss stand, umrahmt von einer kargen und feindlichen Landschaft und einem mahnenden Friedhof.

    Ein lautes Donnern riss den Schotten urplötzlich aus seiner Lethargie und ließ ihn aufschrecken. Das Unwetter war wieder stärker geworden. Erbarmungslos prasselte der Regen gegen die Zimmerfenster. Ein Windhauch blies wie von Geisterhand eine flackernde Kerze aus, sodass Thomas beinahe völlig im Dunkeln saß. Lediglich eine Art Petroleumlampe glühte noch auf einem Nachttisch vor sich hin. Der Strom schien im kompletten Schloss ausgefallen zu sein und der Schotte nahm sich vor die Sicherungen zu untersuchen, obwohl er davon ausging, dass dieser Stromausfall nicht unbedingt manipuliert worden war, sondern dass das Unwetter daran Schuld trug. Einen Generator, der nun zerstört war, schien es nur für das Geheimzimmer gegeben zu haben. Thomas fluchte grimmig. Selbst das Wetter und alle äußeren Umstände spielten dem Mörder in die Hände.

    Plötzlich berührte Thomas etwas am Arm. Blitzschnell fuhr er herum, hob seinen Arm und erstarrte. Erleichtert atmete er auf, als er sah, dass es lediglich der Butler war, der ihn mit eisernem Griff umklammert hielt. Er schien aus seinem tranceähnlichen Zustand endlich erwacht zu sein. Dennoch stand der Mann noch unter Schock und stammelte verängstigt vor sich hin, seine Augen blitzen so unheimlich auf, dass Thomas es selbst in beinahe absoluter Dunkelheit erkennen konnte. Er bekam eine Gänsehaut und warf einen Blick zu seinem unbeweglichen Kollegen, der in einer dunklen Ecke des Raumes stand und wie ein Mahnmal wirkte. Sein Gesicht war in der Schwärze des Raumes nicht mehr zu erkennen, nur noch schemenhafte Umrisse waren von ihm zu erahnen.

    „Bitte, ich habe nichts getan. Es ist die Wahrheit. Diese verdammten Polizisten müssen die Sachen gefunden und weggeräumt haben. Einem von ihnen habe ich mein Geheimnis gestanden. Warum hat er nichts gesagt? Warum hat er nicht erwähnt, dass er die Sachen irgendwohin entwendet hat? Warum tut ihr mir das alles an? Ich töte nicht, ich bringe niemanden um. Bitte, lasst mir mein Leben. Grundgütiger Herr, schütze mich vor der blinden Rachsucht der Menschen, sonst werde ich sterben, noch heute. Hilf mir!“, murmelte der Butler apathisch vor sich hin und schien durch Thomas hindurchzusehen. Seine Stimme war immer lauter geworden, seine Hand nahm den Unterarm des schottischen Polizisten in eine eiserne Umklammerung, bis es diesem wehtat und er versuchte sich aus dem Griff hinauszuwinden. Es gelang ihm nicht, der Griff war eisern und nicht zu durchbrechen.

    Dann plötzlich war alles so abrupt vorbei, wie es angefangen hatte. Der Butler löste mit feuchter und zitternder Hand seinen Griff, schrie schrill auf und sank urplötzlich schweißgebadet zurück auf das Bett. Er verstummte abrupt, sein Brustkorb hob sich hektisch auf und ab, die Augenlider flatterten, aber waren dennoch geschlossen.

    Thomas rieb sich seinen Unterarm und dachte über die Worte des Butlers nach. Traf ihn eine Teilschuld, weil er dem Butler nicht gesagt hatte, dass er die Drogenbeute verlegt hatte? Der schottische Polizist warf einen mitleidigen Blick auf die verarzteten Wunden des Butlers. Hätte er all dies verhindern können?

    In diesem Moment trat Mamadou aus dem Schatten des Zimmers und auf Thomas zu. Er schien die düsteren Gedanken seines Kollegen erraten zu haben und über eine exzellente Menschenkenntnis zu verfügen. Beruhigend legte er seinen Arm auf die Schulter des Schotten und blickte diesen tiefgründig an. Verstohlen wischte sich Thomas eine Träne aus den Augenwinkeln und atmete tief durch.

    „Uns trifft keine Schuld. Es ist unabänderlich, aber es konnte auch niemand solch eine Überreaktion voraussehen. Morgen früh sollten wir den Zweiflern das Versteck im Wald zeigen, damit wir den Butler wieder schützen können und sie uns glauben. Vielleicht können wir diesen verbitterten Koreaner nicht von seiner Verschwörungstheorie abbringen, aber zumindest die anderen Gäste würden sehen, dass der Butler und wir dann die Wahrheit gesagt haben und werden den Täter woanders suchen müssen.“, schlug Mamadou ruhig vor und bekam von Thomas ein nachdenkliches Nicken geschenkt.

    Mamadou lächelte sanftmütig, obwohl auch ihn Sorgen und Ängste plagten. Er blickte nachdenklich auf den nun völlig still liegenden Butler und seinen Kollegen, der aus dem Fenster hinaus in die unergründliche Schwärze der Nacht starrte.

    „Das Bett ist groß genug für dich und den Butler. Legt euch schlafen, ich werde vor das Zimmer gehen und noch Wache halten. Sei beruhigt, solange ich in der Nähe bin und wir uns vertrauen, wird niemand mehr versuchen den Butler so übel zuzurichten oder dich mit hinterhältigen Gedanken im Verlauf der Nacht aufsuchen.“, führte Mamadou weiter aus und sah wie sich sein Kollege wortlos umdrehte und tatsächlich auf den äußersten Rand des Bettes zusammenkauerte und den Kopf auf eines der Kissen legte. Den größten Platz nahm weiterhin der nun leicht schnarchende Butler ein.

    Zufrieden nickend schritt Mamadou rückwärts aus dem Raum, öffnete behutsam die Zimmertür, blickte in einen grauen und leeren Gang, verschloss das Zimmer und lehnte sich tief durchatmend gegen den Türrahmen. Außer ihm gab es nach diesen Ereignissen keinen anderen Wachposten mehr und das konnte theoretisch gefährlich sein, da Mamadou nur einen gewissen Teil des Traktes überwachen konnte. Er wollte Magdalena Osario und Blörn Ansgar Lykström, die mit ihm eigentlich für die Wachperiode verantwortlich waren, allerdings nicht aufsuchen oder wecken. Die beiden mussten sich erst einmal von den Streitereien erholen. Immerhin hatte der Schwede im Gegensatz zu Gwang-jo Reue gezeigt und doch menschlich reagiert. Lediglich der Korenaer und Fatmir stellten in ihrem Hass auf den Butler ein großes und kaum auflösbares Risiko dar, während Mamadou aus der Rolle von Elaine Maria da Silva noch nicht schlau wurde. Die Frau war für ihn ein abstoßendes Mysterium.

    Nachdenklich massierte Mamadou sich die Wangenknochen und ließ sich zu Boden sinken. Er versuchte die Augen wach zu halten, doch trotz seines inneren Alarms und Pflichtbewusstseins schaffte er es nicht die Gesetze der Natur zu durchbrechen und er musste der Hektik und dem Schlafmangel der letzten Tage nun doch Tribut zollen, sodass ihm die Augen irgendwann zufielen, der Kopf sich auf die Brust neigte und der Ghanaer in einen unruhigen Schlaf verfiel.

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    Kapitel 50: Freitag, 10 Uhr 03, Eingangshalle


    Irgendwann war Mamadou wieder aufgewacht, denn ein Geräusch hatte ihn geweckt. Zunächst war er völlig verwirrt, wusste nicht einmal mehr, wo er sich befand, bis seine Erinnerungen an die letzte Nacht zurückkamen. Erschrocken zuckte er vom Flurboden in die Höhe, wandte sich zur Seite und wäre um ein Haar mit einer böse lachenden Person zusammengestoßen, die ihm ihre eiserne Hand provozierend auf die Schulter legte.

    „Das nennt man also Nachtschicht. Die Polizei – dein Freund und Helfer. Ein irrer Butler bringt jeden einzelnen Gast um und die Polizei legt sich auch noch erholsam schlafen.“, knurrte Gwang-jo sein Gegenüber an und lächelte grausam.

    Mamadou hatte erst jetzt seinen ersten Schock überwunden und löste sich mit einer raschen Drehung aus der Umklammerung des erbosten Koreaners. Er wollte sich verteidigen, doch er musste sich eingestehen, dass Gwang-jo mit seinen Anschuldigungen leider vollkommen richtig gelegen hatte. Mamadou wurde rot, blickte betreten zu Boden und seine Wut auf den Koreaner stieg noch, als er merkte, dass er ihm keine Argumente entgegenbringen konnte. Er fühlte sich schuldig, schwach und gleichzeitig durchfuhr ihn ein Gedanke, der ihn in Schweiß ausbrechen ließ. Hatte der Mörder während seiner Unaufmerksamkeit erneut zugeschlagen? Hatte der wahnsinnige Killer eine weitere Falle vorbereitet? Die Unwissenheit und die Schuldgefühle trieben Mamadou in den Wahnsinn und er wandte sich abrupt ab.

    „Ich würde vorschlagen, dass du uns die Drogen zeigst, von denen du gesprochen hast. Vielleicht können wir euch ja wenigstens in dem Punkt Vertrauen schenken. Wir warten in der Eingangshalle, Bulle.“, fuhr der Koreaner Mamadou an und schritt fies lachend weiter den Flur entlang.

    Mamadou ballte seine Hände zu Fäusten und starrte Gwang-jo böse nach. Er atmete tief durch und versuchte seine Beherrschung wieder zu gewinnen. Eigentlich hätte er sich immer als ruhigen, verständnisvollen und ausgeglichenen Menschen betrachtet, doch diese Ausnahmesituation zehrte an seinen Nerven und seiner Selbstbeherrschung. Nervös wandte er sich um und klopfte an die Zimmertür seines Kollegen und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

    Thomas Jason Smith trat gerade mit nacktem Oberkörper aus dem Badezimmer und sah seinen Kollegen überrascht an. Der Butler saß mittlerweile auf einem Holzschemel nahe des Fensters und blickte still nach draußen, wo der Sturm das Dickicht hinter dem Schloss von einer Seite zur anderen riss und die Wellen wie monströse Klauen aggressiv gegen die steinige Küste brandeten, als ob sie das uralte Gestein mit ihrer Kraft entzweireißen und die Insel in den Fluten verschlingen lassen könnten.

    „Mamadou, selbst die Wasserleitungen sind defekt. Es gibt keinerlei warmes Wasser mehr. Ich habe eben unter der Dusche fast einen Herzinfarkt bekommen.“, beklagte sich der schottische Polizist und zog sich eilig ein langärmeliges Hemd über.

    „Gwang-jo erwartet uns in der Eingangshalle.“, meinte Mamadou nur emotionslos.

    Thomas fuhr herum und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe, während er sich gedankenverloren seine russische Armbanduhr anzog und dann nach einem Kamm griff.

    „Ich weiß nicht, ob wir auf die Forderungen dieses Mannes eingehen sollten. Wir könnten die Drogen auch einfach in ihrem Versteck lassen.“, schlug Thomas vor.

    „Theoretisch schon. Aber wenn wir ihm keinen Gegenbeweis bringen und zeigen, dass der Butler die Wahrheit gesagt hat, dann wird er uns noch mehr misstrauen, andere Gäste gegen uns aufwiegeln und es wird zu einer unvermeidlichen Eskalation kommen.“, argumentierte der Afrikaner und trat auf seinen Kollegen zu.

    Thomas hielt inne und blickte Mamadou bedeutungsschwer an.

    „Es könnte beim nächsten Mal eine tödliche Eskalation sein.“, fügte Mamadou hinzu, der die Gedanken seines Kollegen erraten zu haben schien.   

    Plötzlich meldete sich erstmals der Butler zu Wort, der bislang lediglich völlig teilnahmslos am Fenster gesessen hatte und beinahe dem Wahnsinn verfallen zu sein schien. In jedem Fall hatten ihn die Ereignisse des letzten Tages stark mitgenommen und einen vielleicht lebenslangen Schock verursacht.

    „Ich werde mitkommen. Ich will meine Unschuld beweisen.“, sagte er sehr energisch.

    „Ich halte das für keine gute Idee.“, tat Thomas seine Zweifel kund.

    „Ich habe nichts zu verlieren. Ich will zeigen, dass ich es ehrlich meine. Ich werde die Drogen nehmen und in die Fluten werfen. Sie sind mir völlig egal geworden.“, tat der Butler kund, ohne seine Gesprächspartner dabei anzusehen. Sein Blick war immer noch auf das Fenster und in eine uneinsehbare Ferne gerichtet.

    Thomas überlegte eine Weile lang. Eigentlich hatte er die Drogen als Beweismaterial zurückstellen wollen. Auf der anderen Seite konnte bei den aktuellen Ereignissen niemand mehr an eine solche Lappalie denken. Der Butler hatte viel durchgemacht und ein Gefängnisaufenthalt würde ihm womöglich sogar den Rest geben. Mit den gestrigen Ereignissen war der Butler genügend bestraft und Thomas glaubte daran, dass eine solche Geste von Seiten des Butlers wieder für mehr Ruhe sorgen könnte und auch die Argumente der ärgsten Kritiker entschärfen würde.

    Langsam nickte er, denn er hatte seine Entscheidung getroffen.

    „So soll es sein. Ich halte das für eine gute Idee.“, gab er zurück und blickte auch seinen ghanaischen Kollegen an, der ihm mit einem kleinen Lächeln zunickte und ebenso wie er auf eine Wendung zum Guten hoffte.

    Für einen kurzen Augenblick waren die Sorgen und Ängste vergessen und Thomas war immer überzeugter von dem Plan. Optimistisch verließ er sein Zimmer und wurde von Mamadou und dem stillen und in sich versunkenen Butler in die kalte und düstere Eingangshalle begleitet, wo bereits einige Anwesende warteten. In vorderster Front zur Treppe standen Gwang-jo und Fatmir, etwas abseits von ihnen Magdalena Osario, die einen hohen, grauen Wollkragenpullover trug und sich traurig an ihren Geliebten schmiegte, der ein wenig bedrückt wirkte und sich merklich zurückhielt nach den gestrigen Ereignissen. Vermutlich hatte er Gewissensbisse und blickte auch zu Boden, als der Butler an ihm vorbeischritt und einen undeutbaren Blick auf den Schweden warf.

    Wortlos trat Thomas zum Eingangsportal, wandte sich noch einmal der betreten schweigenden Menschentraube zu und riss kraftvoll die Tür auf, die ihm aus seinem Griff gerissen wurde, und brutal gegen die Wand der Eingangshalle schlug, wo sie noch leicht nachbebte. Ein heftiger Wind schlug ihnen entgegen und durchnässte Thomas bereits bei seinen ersten Schritten bis auf die Haut. Er atmete tief durch und stürzte sich als Erster geduckt in das infernalische Unwetter, das die Insel zu verschlingen drohte.

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    Kapitel 51: Freitag, 10 Uhr 17, Dickicht


    Mühsam kämpfte sich Thomas durch das mittlerweile völlig verschlammte Dickicht. Der Weg hatte sich verändert, seitdem er und Mamadou ihn das letzte Mal beschritten hatten. Der Afrikaner hatte seine Verletzung durch die Bärenfalle noch nicht vollständig auskuriert und humpelte noch ein wenig beim Gehen. Dies machte sich allerdings wenig bemerkbar, da die gesamte Gruppe nur sehr langsam vorankam und zudem biss er die Zähne zusammen und wollte unter keinen Umständen irgendeine Schwäche offenbaren.

    Fatmir hatte indes durchs eine Schussverletzung ähnliche Probleme, doch seine Neugierde und sein Hass auf den Butler waren stärker gewesen als seine Schmerzen.

    Viele Pflanzen und kleinere Bäume waren wie Strohhalme umgenickt, der Trampelpfad war oftmals von umgestürzten Büschen oder halb entwurzelten Sträuchern versperrt. Auf dem Boden hatten sich viele Pfützen gebildet und Thomas war einige Male ausgerutscht, hatte jedoch immer irgendwie sein Gleichgewicht halten können. Durch die widrigen Umstände kam die Gruppe nur mühsam voran, was sich auch merklich in der Stimmung einiger Leute widerspiegelte.

    „Wann sind wir endlich da?“, jammerte Fatmir, der direkt hinter Gwang-jo herschritt und der gerade erst mitten in eine Pfütze gefallen war, sodass seine Kleidung fast bis zur Unkenntlichkeit verschmutzt worden waren.

    „Hoffentlich führt ihr uns nicht in die Irre. Ich habe ein mieses Gefühl bei der Sache. Die wollen uns bestimmt verarschen.“, fluchte Gwang-jo, der direkt hinter Mamadou entlang schritt und plötzlich das Gleichgewicht verlor.

    Fluchend wedelte der Koreaner mit den Armen, doch er konnte seinen Stand nicht mehr halten, taumelte unorthodox nach hinten und stieß dabei mit Fatmir zusammen, der auf dem nassen Untergrund ausrutschte und mit einem überraschten Fluch mitten auf den Weg fiel, während Gwang-jo gegen einen Baumstumpf prallte, davon abrutschte und in ein paar hochgewachsene Brennnesseln rutschte.

    Mühsam rappelten sich die beiden auf, während Thomas unbeirrt weiter voranschritt und Mamadou sich mit einem süffisanten Grinsen kurz umwandte, ohne den beiden allerdings in irgendeiner Weise zu helfen. Erst Björn Ansgar Lykström, der das Ende der Gruppe bildete, hatte ein Erbarmen mit den beiden Skeptikern und half Fatmir auf die Beine, während Gwang-jo mürrisch jegliche Hilfe ablehnte, sich aufraffte und fluchend die schmerzenden Unterarme massierte, auf denen sich schon die ersten Brandwunden gebildet hatten. Er wartete kurz, bildete dann den letzten Teil der Gruppe und hing düsteren Gedanken nach.

    Thomas Jason Smith war inzwischen endlich an der Stelle angekommen, wo er am vergangenen Tag das Kokain mit seinem provisorischen Kollegen versteckt hatte. Auch Mamadou selbst war jetzt dazu gestoßen und sogar der Rest der Gruppe hatte wieder ein wenig aufgeholt. So standen sie jetzt völlig durchnässt, übellaunig und erschöpft auf relativ begrenztem Raum und warteten auf das weitere Vorgehen.

    „Hier in diesem ausgehöhlten Baumstamm haben wir die Drogen versteckt.“, teilte Thomas der Gruppe mit und wischte sich die nassen Haarstränen aus der Stirn.

    „Seid ihr sicher, dass es der richtige Platz ist? Ich meine, es gibt hier ja viele umgekippte Baumstämme.“, warf Björn Ansgar Lykström fragend ein.

    „Diesen Ort würde ich immer unter tausend anderen Orten wiedererkennen. Ich bin mir meiner Sache absolut sicher.“, zerstreute Thomas die Zweifel der restlichen Gruppe mit Bestimmtheit.

    „Ich kann ihm nur zustimmen.“, warf auch Mamadou jetzt ein.

    „Worauf warten wir denn dann noch, zur Hölle?“, beklagte sich Gwang-jo und drängte sich grob nach vorne, sodass er nun unmittelbar neben dem grimmig wegblickenden Butler stand, dem er einen feindlichen Blick zuwarf.

    Thomas hatte die Zeichen der Zeit verstanden, bückte sich und sah den halb umgestürzten Baum, dessen Wurzeln aus dem Boden ragten, sodass der ausgehöhlte Stamm ein ideales Versteckt bot. Selbst die Steine, die Thomas und Mamadou vor das Versteck gelegt hatten, lagen größtenteils unberührt davor, lediglich einige leichtere Exemplare waren von der Sturmflut weggespült worden. Thomas rollte die Steine mühelos zur Seite, blickte kurz in das undurchdringliche Dunkel des ausgehöhlten Stammes und griff nun mit beiden Händen in der in die Öffnung.

    Er schien zunächst nicht fündig zu werden, legte sich flach auf den Boden, um tiefer greifen zu können. Entsetzt tastete er von einer Seite zur anderen, klopfte gegen die innere Rinde, näherte seinem Kopf der Öffnung und verfiel in Hektik. Entsetzt stellte er fest, dass die Päckchen allesamt verloren waren. Schweiß brach auf seiner Stirn aus und er wandte sich mit klopfendem Herzen zu seinen Begleitern um, die ungeduldig hinter ihm verharrten und sofort merkten, dass etwas nicht stimmte. Schwer atmend stand Thomas auf, ging um den Baumstumpf herum und suchte nach einer zweiten Öffnung, doch er wurde nicht fündig.

     Fluchend eilte er noch einmal um den umgestürzten Baum und wurde nun endlich von Mamadou unterstützt, der sich flach auf den Boden gelegt hatte und nun ebenfalls das Versteck inspizierte. Er war noch einen Tick größer als Thomas, hatte auch längere Arme und steckte sogar seinen Kopf in die Öffnung, doch auch er wurde nicht fündig, rappelte sich wieder auf und schüttelte entsetzt den Kopf.

    Thomas waren inzwischen die Nerven durchgegangen. Er trat wütend gegen die morsche Rinde des Baumstamms, die diesem Gewaltakt nicht mehr Stand hielt. Das Holz splitterte morsch auseinander und schon bald nahm Thomas die Hände zur Hilfe, um die Öffnung zu vergrößern. Erschrocken zuckte er zurück, als er eine Gruppe glitschiger Maden sah, die  verschreckt aus dem Holz kroch. Mit rasselndem Atem trat Thomas erneut gegen das Holz und hatte nun endlich eine größere Öffnung, in die er erwartungsvoll hineinstarrte.

    Ernüchtert taumelte er zurück und stützte seinen Unterarm an einem verkrüppelten Baum ab. Nervös legte er seinen Kopf gegen den Arm und atmete tief durch. Schweiß und Regenwasser rannen ihm über das Gesicht.  Auch durch die Öffnung war kein Blick auf die Päckchen zu sehen gewesen. Die Beute war also nicht etwa tiefer in den Stamm hineingerutscht.

    Mamadou wollte indes nicht aufgeben, packte den Stamm mit seiner vollen Kraft und drehte ihn leicht zur Seite, suchte dann die nähere Umgebung ab, bis das Dickicht ihm den Weg versperrte. Doch so sehr er sich auch bemühte, seine Versuche blieben allesamt erfolglos. Der sonst so beherrschte Afrikaner geriet völlig aus der Fassung. 

    Thomas begegnete dem Blick des Butlers, der ihn düster anstarrte, wobei auch etwas Ängstliches in seinem Blick lag. Thomas fühlte sich plötzlich schuldiger denn je für das Schicksal des ehemaligen Drogendealers.

    Alle Anwesenden wirkten überrascht und auch niedergeschlagen, lediglich Gwang-jo stand feixend abseits der Gruppe und ließ seinem Spott freien Lauf. Fast provokant lässig und langsam steckte er sich eine Zigarette an und warf das noch brennende Streichholz grinsend ins Dickicht. Genüsslich sog er den schlierenförmigen Rauch in seine Lungen ein.

    „Ein tolles Versteck und eine tolle schauspielerische Leistung. Eure Enttäuschung und Überraschung sieht schon beinahe echt aus. Aber ihr könnt mich nicht täuschen! Ihr habt gelogen und euer Butler auch. Vielleicht steckt ihr zu dritt unter einer Decke. Er macht die Drecksarbeit und ihr schützt ihn und besorgt ihm die nötigen Informationen über die einzelnen Opfer. Ihr seid allesamt verrückt! Aber mich kriegt ihr nicht!“, schrie der Koreaner voller Wut, blickte sich grimmig um und sah, dass auch die anderen Begleiter der Gruppe ungeduldig geworden waren.

    „Was soll das bedeuten, was habt ihr mit uns vor?“, fragte Fatmir zitternd und wich immer weiter von den Polizisten und dem Butler zurück, als ob er eine plötzliche Attacke der vermeintlichen Mörder erwarten würde.

    Er hielt es schließlich nicht mehr länger aus, fuhr herum, rutschte mit seinem linken Bein weg, fing sich gerade noch und humpelte über den schmalen Trampelpfad hinweg davon. Er war zwar von seiner Verletzung geplagt, doch seine Angst vor einem möglichen Hinterhalt verlieh ihm fast schon unnatürliche Kräfte und er huschte davon, als ob er von tausend Teufeln gejagt werden würde.

    „Ich lasse mir nichts vormachen. Ich habe auch keine Angst vor euch“, herrschte der Koreaner die beiden Polizisten und den Butler an, als ob er sich selbst Mut zureden müsste. In seinem Blick flackerte eine wahnsinnige Aggressivität, der er plötzlich freien Lauf ließ.

    Völlig unvermittelt warf er seine Zigarette in die Büsche und raste ohne jegliche Vorwarnung auf den Butler zu, sprang diesen an und stieß ihn grob zu Boden. Mit beiden Händen packte er den Hals des überraschten Opfers und drückte mit finsterem Blick unbarmherzig zu. Gleichzeitig verpasste der Koreaner seinem Gegner einen brutalen Kopfstoß gegen die Nase und das Röcheln des Butlers vermischte sich mit einem gequälten Schmerzensschrei.

    Thomas reagierte einen Augenblick schneller als sein Kollege, stürzte auf den Koreaner zu, der den Angriff sah und sich mit einer Seitwärtsrolle blitzschnell aus der Gefahrenzone beförderte. Thomas prallte im Fallen noch gegen den bemitleidenswerten Butler, rappelte sich aber sofort auf und stand seinem Gegenspieler plötzlich wieder gegenüber.

    Gwang-jo reagierte blitzschnell, nahm lediglich zwei schritte Anlauf, drückte sich vom matschigen Boden ab, rutschte noch ab und flog mit dem rechten, gespreizten Fuß voraus, auf den schottischen Polizisten zu. Dieser hatte durch das Abrutschen des Standbeines des Koreaners einige Sekundenbruchteile Zeit gehabt zu reagieren und dieser Umstand rettete ihn vor einer gröberen Verletzung. Er konnte sich im letzten Moment zur Seite wenden, sodass ihn der brutale Tritt nur an der Schulter traf, aber dennoch gegen den Baumstumpf schleuderte, auf den er prallte, um auf der anderen Seite ins nasse Gras zu fallen.

    Der Koreaner hatte beim Landen nach dem Sprung sein Gleichgewicht verloren und war ausgerechnet auf den angeschlagenen Butler geprallt, aus dessen Nasenlöchern ein roter Blutstrom rann. Nervös rappelte er sich auf und blickte rasch hin und her, um sich in seiner panischen Wut den nächsten Gegner auszugucken.

    Er wollte bereits wieder auf den benommenen schottischen Polizisten zustürmen, als er plötzlich etwas Kaltes in seinem Nacken spürte und ein metallisches Klicken vernahm.

               Der Koreaner erstarrte.

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    Kapitel 52: Freitag, 10 Uhr 35, Dickicht


    Gwang-jo wagte nicht sich zu rühren und starrte schweißüberströmt und von furchtbarer Angst gepeinigt auf die vor ihm stehende Gruppe. Thomas lag immer noch benommen neben dem Baumstumpf, der Butler wälzte sich röchelnd auf dem glitschigen Boden, während Lykström sich schützend vor seine Geliebte gestellt hatte und mit dieser langsam zurückwich.

    Gwang-jo spürte deutlich die Mündung der Waffe in seinem Nacken und hatte durch das Klicken erkannt, dass diese bereits entsichert worden war und sein Leben somit innerhalb von Sekundenbruchteilen auslöschen konnte. Der Koreaner reagiert nicht panisch, denn er hatte erkannt, dass er die Kontrolle verloren hatte. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg aus der Bredouille, doch die Angst, dass er lediglich einen einzigen Versuch mit vergleichsweise geringer Erfolgsaussicht hatte, lähmte seinen unbändigen Tatendrang.

    Der Koreaner versuchte ruhiger zu atmen und das Szenario zu analysieren. Der Butler, Thomas, Björn Ansgar Lykström und Magdalena Osario standen vor ihm, Fatmir Skola war bereits vorher in eine andere Richtung geflohen. Erst jetzt leuchtete dem Koreaner ein, wer ihm die Waffe in den Nacken drückte. Es konnte sich nur noch um den sonst so entspannten Mamadou handeln.

    Genau dieser meldete sich mit entsetzlich kalter Stimme zu Wort, näherte seinen Mund ganz nah an das Ohr des geschockten Koreaners.

    „Wenn du das noch einmal machst und jegliche Art von Gewalt in meiner Anwesenheit anwendest, dann mache ich dich selbst zum Krüppel.“, sprach der Ghanaer mit einer unbarmherzigen Härte, die er sich selbst nicht zugetraut hatte.

    Die extreme Situation nagte an den Nerven aller Beteiligter, die grausame Spannung war beinahe greifbar und das Unheil lag förmlich in der Luft. Der Regen war wieder stärker geworden und prasselte erbarmungslos auf die relativ lichte Stelle im ansonsten undurchdringlichen Dickicht.

    Alle warteten auf eine Antwort des Koreaners, doch der Zufall machte ihnen erneut einen Strich durch die Rechnung.

    Auf einmal war ein unheimliches Heulen zu hören, das nicht mehr weit entfernt sein konnte. Thomas Jason Smith, der sich am Baumstamm hochgestemmt und verstört aufgerichtet hatte, rann ein eisiger Schauer über den Rücken. Auf seinen Unterarmen bildete sich eine Gänsehaut. Auch Björn Ansgar Lykström war nervös geworden, hatte seine Geliebte losgelassen und warf panische Blicke in die Runde.

    Da ertönte das Heulen noch einmal, doch es war nicht das einzige Geräusch. Ein grausamer Schmerzenschrei vermischte sich mit dem Heulen, der den Zuhörern durch Mark und Bein ging. Das Schreien wiederholte sich, nahm noch an Lautstärke an und verwandelte sich nach Sekunden des Schreckens in ein erbärmliches Wimmern.

    Thomas hatte sofort erkannt, wer dort so laut geklagt hatte. Es konnte sich nur um Fatmir Skola handeln!

    Auch Mamadou hatte dies nemerkt und wollte aktiv werden. Er nahm seine Waffe herunter und steckte sie in seine Hosentasche, wobei er dem Koreaner mit dem anderen Arm einen groben Stoß in den Rücken gab. Gwang-jo stolperte vorwärts, trat auf die Beine des benommenen Butlers, rutschte aus und fiel der Länge nach hin.

    Mamadou nähert sich dem blutenden Butler, half diesem auf, legte dessen Arm um seine Schulter und schleifte ihn in Richtung des Trampelpfades, den auch Lykström und seine Geliebte soeben betreten hatten. Dabei hatte der Afrikaner auf Grund der Wunde von der Bärenfalle selbst immer größere Probleme und kam nur langsam und unter Schmerzen voran. Er kämpfte jedoch wie ein Löwe und kein Ton der Klage kam über seine spröden, breiten Lippen.

    Die restlichen Anwesenden musten auch nicht mehr dazu aufgefordert werden die Flucht zu ergreifen. Gehetzt stürzten sie auf den engen Trampelpfad und selbst der vorlaute Koreaner bekam es furchtbar mit der Angst zu tun und dachte nur noch an Flucht.

    Den Abschluss bildete Thomas, der sich noch einige Male ängstlich und hektisch umwandte und dabei das dritte Heulen des Wolfes vernahm, das so laut klang, als ob die Bestie schon neben ihnen stehen würde.

    Dann wandte er sich von dem schicksalhaften Ort ab und hetzte der restlichen Gruppe hinterher, bis er schließlich den gebückt gehenden Mamadou erreicht hatte, der mit seinen letzten Kräften den angeschlagenen Butler stützte.

    Plötzlich stießen die drei auf den Rest der Gruppe, der mitten auf dem Weg stehen geblieben war und nicht weiterschritt. Thomas drängelte sich grob an dem ehrfürchtig erstarrten Gwang-jo vorbei und bekam jetzt selbst einen uneingeschränkten Blick auf das Unbeschreibliche geboten, während ganz in seiner Nähe das vierte Heulen ertönte, das alle Anwesenden erneut ängstlich aufschrecken ließ.

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